«Ein sehr seltsames Paar»
Frau Yao zu ihrem Mann: «Bei dem jungen Paar im Haus gegenüber... da stimmt etwas nicht.»
Herr Mu, Frau Yaos Ehemann brummelt: «Was soll bei denen schon nicht stimmen? Sie sind nett. Sie arbeiten. Sie wohnen hier. Sie belästigen uns nicht.»
Frau Yao: «Es stimmt schon … sie arbeiten. Sie wohnen hier. Sie belästigen niemanden. Und doch... Jeden Tag sehe ich sie durchs Fenster. Das Paar geht nie gemeinsam aus und sie kommen auch nie gemeinsam nach Hause. Sie leben eher wie zwei Mitglieder einer Wohngemeinschaft. Er trägt nie ihre Handtasche. Er schiebt nie ihren Roller. Er legt ihr nie seinen Arm auf die Schulter... Den Valentinstag haben sie auch nicht gefeiert...»
«Du bist zu argwöhnisch und viel zu neugierig über andere Leute,» sagt Herr Mu. «Sie sind nicht unsere Kinder. Sie sind nicht unsere Bekannte. Wir kennen nicht mal ihre Namen...» Auf das Thema «Valentinstag» geht er bewusst nicht ein, denn Herr Mu und Frau Yao gehören einer Generation an, die solche neuartigen Anlässe erst Jahrzehnte nach ihrer Eheschließung kennenlernten. Herr Mu findet ohnehin, dass ihn seine Frau zu viel Unterhalt kostet. Neumodische ausländische Feiern braucht er wahrlich nicht.
Darauf Frau Yao: «Und genau deswegen weiss ich, dass bei ihnen etwas nicht stimmt. Ihre Familien kommen auch nie zu Besuch. Freunde auch nicht. Kinder haben sie nicht. Sie leben schon seit fünf Jahren da und immer sehe ich nur den Mann zum Haus heraustreten, dann die Frau und spät am Abend kommen sie beide zurück, meistens zu sehr unterschiedlichen Zeiten. Ausserdem ist mir aufgefallen, dass der Mann drei, manchmal vier Freitagnächte im Monat wegbleibt und seine Frau alleine zu Hause ist. Sie hingegen kommt fast jeden Dienstag Abend nicht nach Hause. Das ist wirklich eigenartig...»
Bei dem Paar, von dem gerade die Rede war, handelt es sich um Nie Zemin und Lu Sisi. Sie sind beide dreißig Jahre alt und miteinander verheiratet. Herr Nie ist Grafiker und arbeitet für eine Werbeagentur. Frau Lu ist Kindergärtnerin. Sie leben sehr zurückgezogen in einer unauffälligen Wohnung, die einem Onkel von Herrn Nie gehört, der sehr wenig Geld für die Miete verlangt, weil Herr Nie ja zur Familie gehört.
In der Tat führen Herr Nie und Frau Lu ein merkwürdiges Eheleben. Sie sind nur zum Schein miteinander verehelicht. Nicht mal ihre Familien wissen Bescheid. Denn genau ihretwegen haben sie sich zusammengeschlossen, obwohl sie keine natürliche Neigung zu einer Ehe miteinander haben. Sie haben geheiratet, um ihren Familien den Gefallen zu tun. Liebe? Ja, sie lieben, aber nicht einander. Ihre Ehe ist eine Zweckehe, wie so viele es sind.
Dabei sind Zemin und Sisi seit der Elementarschulzeit miteinander befreundet. Sie gingen gemeinsam in dieselbe Klasse, erreichten etwa die gleichen Abschlussnoten bevor sie für ihre höhere Ausbildung zu zwei unterschiedlichen Universitäten wechselten. Für ihre Klassenkameraden und -kameradinnen waren sie Romeo und Juliet in China, geeint durch nichts anderes als die erstaunliche Tatsache, dass Sisi und Zemin stets unter den zehn Besten in den Prüfungen waren, ein Mädchen und ein Junge.
Die erste Trennung, die länger als zwei Monate dauern sollte, kam, als sie an verschiedene Hochschulen gingen, um sich für ihre Berufe vorzubereiten. Zemin besuchte eine Hochschule in Guangzhou, an der er über Kunst lernte und nach vier Jahren einen Grafikergrad erwarb. Sisi durchlief eine vierjährige Ausbildung zur Kindergärtnerin in Peking. Zweitausenddreihundert Landkilometer trennten sie da, und beide waren mit ihrem Los rundum glücklich. Es gab ja WeChat und ausserdem hatten beide auch noch andere Bekanntschaften zu pflegen.
Die Eltern beider Jugendlicher waren sehr stolz auf sie, als sie ihre Ausbildungen mit Erfolg abschlossen. Sie veranstalteten eine gemeinsame Feier, an der eine große Schar von Verwandten und ein paar ehemalige Schulkollegen von der Mittelschule eingeladen waren. Mehr als hundert Personen kamen zusammen. Die Eltern beider Kinder kannten sich beinahe ebenso lang wie die Kinder. Sie hatten stets Fotos ausgetauscht: Zemin zu Hause beim Majiang-Spiel, Sisi in wolkig anmutenden flauschigen Bademänteln an einer Modeveranstaltung, an der junge Mädchen Kleider zur Schau trugen. Oder ein Bild von Zemin wie er auf dem Computerschirm Kunstwerke entwarf, und ein Bild, das Sisi mit dem zweijährigen Kind einer ihrer Tanten im Arm zeigte. Für die Eltern und nächsten Angehörigen war es eine unausgesprochene Wahrscheinlichkeit, dass Zemin und Sisi auch als Erwachsene beisammen bleiben würden. Also sich heiraten würden.
Dabei war Zemin nie wohl bei dem Gedanken, einmal Ehemann und Versorger einer Familie zu werden. Warum sich auch Verantwortung für Andere aufbürden, wenn man selber noch nicht aus einer Abhängigkeit von seinen Eltern herausgewachsen ist? Alles in seinem Leben war von seinen Eltern entschieden worden: wo er zur Schule ging, mit wem er befreundet sein durfte. Dabei schnürten seine Eltern seinen Freiheitsdrang keineswegs ein. Im Gegenteil: sie liessen ihn in seiner Freizeit gewähren so lange er keinen Mist baute. Mit achtzehn Jahren begann er zu rauchen. Sein Vater war zwar Nichtraucher, aber er sagte nichts, als sein Sohn im letzten Schulsemester anfing, die Küche mit Zigarettenqualm zu verstinken. In der Schule war Rauchen nicht gestattet, aber viele der Jungs rauchten in ihrer Freizeit.
Die Nutzergebühren für das Mobiltelefon stiegen auch in ungewohnte Höhen, aber weder der Vater noch die Mutter sagten dazu etwas. Kinder sind Kinder und dürfen alles, was nicht ausdrücklich verboten ist. Man nennt sie ja nicht umsonst «junge Kaiser und junge Kaiserinnen». Ihre Eltern unterwerfen sich ihnen oft sklavisch.
In Zemin und Sisis Schule blieben Jungs und Mädchen streng untereinander. Ein Junge, der mit einem Mädchen schäkerte, wurde zum Gespött seiner Klasse. Das ertrug ein heranreifender Junge gar nicht gut. Es kam doch immer darauf an, dass alles im Lot stand. Gesicht wahren. Trotzdem hielt sich das Gerücht, dass Zemin und Sisi heimliche Liebhaber waren. Da sie aber nie händehaltend auf dem Schulhof gesehen wurden, blieb es bei freundschaftlichen Witzen über «Romeo und Julia aus China». Die Gerüchte entzündeten sich vor allem daran, dass Sisi fast immer die besten Klassennoten einheimste, dicht gefolgt von Zemin. Dann folgten meistens mehrere andere Mädchen. Die Jungs der Klasse folgten weit abgeschlagen auf den hinteren Plätzen. Die einsame Nummer Zwei oder Drei, die Zemin im Leistungsvergleich bei Prüfungen erhielt, war im Grunde der einzige Hinweis auf eine Beziehung zwischen Zemin und Sisi und sie war eben falsch.
Darunter litt er einige Zeit. Andererseits war er froh, ein besserer Schüler zu sein als die Jungs seiner Klasse. Denn die machten sich nichts draus, wenn sie in den monatlichen Prüfungen schlecht abschnitten. Im Gegenteil: sie förderten sich gegenseitig beim Abgleiten aus den oberen Rängen. Der Schulleitung war nicht entgangen, dass Mädchen immer deutlich besser lernten als Jungs. Seit einigen Jahren dachten sie immer lauter darüber nach, getrennte Klassen zu führen - solche für Mädchen, und andere für Jungs.
Aber zur Zeit, da Zemin und Sisi jene Schule besuchten, waren die Klassen noch gemischt. In ihrer Klasse gab es siebenunddreissig Mädchen und fünfundzwanzig Knaben. Für chinesische Verhältnisse eine normale Klasse: dass es deutlich mehr Mädchen als Jungs gab, lag wiederum an den Schulleistungen. Die Schule ließ nur Kinder mit guten Noten von anderen Schulen überwechseln. Und schon auf der Vorstufe waren Mädchen deutlich bessere Lernende als Knaben.
