«Alles Liebe - XXX»
Bild/Illu/Video: Andrys Stienstra

«Alles Liebe - XXX»

«Denk falsch, wenn du magst, aber denk um Gottes Willen für dich selber.» Doris Lessing  


Klingt so einfach, ist es aber nicht! Denn noch weiss ich nicht, ob es richtig war, was ich getan habe. Ich habe heute, am 21. Dezember, auf einem Spazierweg im Wald, einen Brief gefunden. Das Bündel Papier steckte, in Alufolie gewickelt, in der Öffnung eines Baumstrunks. Und man kann fast sagen, dass die Öffnung wie eine klaffende Wunde aussah, jedenfalls sinnbildlich gesehen. Ich habe den Brief zufällig entdeckt. Wäre mein Blick nicht zur glänzenden Alufolie gewandert, die durch den Reif des Winters zusätzlich glitzerte, würde er immer noch ungelesen im Versteck liegen. Um das Kuvert war Alufolie gewickelt, ich nehme an, es war zum Schutz gedacht. Das Papier ist allerdings trotzdem durch die Feuchtigkeit, der es ausgesetzt war, leicht zerknittert. Der Brief ist handschriftlich verfasst worden und gut leserlich. Ich tippe deshalb auf eine Frau, kann es jedoch nicht mit Sicherheit sagen, weil die vermeintliche Verfasserin den Brief lediglich mit drei Kreuzen unterzeichnet hat. Auch fällt kein einziges Mal im Brief ein Name, weder am Anfang noch am Schluss. Zudem steht nirgends ein Datum. Das ist auffällig und definitiv nicht die Regel. Somit erscheint der Brief auf den ersten Blick ziemlich merkwürdig. Wer wickelt schon einen Brief in Alufolie ein und steckt ihn dann in ein Versteck mitten im Wald? Meiner Vermutung nach muss das jemand sein, der weiss, dass der Empfänger für diese Offenbarung nicht bereit ist, oder aber denkt, dass der Absender diesen Brief aus irgendwelchen Gründen nicht abschicken dürfte. Ich bin viel zu romantisch veranlagt, als dass ich das Bekenntnis eines liebenden Menschen einfach ignorieren könnte.


Jedenfalls habe ich diesen Brief gefunden und mit nach Hause genommen. Einen Brief, der eigentlich nicht mir gehört. Die Zeilen haben mich dermassen berührt, dass ich mir beim Lesen auf einmal eingebildet habe, er gehöre mir. Darum habe ich den Brief samt Alufolie in meine Jackentasche gesteckt, ohne gross nachzudenken. Was ist schon richtig und was falsch? Meistens wissen wir das doch erst im Nachhinein! Zuerst müssen wir den Sprung ins kalte Wasser wagen. Erst dann erlangen wir die Gewissheit, dass etwas richtig war oder eben nicht. Das Leben kann manchmal sehr erfrischend sein.

Es gibt zwei Menschen auf diesem Planeten, die genau wissen, worum es in diesem Brief geht. Sie heissen Absender und Empfänger. Und wir, die anderen, verstehen meistens nur Bahnhof. Mit Gott und den Menschen ist es übrigens ganz ähnlich. Wir werden niemals auch nur einen Bruchteil von dem grossen Ganzen verstehen, von dem Mysterium, das sich Gott nennt. Das Leben gleicht manchmal einer Art Labyrinth. Es gibt Situationen, in denen wir das Gefühl haben, dass wir da nie mehr heil herauskommen. Dann aber ist das Leben wieder eine schöne Reise und wenn wir Glück haben, ist es zeitweise sogar ein Abenteuer.


Im Brief ist für mich die Sehnsucht nach etwas Göttlichem, sei es Gott selbst oder ein Mensch, der uns besonders lieb ist, deutlich spürbar. Wie kann ich «diesen einen Menschen da draussen» erreichen? Ich möchte glauben, dass es immer einen Weg gibt, eine Sache fertigzubringen oder eben eine Geschichte zu Ende zu erzählen. Zwar weiss ich noch nicht wie, aber ich werde einen Weg finden, denn hierbei handelt es sich nicht um ein Märchen, sondern es scheint mir eine wahre Begebenheit zwischen zwei Menschen zu sein – Menschen, wie du und ich. Ja, vor der harten Realität flüchten manche ins Gebet, andere verdrängen das Unangenehme. Der Rest sucht seinen Schutz in der Anonymität. Ich möchte an Wunder glauben. Bald ist Weihnachten. Es ist Zeit, wenn nicht jetzt, wann dann?


