«Verstricktes Weihnachtschaos»
Weihnachtskugeln, umhüllt mit zarter Häkelspitze, schwebten wie Schneebälle unter der Decke. Aus der Playlist dudelte ein Best Of Weihnachtsmusik der letzten dreissig Jahre in Dauerschleife. Jedes Mal übersprang ich dieses nervige «Last Christmas», wobei ich mich wie ein gestrandeter Wal über die Ladentheke beugte. Hoffentlich würden nicht genau in diesem Moment meine Gäste reinschneien!
Es war der letzte Samstag vor dem Weihnachtsfest und ich hatte einen speziellen Workshop vorbereitet: Die Ein-Knäuel-Mütze - schnell zum Ziel. Ich freute mich auf eine nette Damenrunde, die ihre Weihnachtsfeier in meinem Laden ausrichtete. Da die Konkurrenz ebenfalls mit Adventsaktionen lockte, hatte ich mit gemischten Gefühlen zugestimmt, denn die Feste bei meinem alten Arbeitgeber sind immer im Komasaufen geendet. Noch ein Grund, weshalb ich dort weg bin. Die Damen, so hoffte ich jedenfalls, würden sich schon zu benehmen wissen. Und schliesslich hatten wir ein gemeinsames Ziel: Am Ende des Abends sollte Jede ihre selbst gestrickte Mütze tragen!
Die Kekse standen bereit, der Glühwein köchelte auf der Herdplatte und verbreitete sein würziges Aroma.
Viertel vor fünf. Mittlerweile war es dunkel geworden und es schneite einige Schneeflocken, die sofort wieder schmolzen und eine nass-rutschige Spur auf dem Bürgersteig hinterliessen. Typisch Stadt, immer nur Schneepampe.
Summend legte ich Wollknäuel in verschiedenen Farben bereit, jede Dame dürfte sich ihren Favoriten aussuchen. Es gab eine Anleitung und Stricknadeln. Auf einem Flipchart hatte ich die wichtigsten Begriffe und Basics notiert. Für den Crashkurs hatte ich die einfachste Variante gewählt.
Aufgeregt sah ich erneut auf die Uhr. Mein erster Workshop in so großer Runde. Ich betete für einen entspannten, lustigen und kurzweiligen Abend.
Um fünf vor fünf huschte ich ein weiteres Mal in die kleine Küche im hinteren Teil des Ladens und setzte Kaffee auf, atmeten den alkoholischen Dampf des Glühweins ein. Aber hallo!
Ich lauschte auf die altmodische Türglocke. Sie schwieg.
Fünf nach. Der Schnee war endgültig Nieselregen gewichen. Hach ja, Winter in Deutschland war schön. Idyllisch.
Um viertel nach checkte ich Handy und Mails. Nichts. Keine kurzfristige Absage. Ich suchte die Nummer von Beate heraus, die den Kurs gebucht hatte. Toll, nur Festnetz. Ich tippte ihre Nummer ins Handy und probierte es dennoch. Eine fröhliche Stimme verkündete, dass Beate im Garten sei und den Anruf nicht annehmen konnte. Aha, bei zwei Grad.
Zurück am PC durchforstete ich die Mails erneut. Würden die Damen mich prellen? Ohne Absage?
Beim Durchsuchen des Postfachs blieb mein Blick an der alten Lieferbestätigung des Werbeflyers hängen, der Anfang November druckfrisch bei meinen Eltern eingetroffen war, während ich in den letzten Zügen mit der Ladeneröffnung lag. Ein kleines Meisterwerk. Hach ja, der Beginn eines grossen ... ich stockte. Nein. Unmöglich!
Hektisch kramte ich in der Schublade nach einem gedruckten Exemplar. «Ach du Scheisse! Die falsche Adresse!»
Mir wurde heiss und kalt zugleich. Langsam dämmerte mir, dass die Damen sich auf dem Weg zu meinen Eltern befanden. Ich sprang auf und kramte nach meinem Handy, das am Strom hing. Die Playlist hatte aufgegeben, vermutlich hatte sich nervige Werbung dazwischengeschaltet. Ein Hoch auf die modernen Streamingdienste, denen ich mein hart erarbeitetes Geld anvertraute, nur, um dann doch Werbung gucken und hören zu dürfen, wie im Radio und im Free TV. Klasse!
Das Handy war aus. Ich drückte wie wild auf die Knöpfe; Das Batteriezeichen leuchtete einmal auf, ehe das Display schwarz blieb. «Das glaub ich nicht!», fluchte ich und hangelte mich am Kabel entlang. Wackelkontakt? Kabelbruch? Egal, änderte nichts am Ergebnis! Ich schaute zum Festnetz rüber. Ach ja, das wäre erst im Januar freigeschaltet!
Mir blieb nur eines übrig: Ich musste zu meinen Eltern fahren. Hoffentlich wären die Damen dort und hatten es sich in der Kneipe auf der Ecke gemütlich gemacht! Wir könnten den Workshop im Nebenraum veranstalten. Mit dem alten Billardtisch, der den Raum dominierte, war das nicht meine Wunschlokalität, aber besser als sich die Kohle durch die Lappen gehen zu lassen und Kunden zu verärgern. Hastig verstaute ich Wolle und Zubehör in einen grossen Korb, schaltete alle Geräte aus, warf dem Ladekabel einen bitterbösen Blick zu und huschte aus dem Laden.