Zemin hatte eine ältere Schwester, Yangyang, Sisi hatte keine Geschwister. Keinen Bruder, keine Schwester zu haben war das gesetzliche Schicksal ganzer Generationen von chinesischen Kindern bis zu den achtziger Jahren. Damals gab es die Einkindfamilie. Nur wenn ein Mädchen auf die Welt kam, wurde den Eltern erlaubt, eine zweite Schwangerschaft gestattet. Eltern wollten fast immer vorzugsweise einen Sohn. Sisis Eltern fanden sich leicht damit ab, dass ihnen von der Natur ein Mädchen zugeteilt worden war, aber bei Yangyangs Vater und Mutter bäumte sich der Ehrgeiz auf. Und sie hatten Glück, denn gleich das zweite Kind war Zemin. Dann war Schluss mit Familiennachwuchs. Zemin wurde gehätschelt wie ein angehender Monarch. Der Vater war streng und verlangte gute Schulnoten, aber die Mutter verwöhnte den jungen Sprössling nach Strich und Faden. Auch Yangyang opferte viel zugunsten ihres Bruders. Sie war das ihren Eltern schuldig. Die Aufzucht von Kindern kostet Eltern sehr viel Geld und Zeit. Die nachstossende Generation erfährt das in ihrer Jugend und lernt darüber hinaus, dass sie eines Tages ihren Eltern alles zurückzahlen müssen. Denn wenn die Eltern pensioniert werden, müssen die Söhne für sie sorgen. Die Töchter sind die Ehefrauen anderer Söhne und helfen ihnen, deren Eltern zu betreuen.
Zemin lernte sehr früh sehr viel über die weibliche Biologie, denn er war ja meistens in der Obhut seiner Mutter und Schwester. Ausserdem bekam er sehr bald mit, was seine Eltern im Schlafzimmer nach dem Zubettgehen trieben, denn die Wände in der Wohnung waren nicht sonderlich lärmisolierend. Das führte dazu, dass er gegenüber Mädchen eher zurückhaltend war. In der Schule wurden die Kinder auch nicht ermutigt, Knaben mit Mädchen beisammen zu sitzen. Noch weniger kam es für Jungs in Frage, auf dem Pausenhof mit Mädchen zu schwatzen. Zemin fand die Geschlechtertrennung völlig in Ordnung. Wenn Knaben in seiner Klasse untereinander zotige Witze machten, empfand er das als ärgerliche Ablenkung vom Lernstoff. Viel lieber passte er in den Rechenstunden, Chinesischklasse, Englischunterricht gut auf. Da konnte er vollkommen vergessen, dass so viele Mädchen so nahe mit ihm zusammen waren.
Mit der Zeit aber vertiefte sich seine Abneigung gegenüber Mädchen – ausser gegenüber Yangyang und Sisi, und natürlich gegenüber seiner Mutter und allen Tanten und Grossmüttern seiner Familie. Mädchen und Frauen bedeuteten einfach mehr Ärger: sie konnten ohne Spiegel nicht leben, Männer trugen die Einkaufstüten ihrer Frauen hinter ihnen her und langweilten sich (das hatte ihm sein Vater mehrmals gesagt) und sie hatten auch hygienische Bedürfnisse, für die er sich nicht interessieren mochte. Seine Mutter zum Beispiel hütete jeden Monat zwei, drei Tage lang das Bett wie eine Schwerkranke. An diesen Tagen gab es bestenfalls Verpflegung von ausser Haus, oder die Kinder bereiteten sich mehrere Kartons voll Sofortnudeln mit heißem Wasser selber zu. Der Vater war ohnehin kaum tagsüber zu Hause, aber wenn seine Frau die Monatsregel hatte, war er ihr Krankenpfleger. Zemin schauderte es bei diesen Erinnerungen.
Sisi wuchs genauso behütet auf wie Zemin, und weil sie keine Geschwister hatte, regnete es andauernd Grosszügigkeit über sie. Ihre Eltern überhäuften sie mit Wohltaten und Geschenken, wie das bei vielen chinesischen Eltern üblich ist. Wer in einer Familie mit vier, fünf oder mehr Kindern aufwuchs, der erinnert sich an die Jahre des Darbens, Hungerns, stillen Leidens. Wenn es genug zu essen für die ganze Familie gab, empfand man eine tiefe Erleichterung. Sparen war eine Notwendigkeit. Dann kam auf schnellen Sohlen die neue Zeit daher, in der zuerst einige wenige, dann immer mehr prassten, Geld durch die Finger rieseln liessen wie Kinder Sand am Meeresstrand. Nein, Sisis Eltern gehörten nicht zu jenen Neureichen, die den Neid anderer anstachelten, indem sie sich sündhaft teure Luxusgüter leisteten, die dann nach kurzer Zeit im Müll landeten. Sie waren sehr sparsam, so wie es ihre Eltern gewesen waren. Aber sie liessen ihre Tochter nicht darben. Sisi bekam Glücksgeld an ihren Geburtstagen, das heisst, ihre Eltern luden sie zu einem Restaurant ein, genossen ein üppiges und fleischreiches Mahl und überreichten ihr jeweilen einen roten Umschlag, in dem Geld steckte. Das erste Mal war es achtundachtzig Yuan, eine sehr Glück verheissende Zahl, dann einhundertachtundachtzig und als sie einundzwanzig wurde, also erwachsen, bekam sie achthundertachtundachtzig Yuan in druckfrischen, knisternden und nach neu riechenden Banknoten. Und zwischenhinein gab ihr ihre Mutter gerne mal wieder eine elegante Handtasche. Mit zehn Jahren hatte sie ein Mobiltelefon und war damit eine der Wenigen in ihrer Klasse. Im Frühlingsfest, wenn das neue chinesische Mondjahr begann, kamen bis zu drei Dutzend rote Umschläge in ihren Besitz, von ihren Eltern, Onkeln, Tanten, aber auch einigen Freunden ihrer Eltern. Dabei kamen erkleckliche Summen zusammen, die sie ihrer Mutter übergab, die das Geld auf ein Bankkonto einzahlte, das Sisi als Erwachsene anzapfen durfte.
Eigentlich sollte das Glücksgeld vom Frühlingsfest für ihre höhere Ausbildung verwendet werden, aber ihre Eltern verfügten grosszügig, dass sie die Kosten für ihre Berufsausbildung tragen würden.
In der Schule hielt sie sich, wie alle Mädchen, von Jungs fern. Jungs taten es gleich, aber es gab einige Knaben, die auf dem Schulhof üble Streiche spielten und sich auch mit den Strebern der Klasse stritten. Sie forderten zuweilen keck, dass die guten Schulkinder ihnen die Antworten während der Prüfungen spicken sollten.
Sie hatten mit diesem Begehren nicht bei allen Erfolg. Eines der Mädchen, das besonders gut in Rechenkunde war, sagte ganz einfach und gut hörbar, «darauf könnt ihr pfeifen. Ich werde das nicht tun.»
Da versuchten die Knaben ein anderes Mädchen für ihre Zwecke einzuspannen. Zuerst forderten sie ein Mädchen namens Jing auf, ihnen heimlich die richtigen Rechenergebnisse zuzuspielen, doch dann fiel dem Anführer der Bande ein, dass Jing nicht die Beste im Rechnen war. Es musste eine Sitznachbarin von Xiaoxiao sein, also standen sie im Kreis um Sisi und machten ihren Wunsch kund. Sisi schüttelte den Kopf, da lachte der Bandenanführer. «Wenn du uns nicht hilfst, gibt es Probleme für dich...» Sisi schaute zu Boden und scharte mit ihrem linken Fuss auf dem Grund, so als ob sie eine Nachricht in den Boden ritzte. Dabei war sie nur nervös und eingeschüchtert. Xiaoxiao sah aus der Ferne, dass ihre Sitznachbarin durch die Mitglieder einer Schulbande eingekreist war. Sie kam im Laufschritt daher und rief von Weitem, «Hört sofort auf, Sisi zu bedrängen! Hört auf! Hört sofort auf...» Der Anführer drehte seinen massiven Kopf in ihre Richtung, so als ob er eine Geistererscheinung am Horizont suchte. «Ach du bist`s...», sagte er mit spöttischem Ton.
Um zu zeigen, was er von Sisis Einmischung hielt, gab er Sisi einen heftigen Stoss von hinten. Ihr Oberkörper fing den Stoss auf, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte nach vorne auf ihre Hände. Dabei zerkratzte sie sich die Haut eines ihrer Knie am Boden und blutete.
Was Sisi nicht erwartet hatte, geschah nun: Xiaoxiao klatschte dem fetten Bandenführer ihre Hand ins Gesicht, der hob sein rechtes Bein wie zur Abwehr. Xiaoxiao war schneller, riss ihren linken Fuss auf Hüfthöhe und stieß damit blitzschnell zu. Ihr Fuß landete an der weichsten Stelle seines Bauchs. Er krümmte sich, grunzte laut und verzog sein Gesicht. Ihre rechte Hand flog an seine linke Wange, dann ihre linke Hand an seine rechte Wange, und er ging zu Boden. All das geschah in wenigen Sekunden. Ein zweiter Junge wollte Xiaoxiao unschädlich machen, doch auch er kriegte Schläge mit der Handkante ab, die ihn zu Boden brachten.