Heute ist dein Geburtstag. Was für ein kalter und grauer, ja sogar eisiger Dezembertag. Im Tal liegt kein Schnee und es ist weit und breit keine Sonne in Sicht. Dieses Wetter passt ja bestens zu diesem feierlichen Tag - oder besser Feiertag! Entschuldige den Sarkasmus. Du weisst ja, wie ich sein kann… Ich bin wohl eifersüchtig! Eifersüchtig, dass ich diesen Ehrentag nicht an deiner Seite verbringen kann.


Ob du diesen Tag überhaupt feierst? Wie ich dich kenne, eher nicht. Wann haben wir uns eigentlich das letzte Mal gesehen? Erinnerst du dich noch daran? Es kommt mir jedenfalls unendlich lange vor. An unsere ersten Begegnungen hingegen, an die erinnere ich mich noch sehr genau! Sie waren geprägt von sehr kostbaren Momenten. Später hast du es «amour fou» genannt. Dabei war es so viel mehr als das. In diesen Augenblicken standen wir uns leibhaftig gegenüber. Es war mehr Wahrhaftigkeit zu spüren als Leben. Ein starker Sog liess unsere Seelen miteinander tanzen. War es Liebe oder nur menschliches Begehren? Du hast mich jedenfalls in diesem Moment angesehen, als wäre ich der schönste Mensch auf der Welt. Du und ich - für einen Augenblick auf Augenhöhe. Doch wie alles auf dieser Welt, vergeht auch eine wahrhafte Begegnung zwischen zwei Seelen früher oder später.


Die Welt da draussen feiert also heute dein Jubiläum, nur ich sitze hier und schreibe dir diesen Brief. Ich war nie verbittert, aber ich war lange Zeit tief verletzt. Ich kann auch nicht leugnen, dass du mich enttäuscht hast. Unsere Geschichte begann so ehrlich und rein. Wie oft haben wir zusammen gelacht und manchmal habe ich auch geweint. Ich mochte deinen Intellekt, doch deine Verschlossenheit hat mich befremdet, so sehr, wie ich es noch nie bei einem anderen Menschen erlebt habe. Ich war dir so nah und zugleich so fern. Beständigkeit und ein Leben mit dir, das konnte ich mir vorstellen. Im Nachhinein war ich für dich wohl nur ein Sehnsuchtsort.


So schnell wie du in mein Leben kamst, warst du auch wieder fort. Du hast dich plötzlich, und für mich ohne nachvollziehbaren Grund, von mir abgewendet. Auf einmal hattest du keine Zeit mehr. Es schien fast so, als sei ich dir lästig geworden. Ich wurde zu einem Menschen, der nicht weiss, was gut für ihn ist. Du magst deine Gründe gehabt haben, denn du hast mich wochenlang, ja sogar monatelang ignoriert, aber ich verstand nie warum. Was hatte ich dir angetan? Du hast mitangesehen, wie ich mich dann von dir entfernt habe. Mit jedem Tag ein bisschen mehr. Dabei fühlte ich mich von dir verlassen! Ich habe in der Zeit meines grossen Schmerzes nie geweint und dies, obwohl ich mich viele Nächte nach dir gesehnt habe. Wenn die Angst grösser ist als der Mut und das Vertrauen zu fragil, kann eine Beziehung unmöglich wachsen. Das weiss ich heute, damals wusste ich es noch nicht.


Es gab eine Zeit, da kanntest du mich gut, vielleicht besser als ich mich selbst. Du hingegen hast nie viel preisgegeben. Herrscht denn noch immer in deinem Inneren ein Krieg? Mal willst du mich, mal nicht? Ich bin mir sicher, du hast einen Weg gefunden, um alle diese Gedanken fortzuwehen. Was Distanz angeht, bist du ja ein Meister deines Fachs, dabei suchst du nur menschliche Nähe. Hast du auch nur eine kleine Ahnung, was hier und heute abgeht? Du hast dich wohl in dein Schneckenhaus zurückgezogen, das kannst du gut! Was habe ich getan, dass du mich derart bestrafst? Gib mir endlich Antworten, lass mich verstehen! Ich kann dir nicht folgen. Lass mich dich im Licht sehen.


Manches werde ich nie vergessen, egal wie alt ich auch werden mag. Deine Sehnsucht – sie war wie ein offenes Buch, aber auch wie ein Ozean, der mich gänzlich verschluckte. Und wie das Meer halt ist, unberechenbar und auch mal unbarmherzig, so bist du das jetzt für mich. Die Zeit reichte nie aus, um mich länger im Arm zu halten, obwohl du mich so oft und gern umarmt hast. Deine Berührungen und Küsse waren voller Begehren und doch wusste ich nie, worum es dir wirklich geht.