Mein Auto kroch im Schneckentempo über die überfüllte A 40. Ein entspannter Samstag vor Weihnachten. Besinnlich. Nie wieder werde ich nur den grossen Zeh am Weihnachtssamstag vor die Tür setzen!
Ein Hupkonzert setzte ein, denn die Schneckenparade war zum Stillstand gekommen. Wie in Zeitlupe bildete sich vor mir eine Rettungsgasse. Unfall!
«Ach komm schon, was denn noch alles?» Frustriert schlug ich mit den Händen aufs Lenkrad. Im gleichen Moment entschuldigte ich mich bei meinem kleinen alten Auto und hoffte, das Karma würde nicht zuschlagen, denn eine Panne hätte jetzt gefehlt.
Es dauerte ewig bis erst Polizei, dann Rettungswagen und zuletzt ein Abschlepper vorbeigezogen waren. Um kurz vor Acht hatte ich mich von dem Gedanken verabschiedet, irgendwem heute Abend irgendetwas über rechte und linke Maschen, Ab- oder Zunahmen oder ein ordentliches und gleichmäßiges Maschenbild beizubringen. Mehrere hundert Euro Gewinnverlust, nur wegen eines Druckfehlers. Geld, das ich dringend für die Miete und das Weihnachtsfest benötigte.
Mama hatte recht. Ich hätte ein oder zwei Jahre sparen und warten sollen, bemitleidete ich mich. Tränen des Frustes und der Verzweiflung schossen mir in die Augen. Hastig wischte ich sie weg, auch wenn sie niemand sehen würde.
Gestresst, genervt und am Rande des Nervenzusammenbruchs bog ich in die Straße ein, in der meine Eltern lebten. In der Kneipe auf Eck (ja, die hieß wirklich so!) herrschte buntes Treiben. Lichterketten blinkten wild und aufmerksamkeitsheischend in den Fenstern. Im Vorbeifahren konnte ich keine wildernde Frauengruppe ausmachen. Und bisher wirkte das Lokal noch unbeschadet.
Ich beschloss, bei meinen Eltern in der Einfahrt zu parken und kurz einen Blick in die Kneipe zu werfen. Nur um sicherzugehen.
«Linda!» Meine Mutter hatte mich entdeckt und war an der Tür erschienen, statt wie sonst am Fenster zu hängen. Ich erinnerte mich, dass ich ihr unbedingt noch ein Kissen für ihre Fensterbank zur nachbarschaftlichen Beobachtung schenken wollte.
«Mama! Ich komm gleich vorbei, ja? Aber ich muss noch eben dort vorne ....» Meine Mutter wedelte mit der Hand. «Jetzt komm schon! Deine Freundinnen sind schon da. So eine nette Runde! Es wäre nur schön gewesen, wenn du mir vorher Bescheid gesagt hättest ...»
«Mama», setzte ich an, doch sie redete wie ein Schwall weiter: «Na ja, egal. Ich habe zum Glück diesen herrlichen Zimtkuchen heute gebacken und etwas Berliner Brot. Dieses neue Rezept ist ein absoluter Traum, alles wunderbar gelungen, du musst- ...»
«Mama!»
«Ja?»
«Welche Freundinnen?»
Mittlerweile waren meine Haare vom Nieselregen benetzt, Mama verschränkte die Arme vor der Brust und fröstelte. «Na die mit den Mützen!»
Ich blinzelte. «Mein Kurs?»
«Ja, genau. Wir haben schon angefangen. Du hast mich doch neulich mit dieser schönen Wolle versorgt und ich dachte, bis du da bist könnten wir ja schon einmal den Maschenanfang üben und so weiter. Die sind soooo nett! Huch!» Meine Mutter legte überrascht ihre Arme um mich, als ich sie spontan fest umarmte. «Danke, Mama! Du hast mein Weihnachten gerettet», schluchzte ich.
Gemeinsam strickten wir Mützen bis nach Mitternacht, assen Plätzchen und tranken Glühwein. «Last Christmas» dudelte dreimal, doch dieses Mal störte es mich nicht.
Mehr zur Autorin
Als gebürtige Essenerin ist Sabrina Hüsken, Baujahr 1988, im Herzen des Ruhrgebiets mit Buden, Kniften, Klümpkes, Zechen und dem Baldeneysee aufgewachsen. Bereits im frühen Kindesalter entwickelte sie neben einer unbändigen Reiselust vor allem eine Liebe zum geschriebenen Wort. Mit 17 verfasste sie ihren ersten Roman, welcher den Sonderpreis des Schülerwettbewerbs am Carl-Humann-Gymnasium gewann und in der Lokalpresse Anerkennung fand. Danach schloss sie eine Ausbildung zur Medienkauffrau für Digital- und Printmedien ab und erlernte dort das Verlagswesen. 2019 entdeckte sie ihre Schreibleidenschaft erneut, und studierte an der Fernuniversität Schule des Schreibens. Aktuell arbeitet sie an ihrem Romandebüt und freut sich über die Veröffentlichung einer Kurzgeschichte, die 2021 in einer Anthologie erscheinen wird.