Mittlerweile waren Dutzende von Schulkindern herbeigeströmt. Xiaoxiao wurde angespornt, den üblen Kerlen eine Lehre zu erteilen. Die zwei geschlagenen Knaben hatten keinen Mumm mehr, sich mit Xiaoxiao zu prügeln. Xiaoxiao stand mit gespreizten Beinen vor ihnen und hielt die vier oder fünf noch unversehrten Mitglieder der Bande im Auge. Diese getrauten sich auch nicht zu einer Handlung. Die Stimmen der Umstehenden wuchsen zu einem Chorus an: «Jia you, Xiaoxiao, Jia you Xiaoxiao!» Durch den Sprechchor angezogen, erschienen nun drei Lehrer und Lehrerinnen und nahmen die Lage unter Kontrolle.
Das war ein Aufsehen! Die Mädchen, die um die Kämpfenden herumstanden, klatschten in die Hände, und selbst einige der Jungs zeigten, wie sie beeindruckt waren von Xiaoxiaos Sieg. Auch Zemin war darunter. Er mochte die bulligen Jungs nicht, die während des Unterrichts kaum je aufpassten, aber während der Prüfungen unerlaubte Hilfe von ihren Sitznachbarn erwarteten. Auch Zemin war schon bedroht worden: wenn er nicht Antworten mit ihnen teilen würde, bekäme er Scherereien. Denn nichts war wichtiger für jeden Schüler und jede Schülerin, als jede Prüfung zu bestehen, und nichts langweilte manche unter ihnen so wirksam wie der monotone Unterricht.
Xiaoxiao wurde Sisis beste Freundin. Sie stellte sie ihrem Onkel vor, der ein Kungfu-Studio betrieb. Xiaoxiao war seit ihrem neunten Lebensjahr eine eifrige Schülerin von Nahkampfsport. Ihr Onkel meinte, alle Frauen sollten es lernen, denn Frauen lebten grundsätzlich weniger sicher. Keiner der Jungs in der Klasse belästigte die beiden Mädchen je wieder.
Xiaoxiao war die sportlichste aller Kinder ihrer Klasse. Sie glänzte auch im Sportunterricht. Weniger auffällig waren ihre Leistungen in Englisch und Chinesisch, und am schlechtesten war sie in Rechenkunde. Sisi half ihr ab und zu beim Büffeln zu Hause. Die Mädchen machten ihre Hausaufgaben entweder bei Sisi oder in Xiaoxiaos Wohnung.
Einmal, als Xiaoxiao in der Schublade ihres Schreibpultes in ihrem Zimmer herumkramte, kam ein grosses Porträt eines Jungen ans Tageslicht. Sisi sah das Bild sofort und war erstaunt. «Mein Freund,» erklärte Xiaoxiao. «Du hast einen Freund?» wunderte sich Sisi. «Na und?» gab Xiaoxiao zurück. «Er ist fünf Jahre älter als ich. Ich habe ihn im Sportstudio meines Onkels kennengelernt...» Sisi konnte es nicht fassen. Beide Mädchen waren erst fünfzehn Jahre jung. Wer dachte in diesem Alter an Freundschaft mit einem Knaben? «Aber behalte das als Geheimnis, ja?» sagte nun Xiaoxiao. Sisi versprach es ihr. «Ist er reich?» wollte sie wissen.
Da war Xiaoxiao erstaunt. «Reich? Was weiss ich denn? Wir heiraten doch nicht. Wir sehen uns bloss jede Woche einmal. Manchmal nimmt er mich nach dem Training in ein McDonalds. Meine Eltern wissen das nicht. Und mein Onkel weiss, dass ich jeden Jungen flachlegen kann, sollte er mir gefährlich werden. Vor Zhipeng brauche ich mich nicht zu fürchten. Er ist nett... Manchmal macht er mir ein tolles Geschenk. Zum Beispiel diese Brosche hier...»
«Warum tut er das denn? Warum geht er nicht mit einer Gleichaltrigen aus?», wollte Sisi wissen.
«Was weiss ich. Wir verstehen uns, das ist die Hauptsache. Er sagt, er sei zu jung zum Heiraten. Er geht ja auch noch an die Uni.» An solchen Tagen gab Xiaoxiaos Mutter ihr Geld, um im nahen McDonalds zu essen. Wenn die Eltern spät nachts nach Hause zurückkehrten, war Zhipeng nach einem frohen Schäferstündchen mit Xiaoxiao längst im Studentenheim und schlief.
In der Schule hörte Sisi ab und zu unter Mädchen, wie sie sich ihren späteren Freund vorstellten. Alle wollten einen gutaussehenden Knaben mit guten Manieren. Dazu musste er auch noch intelligent sein, die Prüfung namens ÄgaokaoÄ bestanden haben und möglichst ein Student einer Universität sein. Sisi erstaunte nur, dass alle Mädchen dieselben Wünsche hatten. Natürlich blieb unausgesprochen, dass der Freund einmal reich sein würde. Über Heiraten sprachen sie natürlich nicht. Das war eine viel zu ernsthafte Angelegenheit, Beim Heiraten sprachen vor allem die Eltern mit.
Sisi fand an keinem Jungen in ihrer Klasse Gefallen, am wenigsten an den Ranglern, die in den Pausen ihre Klassenmitglieder nötigten, ihnen beim Schummeln während den Prüfungen zu helfen. Nur bei Zemin war sie sich sicher, dass sie ihn nicht schlecht fand. Er hielt zu allen Mädchen Abstand, wurde fast als einziger der Knaben auch von den Lehrern ab und zu gelobt, und er schaute durchaus gut aus. Die Gerüchte über sie und Zemin störten sie aber gleichwohl.
Mit der Zeit gewöhnte sie sich an die Neckereien über sie und Zemin. Keines der Mädchen hatte einen Freund, ausser Xiaoxiao, und Sisi war die Einzige, der Xiaoxiao dieses Geheimnis anvertraut hatte. Darüber geriet sie ins Grübeln. Warum war es normal, dass Mädchen mit Mädchen Freundschaften eingingen, nicht aber mit Knaben? Und wie war es mit den Knaben? Wenn sie an einer Gruppe von Jungs ihrer Klasse vorbeiging, hörte sie oft zotige Gesprächsfetzen. Sie hatte keine Lust, zuzuhören und schritt jedes Mal energisch davon. Fast immer war da vom «Kleinen Bruder2» und der «kleinen Schwester» die Rede. Das verstand jedes Kind in ihrem Alter. Jeder Junge hatte einen «kleinen Bruder2», jedes Mädchen eine «Kleine Schwester». Manchmal nannten die Jungs sie auch «Jadetor». Was faszinierte die Knaben so sehr an Geschlechtsteilen, dass sie immer grinsend und witzelnd untereinander darüber witzelten?
Sie war noch nicht einmal sechzehn, als sie eines Tages mit ihrer Mutter darüber ins Gespräch kam. Ob ihr Vater mit ihrer Mutter im Bett «spielte», wollte sie wissen. Die Jungs ihrer Klasse pflegten immer von «Spielen» zu reden, wenn das gemeint war, was Eltern im Bett vor dem Schlafen taten. «Zuo ai», sagte ihre Mutter. «Es heisst «Liebe machen». Natürlich tun dein Vater und ich das. Hätten wir das vor siebzehn Jahren nicht getan, gäbe es dich gar nicht.» Danach erklärte ihr ihre Mutter, wie wichtig «Liebe machen» für den Bestand der chinesischen Nation war. Nach so vielen Hungerjahren, Umweltkatastrophen, Konflikten, die alle das chinesische Volk durch ihre ganze Geschichte hindurch in Schach gehalten hatten, war es die Pflicht jeder Frau, wenigstens einen Jungen, wenn nicht ein Junge dann eben ein Mädchen, zur Welt zu bringen und zum Erwachsenen aufziehen. Wer das nicht tat, war kein Patriot. Der war egoistisch, und das chinesische Volk schaute auf Egoisten herab.
Sisi graute es vor dieser Pflicht. Sie dachte immerzu an die Jungs ihrer Klasse, die andere dafür verprügelten, weil sie ihnen nicht helfen wollten die Prüfungen zu bestehen. Und auch sonst hatte sie immer mehr Gründe, Jungs zu meiden: Knaben rauchten oft, auch wenn es verboten war. Knaben wurden Männer, und Männer waren berüchtigt dafür, flaschenweise Reisschnaps zu trinken und dabei die Selbstkontrolle zu verlieren. Sie mochte ihren Vater, sie liebte auch ihre zwei Grossväter, aber sie hatte eine tiefe Abneigung gegen Jungs ihres Alters. Ausser Zemin. Sie konnte nicht sagen, was für ihn sprach, aber sie hatte nichts gegen ihn. Die Mutter kam auf ehefrauliche Pflichten zu reden. Sisi lauschte mit zunehmendem Grauen. «Eine gute Frau kann ihren Ehemann treu machen, eine schlechte dagegen wird ihn mit anderen Frauen teilen müssen. Willst du, dass Zemin sich eine Ernü nimmt?» Sisi erschrak. Was dachte sich ihre Mutter eigentlich? Warum kam sie auf Zemin zu sprechen? In ihrem Alter dachte kein Mädchen ans Heiraten.
«Zemin? Ich werde nie Zemin heiraten!», sagte sie damals voller Eigenwilligkeit. «Nein?» fragte ihre Mutter mit jenem bestimmten Unterton in ihrer Stimme, der ihre Freundlichkeit Lügen strafen konnte.
«Gibt es denn einen anderen Jungen in deinem Leben? Stell ihn uns vor!» Das sprach sie mit einer beherrschten Tonlage aus, die keine Gegenrede duldete. Trotzdem antwortete Sisi ihr: «Ich werde nie heiraten!»