Später kam ich mir dumm und töricht vor. Ich hätte es besser wissen müssen. Erst Jahre später erfuhr ich durch einen komischen Zufall von der Geschichte, die dein Leben schon Jahre zuvor, also bevor wir uns kennenlernten, radikal auf den Kopf gestellt hatte. Ich spürte deinen unsagbaren Schmerz. Er traf mich mit voller Wucht und ich verstand auf einmal, was mir so viele Jahre verborgen geblieben war. Ich begriff endlich, warum du nicht bei mir hattest bleiben können. All die Jahre hatte ich geglaubt, dass du mich nicht wolltest. Und das, obwohl ich in deinen Augen alles andere gesehen hatte als Abneigung oder Hass. Zu erkennen, dass es nicht meine Schuld war, liess mich endlich weinen, um dich und um mich und um alles, was hätte sein können. Ich habe getrauert, als wärst du gestorben und inzwischen glaube ich zu wissen, dass du den liebenden Teil, also dein Herz, vergraben hattest. Mehr als zwanzig Jahre lang habe ich mich unzulänglich gefühlt. Still und leise habe ich gelitten. Der Schmerz wurde wie ein alter Freund, der mich stets begleitete, oder wie ein Mantel, der mich sicher umhüllte. Er schützte nicht vor Kälte, aber er liess mich mehr erkennen, als ich je für möglich gehalten hätte, denn ich sah mit den Augen eines Kindes - absolut unverfälscht und einfach. Das Leben ist vergänglich, die Liebe nicht.

Wir hatten nie einen richtigen Abschied. Mir jedenfalls ist dieser verwehrt geblieben. Dieser Brief soll einer sein. Als ich dich vor wenigen Wochen in einem Zeitungsartikel entdeckte, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Wie gut du ausschaust – du hast jetzt graue Haare! Aber sonst hast du dich kaum verändert. Ich hätte dich überall und sofort erkannt. Ich bin mit dem Finger sanft über dein Foto gefahren, wie gerne hätte ich, in dem Moment, deine Wange gestreichelt. Wie damals… erinnerst du dich noch daran? Zu erkennen, dass ich nicht mehr wütend bin, hat mich zu Stift und Papier greifen lassen. Wahrscheinlich werden wir uns nie wiedersehen, aber ich weiss jetzt, dass unsere Geschichte kein Fehler war, es war nur nicht die richtige Zeit.

Heute ist dein Geburtstag und dieser Brief ist für dich. Ich wünschte, du könntest jetzt sehen, wie Gott Sonnenstrahlen auf mein Gesicht scheinen lässt.

Alles Liebe

XXX


Wie benommen falte ich den Brief, den ich bereits zum vierten Mal hintereinander gelesen habe, wieder zusammen. Ich lege ihn ins Kuvert und wickle Alufolie darum. Damit die Folie besser zusammenhält, benutze ich ein wenig Klebstoff. Ich verstehe nicht alles, aber ich weiss nun, was zu tun ist.


Vier Tage später, es ist Weihnachten, und ich kann es einfach nicht lassen! Ich gehe zum dritten Mal innerhalb weniger Tage in den Wald. Ich möchte zu der Stelle, an der ich den Brief einst fand. Doch bevor ich dort ankomme, begegnet mir ein älterer Herr. Wir grüssen einander freundlich und er wünscht mir frohe Weihnachten. Ich weiss nicht warum, aber etwas an ihm ist mir vertraut. Der Mann ist bereits ein paar Schritte weitergegangen, als ich mich intuitiv nach ihm umdrehe und ein Stückchen Alufolie unter seiner Schuhsohle aufblitzen sehe. Ich muss nicht mehr zum Baumstrunk zurückkehren, weil ich mir jetzt sicher bin, dass ich das Richtige getan habe.


Mehr zur Autorin

Julia Keller, geboren 1976 in Nyon, ist Autorin und Künstlerin. 2020 hat sie ihr erstes Buch «Mein Name ist Julia» veröffentlicht.  Das Buch ist eine ganz neue Art Biografie, die in Form von Gedichten und Bildern ihre Geschichte erzählt. Julia schreibt ausserdem Kolumnen für das Onlinemagazin Qultur. Weitere Informationen findet ihr auf ihrer Webseite.

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