«Das werden wir ja sehen,» meinte ihre Mutter. «Du hast noch mindestens fünf Jahre Zeit. Mehr als zehn Jahre geben wir dir aber nicht. Sonst wirst du nicht mehr unsere Tochter sein!»
Nach und nach hatten andere Mädchen ihrer Klasse Freunde, oft junge Männer, die noch die Hochschule besuchten und in ihrer Freizeit sich mit 17-jährigen Schulmädchen trafen. Viel mehr war nicht dabei. Die jungen Männer wollten einfach etwas Geselligkeit und führten die Schülerinnen in Restaurants aus und kauften ihnen kleine Geschenke. Die Mädchen waren stolz auf sich selber und ihre Begehrtheit. Sie brachten falsche Prada-Handtaschen zur Schule und machten ihre Klassenkameradinnen neidisch. Dann erklärten sie ihnen, wie man sich bei WeChat odere Weibo anbieten konnte und worauf zu achten war, damit aus einer losen Bekanntschaft keine ärgerliche Dauerverpflichtung wurde. Gebt nie eure wahre Telefonnummer bekannt! Bearbeitet eure Fotos, bevor ihr sie veröffentlicht! Behält euren wahren Namen geheim! Nehmt lieber Bargeld als einen Goldring – der könnte euch vor eurer Familie ins Unglück führen!
Viele der einst guten Schülerinnen rutschten in der Klassenrangliste ab, die Durchschnittsnoten der Klasse fiel ebenso bedrohlich. Die Lehrkräfte waren ratlos, aber Sisi und Zemin glänzten weiterhin.
Und dann kamen die Eintrittsprüfungen für Hochschulen und Universitäten. Ein Drittel Zemins und Sisis Klasse verfehlten diese fast Alles entscheidende Prüfung. Sisi und Zemin durften sich bei einigen der besten Universitäten des Landes für ihre weitere Ausbildung bewerben. Und so kamen sie nach Peking beziehungsweise an eine Universität in Guangzhou.
Sie blieben mittels sozialer Medien miteinander in platonischer Beziehung. Hatten sie schon in der Schulzeit als Streber gegolten, so waren sie nun erst recht erpicht darauf, sich von den mehr verwöhnten Studierenden abzuheben. Sisi bemerkte in Peking, dass vor Allem Kinder sehr reicher Familien an der Universität eingeschrieben waren. Nicht alle nahmen das Studium ernst genug. Viele gingen nicht einmal in die Kurse und Vorlesungen. Die Universität war ähnlich wie eine Schule organisiert. Man lernte aus dem vorgeschriebenen Buch auswendig und wiederholte fast wortwörtlich einen Teil dessen Inhalts bei Zwischenprüfungen. Da konnte man auch im Bett bleiben und das Lehrbuch bequemer lesen.
Sisi aber war vom Fach selber fasziniert und las mehr über ihr Fach, als ihre Mitstudierenden. Bald hatte sie ein Wissen, das ausgereicht hätte, ein neues Buch zu schaffen. Das Fach Pädagogik war noch neu in China und daher war die Lehre noch weitgehend ungefestigt. Alle Studierenden und vor allem alle Dotierende waren sich nur darin einig, dass der Unterricht in China in einem verknöcherten Zustand war. Ein frisches Denken war nötig. Sisi hatte ein persönliches Interesse an Veränderungen an Schulen. Ihre Lektoren und Dozenten waren sehr angetan von ihrem Interesse. Sie bestand ihren Abschuss mit den besten Noten ihrer Klasse.
Zemin ging es ganz ähnlich während seiner Zeit an der Universität. Der wichtigste Unterschied zu Sisis Studium war, dass er in der Heimatstadt studieren konnte. Damit war er weiterhin in der Obhut seiner Mutter. Sie sah ihn jede Woche mehrmals. Vordergründig ging es bei Zusammenkünften von Mutter und Sohn um sein Wohl. Sie nahm ihn in Restaurants mit, ging mit ihm zum Friseur, und sie kaufte ihm immer wieder neue Kleider, auch wenn er schon weit mehr als genug davon besass. Manchmal kam er auch nach Hause und dann fragte ihn sein Vater über den Fortgang seines Studiums aus. Zemin hatte so gut wie keine Gelegenheit, auf die schiefe Bahn zu geraten und das war auch die Absicht seiner Mutter. Sie wollte nur das Beste für ihren Sohn und dazu gehörte, dass er eines nicht mehr fernen Tages Sisi heiraten würde. Das sprach sie nie offen aus. Es würde noch früh genug sein, wenn Sisi aus Peking zurückkehrte. Man musste den jungen Leuten etwas Zeit lassen, bevor man ihnen solche Mitteilungen machte. Es war ja auch nicht ganz auszuschliessen, dass Sisi in Peking einen ganz anderen jungen Mann kennenlernen würde. Was dann? Gegen Peking kam Guangzhou nicht an. Eine Chinesin, die nach Peking heiraten konnte, fühlte sich wie im Himmel.
Aber die Eltern von Sisi und Zemin hatten richtig geplant und gerechnet: es kam alles, wie es musste und wie es erwünscht war. Weder Zemin noch Sisi hatte irgendein ernsthaftes Techtelmechtel während des Studiums gehabt. Und so liessen sie sich von ihren Eltern dazu überzeugen, die Ehe miteinander zu schliessen. Es gab ein rauschendes Hochzeitsfest im Restaurant Bambusgarten, das in einem vornehmen Fünfsternehotel war. Zemins Vater ging mit der Reisschnapsflasche die Runde und stiess mit jedem männlichen Gast an, während Zemin selber nur so tat, als ob er sein Glas austrinken würde. Mehr als einer der vielen Gäste fand es nämlich sonderbar, dass Zein völlig nüchtern blieb, während sein Vater sichtbar ins Schwanken kam. Ein teurer Berufsfotograf schoss mehrere Bilder. Später dachten sich einige der Gäste, dass die Gesichter von Zemin und Sisi merkwürdig steinern und unbewegt wirkten. Aber es war ein eindrucksvolles Fest, an das über einhundert Gäste gekommen waren.
Nach zwei Ehejahren hörten die beiden jungen Leute zum ersten Mal die etwas ungeduldig vorgetragene Frage: na wie steht es? Wann kommt der Nachwuchs? Natürlich sahen sie ihre Eltern regelmässig. Jedes Jahr, wenn das Frühlingsfest auf dem Kalender stand und die Nation Ferien bekam, besuchten sie ihre jeweiligen Eltern, Zemin seine, und Sisi die Ihrigen. Aus Anstand ging Zemin dann auch am Ende der ersten Ferienwoche zu Besuch bei Sisis Eltern. Er überbrachte auch ihnen einen grossen Früchtekorb und er bekam einen roten Umschlag mit mehreren roten Banknoten drin. Dann nahm er Sisi mit zu seinem Elternhaus, und Sisi übergab Zemins Eltern einen Korb mit tropischen Früchten. Auch sie bekam einen roten Umschlag mit mehreren roten Banknoten drin. Seltsam nur, dass weder Sisis Eltern noch Zemins´ auffiel, dass sich die zwei jungen Leute eher weit voneinander hinsetzten und sich nie berührten. Frau Yao wäre sicher aufgefallen, dass sie wie zwei Fremde wirkten.
«Wir sind noch am Sparen», antwortete Zemin damals im dritten Jahr seiner Ehe mit Sisi auf die Frage seiner Mutter.
«Das ist ja gut, aber wenn euch Geld für das Kinderzimmer fehlen sollte oder für das Kindermädchen, wir können euch schon aushelfen», beschied Zemins Mutter. Sisi zuckte unsichtbar zusammen, Zemin fühlte seine Kehle trocken werden. Nur nicht seine Eltern um Geld angehen... Denn dann würden sie gleich ein Geburtsdatum festlegen wollen, sofern sie das konnten.
Im fünften Jahr errangen die beiden unfreiwillig Verheiratete einen gemeinsamen Entscheid. Ein Kind musste her, gleich wie. Sie sassen zusammen in ihrem kleinen Wohnzimmer, in dem Kleiderschränke standen, weil die zwei anderen Räume als Schlafzimmer dienten, obwohl nur einer von beiden angemessen gross genug war. Sie tranken Tee und knabberten Sonnenblumenkerne Auf dem Boden häuften sich die Schalen. Es war Sisi, die das Gespräch suchte. Jetzt aber wusste sie nicht recht, wie sie das Thema eröffnen sollte. Sie erzählten sich zuerst Dinge aus ihrem Alltag, über die sie normalerweise nie miteinander gesprochen hatten. Wer wem auf die Nerven ging am Arbeitsplatz. Was das Essen in den billigsten Essbuden in der Nähe ihrer Arbeitsorte kostete, und was man für dieses Geld bekam. Dazu etwas Klatsch, das einem die sozialen Medien lieferten. Beide wussten, dass sie das wirkliche Thema vor sich herschoben. Dann entstand eine längere Pause. Man hörte nur das Knacken von Sonnenblumenkernen und das Zermalmen der Kerne im Mund von Sisi. Zemin trank seinen Tee aus und goss sich nach, ohne Sisis Tasse zu beachten, die auch leer war. Er stellte den Topf zurück auf den Glastisch, an dem sie sassen – ein Hochzeitsgeschenk von Sisis Mutter. Die Stühle waren elegante Aluminiummöbel, die etwas laut knarrten, wenn man sein Gewicht auf sie herabsenkte. Zemin griff in seine Tragtasche, mit der er täglich zur Arbeit ging, und klaubte sein Mobiltelefon hervor. Sisi sah die Bewegung seiner Hand. Sie sprach: «Zemin, wir müssen unbedingt etwas tun... Meine Eltern haben mir gesagt, dass sie mir höchstens noch ein bis zwei Jahre geben, um ein Kind zu bekommen. Wenn es nicht gelingt, wird es arg böse. Es kann sein, dass sie uns dann auffordern werden, uns medizinisch untersuchen zu lassen, und wenn dann herauskommt, dass wir, dass du... dass ich...» Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte, abere Zemin verstand sofort. Er wurde hellwach.
«Meine Eltern machen auch Druck auf mich», beschied er seiner Frau. «Wir können ihnen die Masche mit dem Sparen von Geld nicht mehr anbieten. Hast du einen Vorschlag?»
Sie dachten laut über ihre prekäre Lage nach. Ein Ehepaar, das aus reiner Elternliebe einander heiratete, obwohl sie beide nur für gleichgeschlechtliche Partner in Frage kamen. Wie ein Wunder kam es ihnen vor, dass sie es fünf Jahre miteinander ausgehalten hatten. Sie mochten sich als Bekannte, aber sie konnten sich keine Intimität miteinander vorstellen. Davor hatten sie einen riesigen Schrecken.
Aber sie selber wussten, dass es so keine fünf Jahre lang weitergehen konnte. Da fragte Zemin sie aus blauem Himmel: «Willst du denn ein Kind austragen?»
Sisi hatte oft darüber nachgedacht. Sie beneidete oft die Mütter, die ihre Kinder zum Kindergarten brachten, wo Sisi arbeitete. Sisi mochte Kinder, Mädchen und Jungs gleichermassen. Sie sah viele Mütter, die recht lieblos zu ihren eigenen Kindern waren, und das tat ihr im Herzen weh. Die Mütter waren froh, sich tagsüber nicht um ihren Sohn oder ihre Tochter kümmern zu müssen. Sie wollten lieber die Aktienkurse an der Börse übers Internet oder das Fernsehen verfolgen, statt mit ihrem eigenen Kind zu spielen. Im Kindergarten mussten die Kleinen auch noch richtigen Schulunterricht nehmen: Chinesische Schriftzeichen, die Zahlen, Rechnen und auch Englisch. Zwar konnten die Kleinen keine Schulbücher lesen und schreiben konnten sie auch nicht. Aber die Eltern bezahlten zusätzlich dafür, dass je eine Lehrkraft Englisch lehrte, eine andere rechnen, eine Dritte setzte die Kleinen auf niedrige Hocker vor einem Fernsehgerät, auf dem dann chinesische Schriftzeichen zu sehen waren und dazu wurde das Zeichen auch ausgesprochen. Dazwischen ertönten liebreizende Kinderreime mit Musik. Eine Unterrichtseinheit dauerte zwar nur zwanzig Minuten, aber wessen Kind alle Fächer nahm, dessen Kind verbrachte einen ganzen Vormittag nur mit Lernen. So jedenfalls wollte Sisi ihre eigenen Kinder nicht aufwachsen lassen. Aber wollte sie Kinder haben? Sie fürchtete sich vor den medizinischen Risiken. Dafür war aber die Verdammung noch schlimmer, die sie erwarten musste, falls sie kindlos bleiben würde. Auch ihre Kolleginnen hatten sie oft gefragt, wann es so weit sei. Sie hatten alle schon ein Kind zur Welt gebracht und waren nur deswegen wieder im Beruf tätig, weil ihre eigenen Kinder nun zur Schule gingen, einige von ihnen waren in Schulheimen untergebracht.
Doch weil Zemin sie nun fragte, und es nicht nur um ihre eigenen Ziele ging, sondern um seine, sowie um jene der Eltern beider, entrang sie sich eine Antwort, die sie sich selber bislang nie hatte geben können:
«Ja, ich glaube, ich möchte ein Kind. Denk dran, dass in fünf Jahren meine weibliche biologische Uhr ablaufen wird. Dann wird es sehr viel schwieriger... Eine Frau kann dann praktisch nur noch mit medizinischer Hilfe schwanger werden.»
Zemin wusste das, aber er hatte kein Wissen über Empfängnis und Schwangerschaft. Wozu auch? Nun aber begann er sich dafür zu interessieren. Wenigstens über das Wichtigste. «Gibt es auch medizinische Hilfe für jüngere Paare?»
«Ja. Es gibt schon fünfundzwanzigjährige Frauen, die sich eine befruchtete Eizelle einpflanzen lassen. Wenn der Ehemann gestorben ist, zum Beispiel, und die Frau nicht wieder heiraten will.» Zemin wurde hellhörig. Er befragte Sisi über diese Form der Hilfe, und offenbar wusste sie sehr gut Bescheid. Er fühlte sich befreit von einer unsichtbaren aber erdrückenden Last. Es gab offenbar eine Möglichkeit, Sisi schwanger werden zu lassen, ohne dass sie zusammen …
«Und du, Zemin? Kannst du dich als Vater vorstellen?»
Daran hatte er natürlich nicht gedacht. Er brauchte eine gewisse Zeit, um sich diese Möglichkeit in allen Schattierungen vorzustellen. Es würde ja bedeuten, dass ihre Scheinehe weiter bestehen musste, des Kindes willen und auch der Eltern willen. Eigentlich sprachen diese Überlegungen streng dagegen. Aber es gab da diese Pflicht seinen Eltern gegenüber. Es gab sogar ein Gesetz, das Kinder verpflichtete, sich um ihre betagten Eltern zu kümmern. In etwa fünfundzwanzig Jahren würde er zum Zug kommen. Wenn er ihnen keinen Enkel schenkte, würden sie ihn womöglich hart bestrafen.
Hatte er etwas gegen Kinder? Nein. Er hatte auch schon Cartoons gezeichnet, die für Kinder gedacht waren, und sie kamen gut an. Das hatte ihn angespornt. Er freute sich auf die Reaktionen von Kindern, die seine Zeichnungen schätzten. Er war bloss etwas unsicher im Umgang mit Kindern. Er wollte nur nicht als ein Mann dastehen, der lieber Jungs als Mädchen um sich herum hatte. Ansonsten... Kinder waren Kinder, so gut wie geschlechtslos. Sie brauchten etwas mehr Pflege. Das würde er wohl hinkriegen. Er musste.
Sie beschlossen, noch im gleichen Monat eine Klinik aufzusuchen und sich über alle Gesichtspunkte kundig zu machen. Sie fanden ein privates Krankenhaus in ihrem Stadtviertel, das sehr modern war und eine Abteilung für Fortpflanzung führte, die einen guten öffentlichen Ruf hatte. Es war das Nanfang-Krankenhaus. Im sechsten Obergeschoss empfing sie eine Gynäkologin. «Wie kann ich Ihnen helfen?» flötete sie zur Begrüßung.
Zemin schluckte zunächst einmal. Außer einem höflichen «Nin hao» brachte er nichts über die Lippen. Sisi war aber gut vorbereitet. «Äh, nin hao... Wir möchten gerne ein Kind bekommen... Wir wollen eine In-Vitro-Befruchtung.»
Das war kühn. Eine Patientin, die wusste, welche Methode für sie geeignet war, das gab es eigentlich selten. Die Gynäkologin hatte es noch nie mit einer Patientin zu tun gehabt, die mit dem Wunsch zu ihr kam, so eine komplizierte und kostspielige Methode zu verlangen. Sie schaute sich die zwei jungen Leute an. Bruder und Schwester? Aber nein doch. Sie sahen zu verschieden aus. Eine Sterilität traute sie dem Mann nicht zu. «Sind Sie verheiratet?», fragte sie die beiden. Sisi zögerte eine Sekunde zu lang mit ihrer Antwort. Sie hatte sie nicht erwartet. «Ja, wir sind verheiratet,» liess sich da Zemin vernehmen. «Und was ist der Grund, dass Sie eine InVItro-Verpflanzung wollen? Wer von Ihnen hat medizinische Probleme?»
Medizinische Probleme? Daran hatten sie nicht gedacht. «Nun, äh, wir sind seit fünf Jahren verheiratet, aber es hat einfach nicht geklappt. Wir sind am Verzweifeln. Wir wollen ganz schnell Eltern werden.»
Die Gynäkologin war nicht leicht in die Irre zu führen. «Darf ich vorschlagen, dass Ihre Frau sich gleich jetzt untersuchen lässt? Dann werden wir Gewissheit haben, ob sie überhaupt schwanger werden kann. Ist das Ihnen recht?»
Sisi fühlte sich wie in einer Falle, aber Zemin fand nichts dabei, dass seine Frau gleich erfahren sollte, wie es um ihre Eignung zur Schwangerschaft stand. Beide willigten schließlich in diesen Vorgang ein. Dann bitte ich Sie, zum Kassenschalter im Erdgeschoß zu gehen, dort das Honorar zu bezahlen und dann zu mir zurückzukommen. Natürlich kann Ihre Frau hier auf Sie warten, falls Sie, mein Herr, alleine hinuntergehen wollen.»
Die Untersuchung verlief glatt und erbrachte, dass Sisi völlig gesund und fruchtbar war. Keine Polypen, keine ungewöhnliche Flora im Unterleib. Natürlich hing alles auch von ihren Genen ab, die so manche Erbeigenschaft weitergeben konnten. Da aber auch in der Vergangenheit nie etwas Abnormales bei Sisi festgestellt worden war, lautete der erste Befund sehr gut.
«Dann kann das Problem eigentlich nur an Ihnen liegen, Herr Nie. Ich schlage Ihnen vor, in unserer Urologischen Abteilung sich untersuchen zu lassen und mir den Untersuchungsbericht zu geben. Dann können wir entscheiden, ob eine In-Vitro-Behandlung für Ihre Frau in Frage kommt...»
Zemin wollte darauf sagen, sie hätten das Geld für die medizinische Massnahme, aber er verstand instinktiv, dass Geld alleine nicht die Lösung bringen konnte. Man brauchte einen rot bestempelten Beweis. Jedes Mal, wenn eine Amtsstelle etwas zu bewilligen hatte, benötigte man ein Papier mit einem fetten roten Stempel drauf. Er stand auf, murmelte zu Sisi, «Lass uns gehen» und zur Ärztin gewandt, sagte er, «wir müssen uns das noch einmal überlegen!»
«Tun Sie das», ermutigte die Gynäkologin das junge Paar. «Sie sind ja noch jung... Die meisten unserer Patientinnen sind über vierzig Jahre alt. Aber Sie dürfen natürlich jederzeit zu uns kommen. Sobald Sie Ihre urologische Untersuchung hinter sich gebracht haben, können wir weitersehen...»
Auf der Strasse angekommen, öffnete sich Zemin gegenüber Sisi. «Falls ich gesund bin, was dann? Dann werden Sie uns keine Verpflanzung erlauben. Weisst du, wie es bei unseren Eltern war, als die heirateten? Damals mussten alle Heiratswilligen eine medizinische Untersuchung eingehen, und wenn einer von beiden unfruchtbar war, erfuhren sie es bevor sie sich zum Zivilstandsamt aufmachten. Manche Ehe wurde damals wohl gar nicht geschlossen...»
Sie ging zu Fuss, weil es sich so besser sprechen ließ. Eine Weile lang blieb Sisi still. Zemin spürte ihr Brüten fast körperlich. «Wir können uns ja auch scheiden lassen», sagte er, um sie endlich zu einer Antwort bewegen zu können. «Bist du verrückt?» entfuhr es ihr. Sie wussten beide, dass eine Scheidung ihre Schwierigkeiten nur noch verschärfen konnte. Schweigend gingen sie eine Weile weiter, jeder in schwermütigen Gedanken verfahren. Zemin hatte eine Idee: «Glaubst du nicht, wir könnten ein Untersuchungsergebnis wie wir es wünschen kaufen? Wir sagen dem Arzt, was er in dem Bericht schreibt und zahlen dafür?»
Sie machten auf der Stelle kehrt und gingen zum Nanfang-Krankenhaus zurück. Die urologische Abteilung war auf dem siebten Stock. Im Warteraum sassen viele ältere Männer, einige grauhaarig. Es gab einen Empfang, an dem zwei junge Frauen in Schwesteruniformen tätig waren. Eine von ihnen hatte eine laute Unterhaltung mit einem Patienten. Die Andere tippte auf der Tastatur vor ihrem Computer. Drei weitere Patienten standen an. Zemin und Sisi drückten sich an ihnen vorbei. Im Gang gingen Türen nach links und rechts ab. Auf den Schildern stand «Untersuchungen» und der Name eines Arztes. Es gab vier solche Untersuchungsräume. Ganz am Ende gab es zwei Räume ohne Schild. Die Tür des einen stand offen. Darinnen sahen sie eine Pritsche daneben ein pult mit einem Bildschirm drauf. «Was ist denn das?» wunderte sich Zemin. Sie traten ein. Zemin tippte auf eine Taste am Bildschirm. Sofort leuchtete er auf. Es begann zu flimmern. Zuerst sah Zemin einen Fußweg, der auf eine alleinstehende Villa zuführte. Dann kam ein Fenster in Sicht. Jetzt dunkelte der Himmel und ein Licht ging an im Zimmer. Eine Frau ging hinter dem Fenster geschäftig auf und ab, wobei sie sich bückte, wie wenn sie ein Bett herrichtete. Dann richtete sie sich auf, zog ihre Bluse über den Kopf und stand mit wippenden Brüsten ohne Büstenhalter im Blickpunkt. Die Frau hatte einen entzückten Ausdruck im Gesicht. Dann gab es einen Szenenwechsel: ein Mann betrat das Haus und der Betrachter folgte ihm. Er öffnete eine Tür im Hausinnern und trat ein. Der Blick des Betrachters fiel auf den Unterleib jener Frau, der er gerade zuvor beim Ausziehen gesehen hatte. Die Frau räkelte sich und stöhnte liebeshungrig. Der Zuschauer sah nun die Finger der Frau an ihrem Unterleib spielen.
Zemin und Sisi blieben wie versteinert stehen. Sie sahen zum ersten Mal in ihrem Leben einen pornografischen Film, der sie seltsam faszinierte. Beide sahen einen Mann und eine Frau, die leidenschaftlich voneinander Besitz ergriffen und ihre Lust sich sichtlich steigerte. Da hörten sie Schritte hinter sich. Sie schauten um. Ein weissbekittelter Pfleger näherte sich dem Raum, dessen Tür offenstand. Ohne ein Wort zu Zemin und Sis zu sagen, drückte er sich an ihnen vorbei in den Raum, schaltete das Videogerät aus und machte eine Handbewegung in Richtung Tür. Zemin und Sisi gingen langsam zum Warteraum zurück, der genau vor dem Anmeldeschalter war. Es war ein reger Besuchsreigen. Die neuen Patienten erhielten je einen Zettel mit einer Nummer, die innert einer halben Stunde aufgerufen wurde. Zufällig bemerkte Sis, wie sich die Tür des anderen Videoraums öffnete und sie stiess Zemin an. Er schaute den Gang entlang zurück dorthin, wo sie vor wenigen Minuten einen Pornofilm gesehen hatten. Ein Mann mit kahlem Schädel und einer Hornbrille auf der Nase trat aus dem anderen Raum heraus. Er schien unschlüssig zu sein und schaute sich nach allen Richtungen um. In der linken Hand hielt er einen seltsamen Pappbecher. Niemand ging auf ihn zu. Er zog die Tür des Raums hinter sich zu und schritt nun zum Schalter. Zemin und Sisi beobachteten ihn sehr genau. Schliesslich stand der Mann nur noch zwei Meter von ihnen entfernt. Von dieser Entfernung konnte Zemin sehen, dass der Pappbecher einen Aufkleber mit einer Aufschrift trug. Der Mann schaute sich noch einmal um. Fast kam es Zemin so vor, als ob der Mann auf der Flucht war, so nervös wirkte er. Er stellte den Pappbecher schnell auf die Ablagefläche. Dann ging er eilig weg Richtung Aufzüge. Zein näherte sich nun der Ablagefläche. Er beugte sich herunter, um den Aufkleber auf dem Pappbecher lesen zu können. «Liu Jishu, 1966.2.17» las er. Noch während er da stand und sich einen Reim auf das, was er beobachtet hatte, zu machen, erschien ein Pfleger von einem Raum, der vom Empfangsschalter abging und trat auf die Ablage zu. «Ist das Ihr Spermium?» fragte er Zemin. Dann beschaute auch er den Aufkleber. «Wohl nicht. Sie sind wohl etwas jünger.» Dann nahm er den Becher und brachte ihn ins Labor.
Sisi trat nun zu ihm. «Wollen wir nicht gehen?» fragte sie. Sie verliessen das Nanfang-Krankenhaus. Zemin fühlte sich besser. Er hatte einen Plan. «Lass uns ein Taxi nehmen. Wir haben schon zuviel Zeit verplempert,» schlug er Sisi vor. Sie war dankbar. Es war ein weiterer brütend heisser Sommertag und sie war ganz verschwitzt.
Sie kamen am Montag darauf wieder zurück. Jeder von ihnen hatte sich unbezahlten Urlaub geben lassen – aus medizinischen Gründen. Ihre Arbeitgeber waren verständnisvoll, denn weder Sisi noch Zein hatten sich je krankschreiben lassen.
Zemin liess sich um zehn Uhr von einem Urologen untersuchen. Sisi wartete im Wartezimmer auf ihn. Sie war nervös, aber Zemin war guter Dinge. Die Untersuchung war gründlich und vor elf Uhr zu Ende. «Sie scheinen gesund zu sein, Herr Nie, obwohl sie einen etwas unsportlichen Eindruck machen. Jetzt kommt das Allerwichtigste: Ihre Fruchtbarkeit. Sind Sie in der Laune? Sie wissen doch, was ich meine? Denken Sie an Ihre Frau. So eine hübsche Frau... Hier ist ein Becher und, sehen Sie, ich schreibe Ihren Namen hier auf die Etikette, die ich dann auf den Becher klebe... Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Raum, wo Sie das tun können... Wollen Sie, dass Ihre Frau Sie begleitet?» Zemin erschrak. Daran hatte er nicht gedacht. «Nein, nein, nicht nötig,» murmelte er. Es war ihm höchst peinlich. Er folgte dem Arzt. Der führte ihn zum Schalter und zeigte ihm die Ablage, wo Zemin den Pappbecher abgeben sollte; dann ging der Arzt voraus und öffnete genau die Tür jenes Raums, wo Zemin und Sisi vor wenigen Tagen ein Pornovideo geschaut hatten. «So, hier sind Sie ganz allein... So schliessen Sie die Tür von innen ab... Sie können diesen Raum eine halbe Stunde lang benutzen. Glauben Sie, das reicht? Gut! Jetzt müssen wir den Raum aber erst noch buchen. Kommen Sie!» Sie gingen zurück zum Schalter. Zemin wurde für die Zeit zwischen 11 Uhr dreissig und zwölf Uhr eingetragen. Der zweite Raum war auch bereits gebucht.
«Machen Sie es gut», sagte der Urologe zu Zemin. «Ich bin sicher, Sie sind kerngesund und können bald stolzer Vater werden!» Er drehte sich auf seinen Absätzen ab und ging zurück zu seinem Büro.
Zemin hatte noch zwanzig Minuten Zeit. Er suchte Sisi und fand sie am Ende des Gangs, neben den Aufzügen. Gemeinsam kamen sie zum Schalter zurück. Sie hatten unwahrscheinliches Glück: genau in jenem Augenblick kam ein kahlköpfiger und sehr fetter Mann aus einem der zwei Räume. Er wirkte sehr nervös, schaute in alle Richtungen und hielt den Pappbecher in der einen Hand, während die andere ihn zu verdecken suchte. Er ging zögernden Schrittes zum Schalter. Niemand beachtete ihn. Nun stand er keine zwei Meter vor Zemin und Sisi. Er schaute sich ein letztes Mal im Kreis um, und als er die Gesichter von Zemin und Sisi wahrnahm, senkten sich seine Augen zu Boden. Mit einer raschen Handbwegung stellte er den Pappbecher auf die Ablage. Niemand ausser Zemin und Sisi hatten das mitbekommen. Der Mann schritt eiligst davon. «Jetzt», zischelte Zemin zu Sisi. Sie schritt wie zufällig an die Ablage und schaute unverwandt von ihr weg. Niemand beachtete sie. Sie griff schnell zu. Der Pappbecher wanderte in ihre Handtasche.
Zemin ging mit Sisi zum jetzt offenen Raum. Sie leerten den zähflüssigen Inhalt des Pappbechers in jenen, der Zemin gehörte. «Hoffentlich hat der nicht Aids», murmelte Zemin. «Komm mach mir den Kopf nicht dumm», zischelte Sisi zurück. Dann verliess sie den Raum und Zemin war alleine. Nur fünfzehn Minuten später stand er mit dem Pappbecher an der Ablage. Er wartete, bis ein Laborant kam, um die Pappbecher einzusammeln, die sich da angesammelt hatten. Es waren drei.
«Hast du es bemerkt? Das junge Ehepaar nebenan kommt in der letzten Zeit oft früher nach Hause. Und zweimal habe ich sie gemeinsam ausgehen gesehen... am helllichten Tag. Das letzte Mal am vergangenen Montag. Da hätten sie doch wohl arbeiten müssen.» Frau Yao fand, dass dies eine Sensation war.
«Was soll sich schon verändert haben?», brummelte Herr Mu. «Vielleicht ist die Frau schwanger und sie suchen sich nun eine größere Wohnung.»
Eine Woche später erhielt Zemin eine elektronische Nachricht: «Die urologische Untersuchung ihrer Spermien hat leider ergeben, dass Ihre Spermien ungenügend in Zahl und Motilität sind. Den Untersuchungsbericht können Sie jederzeit persönlich im Krankenhaus abholen. Wir bedauern, Sie und Ihre Frau enttäuschen zu müssen.»
Zemin schmunzelte. Er war an der Arbeit im Büro. Diese gute Nachricht spornte ihn mächtig an. Zunächst aber wollte er unbedingt Sisi Bescheid geben.
Zum ersten Mal in fünf Jahren trafen sie sich zum Abendessen in einem hochpreisigen Restaurant. Danach kamen sie im Taxi gemeinsam nach Hause. Natürlich wurde ihre Ankunft im Taxi vom Haus gegenüber dem Ihrigen genauestens bemerkt.
Am Wochenende gingen sie wieder zum Nanfang-Krankenhaus. Zuerst ging Zemin allein zum Schalter der urologischen Abteilung, wies sich aus und erhielt den schriftlichen Befund. Dann ging er zusammen mit Sisi zur gynäkologischen Abteilung.
An Samstagen war deutlich mehr Betrieb. Viele Patienten nahmen sich den arbeitsfreien Samstag, um sich beraten zu lassen, wie die moderne Medizin ihnen helfen konnte, doch noch ein Kind zu bekommen. Sisi und Zemin sahen viele Frauen im Alter ihrer eigenen Mütter. Sie wussten, dass die meisten von ihnen nach der Geburt ihres Wunschkindes sterilisiert worden waren, entweder freiwillig oder durch amtlichen Zwang. Sie sahen auch einige Frauen und deren Ehegatten, die das richtige Alter hatten, Grosseltern zu sein. Sie wussten sehr wohl um die Tragik, die so manche Einkindfamilien heimsuchte: das einzige Kind starb in einem Unfall oder durch eine Krankheit oder fiel einem Verbrechen zum Opfer. Zemin und Sisi wussten von einem Mitschüler aus ihrer Schulzeit, der als junger Erwachsener kurz nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag als Drogenhändler aufflog. Er war ein unauffälliger Junge in ihrer Klasse gewesen, nicht einer der Schulhofprügler. Er hatte keine Chance: das Gericht befand ihn schuldig, verbotene Drogen in Umlauf gebracht zu haben und übergab ihn der Polizei, um ihm das Einzige zu nehmen, das er von Geburt an immer besessen hatte, sein Leben.
Sisi und Zemin mussten über eine Stunde warten. Dann wurden sie zu einer Gynäkologin vorgelassen. Es war nicht diesselbe wie beim ersten Mal.
Sie besah sich die Patientinsgeschichte Sisis auf dem Bildschirm ihres Bürocomputers. Dann las sie den urologischen Befund, den Zemin ihr hinübergereicht hatte. «Hmm, schon erstaunlich, ein so junger und gesunder Mann mit den Spermien eines Siebzigjährigen», bemerkte sie. Zemin zuckte zusammen. Er hoffte, dieser Frau nicht erklären zu müssen, wie er zu jenen Spermien gekommen war.
Sie hatten Glück. Die Ärztin legte ihnen einen Vertrag vor, der genau festlegte, was die Klinik tun würde. Nur verheiratete Frauen durften sich diese Massnahme leisten. Die Unterschrift des Ehemannes war aber nicht erforderlich. Sie musste zudem einen Haushaltsregistrierschein besitzen. Das Krankenhaus versprach, wenn der übertragene Fötus innert sechs Monaten sich von der Gebärmutter ablöst und verlorengeht, der Patientin eine zweite Übertragung kostenlos vorzunehmen. War eine dritte In-vitro-Verpflanzung nötig, würde dies zulasten der Patientin gehen.
«Ich schlage Ihnen vor, sich die Sache gut zu überlegen. Nehmen Sie den Vertrag nach Hause, schlafen Sie darüber und kommen Sie zurück, wenn Sie sich sicher sind, dass sie es wollen. Die Behandlung dauert nicht lange, aber die Patientin sollte zur Beobachtung vierundzwanzig Stunden lang nach der Übertragung bei uns bleiben. Danach sollte sie sich einmal jeden Monat zur Kontrolle melden.»
Sisi bestand darauf, den Vertrag gleich zu unterzeichnen und den nächst besten Termin zu erhalten. Die Gynäkologin schien zufrieden. Kundinnen, die sich rasch entschließen konnten, passten ihr besser als solche, die viel Beratungszeit beanspruchten. «Gut. Dann darf ich um die Begleichung der Rechnung bitten... Dreissigtausend Yuan für die Grundleistung... schauen Sie unter Ziffer 3 im Vertrag... Wenn Sie die vierundzwanzig Stunden nach der Übertragung bei uns übernachten, ist noch dieser Betrag hier...» ...sie zeigte auf die Ziffer 3, Absatz 2, «...fällig.».
Zemin liess Sisi bei der Gynäkologin und ging zum Erdgeschoss hinunter, um die Rechnung zu bezahlen. Er kam mit der Quittung und einem strahlenden Lächeln zurück. Nun ging es nur noch darum, einen passenden Termin zu finden. Es war kinderleicht. Sisi wählte den kommenden Samstag. Dadurch konnte sie am Montag wieder an die Arbeit und niemand an ihrem Kindergarten würde etwas erfahren.
Jetzt fiel auch Herrn Mu auf, dass das junge Paar von gegenüber seinem Wohnhaus sich immer öfter zusammen sehen liess. Einmal begegnete er ihnen auf dem Fussgängerpfad. Er grüsste sie höflich, wie er viele seiner Nachbarn zu grüssen pflegte. «Haben Sie schon gegessen?» fragte er. Das war nicht ernst gemeint, sondern die übliche Begrüßung. «Wir haben schon gegessen, Onkel, danke und Sie?», antwortete ihm der junge Mann. Alle drei blieben stehen. Viele Fragen brannten auf Herrn Mus Zunge. Aber er wollte auch nicht wie ein Plebejer losfragen.
Sie sprachen eine Weile über die Bauarbeiten in der Strasse, die nachts das Schlafen schwer machte. Dann kamen sie auf die Busverbindungen zu sprechen. Herr Mus Bus fuhr neuerdings viel öfter und er verschwendete weniger Wartezeit an der Haltestelle. Dann stiess er mit einer Frage in einen ungesicherten Raum: «Haben Sie Kinder? Sie scheinen viel zu jung zu sein...» Zemin lächelte, Sisi strahlte. «Ich bin schwanger», gab sie dem für sie Fremden Auskunft.
Frau Yao erlebte eine grosse Überraschung: Ihr Mann berichtete ihr an jenem Abend, wie er das nette Pärchen ausgehorcht und dabei herausgefunden hatte, dass sie in Kürze Eltern werden würden. «Wie ist das möglich? Noch vor zwei Monaten hätte ich schwören können, dass die beiden sich wohl bald scheiden lassen würden...»
Die Schwangerschaft verlief ohne nennenswerte Komplikationen. Sie hatten fast täglich Gespräche mit Frau Yao oder Herrn Mu, und die Eltern des jungen Paares besuchten sie regelmässig. Zemin wandelte sich zum denkbar fürsorglichsten Ehemann. Manchmal holte er Sisi von ihrem Kindergarten ab, damit sie sich die Strapazen des Pendelverkehrs in übervollen Bussen sparen konnte. Sie nahmen dann ein Taxi. Einmal kam Sisi alleine nach Hause, mit zwei prallvollen Tüten beschwert. Und wie es der Zufall einrichtete, stieg auch noch Herr Mu aus dem Bus aus, der gleich hinter Sisis anhielt. Herr Mu beeilte sich, um zu Sisi aufzuschliessen. Freundlich sprach er sie an. Er würde ihre Tüten für sie tragen. Sie liess es geschehen. Denn sie und Zemin kannten Herrn Mu und Frau Yao nun mittlerweile seit Monaten. Schwanger zu sein war gar nicht so übel, dachte sich Sisi. Die Männer werden dann endlich rücksichtsvoll.
Sie wurde im siebten Monat von ihrer Arbeit freigestellt bei vollem Gehalt. Zemin kam nun täglich früh nach Hause. Frau Yao bot ihre Hilfe an. Sisi lehnte dankend ab. Frau Yao wiederholte ihr Angebot. Wieder sagte Sisi, sie sei so hilflos auch wieder nicht. Nach dem dritten Mal gab sie nach. Frau Yao ließ sich mittags blicken, um für Sisi zu kochen. Sie war eigentlich froh darum, denn Kochen war nicht ihre Stärke.
«In zwei Wochen oder davor», teilte ihr die Gynäkologin im Nanfang-Krankenhaus mit. Ob sie im Nanfang sich entbinden lassen wollte, fragte sie Sisi. «Das muss ich mir überlegen», antwortete sie. In Gedanken aber hatte sie bereits beschlossen, in ein anderes Krankenhaus zu gehen. Erstens befand sich das Volkskrankenhaus viel näher an ihrem Wohnort. Zum Zweiten aber wollte sie nicht im gleichen Ort gebären, wo sie künstlich schwanger gemacht worden war. Denn was würden ihre Eltern daraus schliessen, wenn sie ins teure Nanfang ging? Dass sie seit der Hochzeit dünkelhaft geworden war und das Geld ihres Mannes zum offenen Fenster hinauswarf? Dann gäbe es bohrende Fragen und Nachfragen und vielleicht verplapperte sich eine Krankenschwester im Nanfang.
Und dann ging alles sehr, sehr rasch. Zemins Mutter und Sisis Eltern waren gerade zu Besuch, als die Wehen einsetzten. Sisis Vater war mit dem eigenen Wagen gekommen. Zemin und er luden Sisi ein. Die drei Frauen quetschten sich auf die Sitzbank. Zemin saß neben Sisis Vater. In zehn Minuten erreichten sie das Volkskrankenhaus. Zemin meldete sie bei der Notaufnahme an, während Sisis Vater und die zwei Mütter Sisi zum Kreisssaal brachten.
Um fünf Uhr zweiundvierzig kam ein gesundes Mädchen von dreieinhalb Kilo Gewicht zur Welt. Zemin fühlte sich seltsam erleichtert, aber doch nicht ganz froh. War das, wie man sich als frischgebackener Vater fühlte? Am liebsten hätte er nämlich Sisi im Krankenhaus alleine gelassen. Nur die Gegenwart der Mütter und Sisis Vater hatte ihn daran gehindert, sich nach Hause zu begeben und ordentlich zu schlafen.
Für eine ganze Weile ging alles gut: Sisi bekam sechs Monate Mutterschaftsurlaub. Stets war auch eine der zwei Mütter in der Wohnung des Paars. Zemin schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Niemand fragte, warum eigentlich zwei Betten im Schlafzimmer des Ehepaars standen, ein Doppelbett und ein gewöhnliches. Nun belegte die junge Mutter mit ihrem Kleinkind das Doppelbett, während einer der Grossmütter des Neugeborenen das Bett benutzten, das zuvor Zemin vorbehalten gewesen war. Die Wohnung war bedrückend klein.
Nach dem ersten Monat gab es das erste Geburtsfest der Tochter. Laut einer uralten Sitte wurde der Umstand gefeiert, dass das Kleinkind gesund war. Zemin lud über hundert Verwandte und Bekannte zu einem Schmaus in einem vornehmen Restaurant ein. Jeder Gast übergab dem jungen Paar einen roten Umschlag, in dem Bargeld steckte. Das Essen und mehrere Flaschen Reisschnaps kosteten Zemin siebentausend Yuan, aber er und Sisi bekamen achtzehntausend Yuan von ihren Gästen.
Es gab eine zweite Feier, die am hundertsten Tag nach der Geburt des Mädchens abgehalten wurde. Und wieder erzielten Sisi und Zemin einen Überschuss. Sie gelobten, das Geld auf den Namen ihrer Tochter in ein Bankkonto einzuzahlen. Die vier Grosseltern hatten zusammen bestimmt, wie das Kind heissen sollte: Jianmin. Jian bedeutete «sehen», und «min» klug, glänzend. Ein gut sitzender Name. Auf dem Geburtsschein hiess sie nun Nie Jianmin.
Darüber hätte es beinahe Streit gegeben. Nach Überlieferung hatte das Neugeborene den Familiennamen des Vaters zu bekommen. Sisi fand aber, dass Zemin nicht ganz als Vater der Kleinen in Frage kam, warum, das wisse er ja selber. Zum Glück waren Sisi und Zemin unter sich. Zemin hätte im Grunde nichts dagegen gehabt, wenn Jianmin den Familiennamen Lu tragen würde. Doch da war die Erwartung seiner Eltern und auch Sisis Eltern wären eher überrascht gewesen, wenn Jianmin den Familiennamen von Sisis Vater erhalten würde. Sisi gab nach. Jianmin war trotzdem ihre Tochter.
Ein halbes Jahr nach Jianmins Geburt nahm Sisi wieder ihre Arbeit im Kindergarten auf. Sie erreichte, dass sie Teilzeit arbeiten konnte. Denn Jianmin konnte sie nicht im Kindergarten hüten und gleichzeitig ihre Arbeit ausführen. Sie und Zemin waren Zemins Mutter dankbar, dass sie sich bereit erklärte, Jianmin zu Hause zu hüten, wenn die Mutter der Kleinen arbeitete.
Doch damit war das Pflegebedürfnis für Jianmin noch lange nicht erfüllt. Es galt auch nachts verfügbar zu sein, wenn die Kleine zu weinen oder quengeln anfing. Sie musste auch jeden Tag mehrere Male gebadet werden, auch mitten in der Nacht. Da wurde Zemin doch in seine Vaterrolle gedrängt. Seine Mutter kam tagsüber. Nachts waren er und Sisi alleine für ihr Kind zuständig. Das kostete nun beide Eltern viel Schlaf und sie waren öfter in gereizter Stimmung. Das Einzige, was die Sache etwas leichter machte, war, dass Zemin weiterhin auf der Couch im Wohnzimmer schlief, ob mit Jianmin oder alleine. Eine Nacht war Sisi dran, die nächste Zemin. Dadurch konnte einer von beiden mehr oder minder ungestört durchschlafen. Und Zemin brauchte nicht täglich die Bettlaken des zweiten Betts im Schlafzimmer zu wechseln, nur weil seine Mutter darauf tagsüber ihre Siesta hielt.
Zenmin und Sisi kamen sich näher als sie es je zuvor waren, blieben aber weiterhin platonische Freunde. Niemandem fiel etwas auf. Nach einem Jahr konnte Jianmin auf ihren kurzen Beinen gehen. Sie sprach einzelne Wörter: Ma, Ba, oder auch Mama und Baba. Alle liebten das gesunde und hübsche Mädchen.
Eines Abends kamen beide Grossmütter und Grossväter zu Besuch, und auch noch der Onkel, der den jungen Leuten seine Wohnung vermietete. Die Grossmütter machten sich in der engen Küche zu schaffen. Vier Männer waren mit Sisi und Jianmin im Wohnzimmer: Zemin, der Onkel, Jianmins zwei Grossväter. Zemins Vater und der Onkel machten Fotos.