«Wünsch dir was»
Das grelle Sonnenlicht blendete mich. Ich schloss meine Augen, überliess mich meinen Gedanken, die um unzählige Themen kreisten und einfach nicht zur Ruhe kamen. Eigentlich wollte ihr hier ein wenig Ruhe finden, einfach nur in der Wiese auf meinem Rücken liegend den Zug der Wolken über mir am Himmel beobachten. Doch davon war ich nun meilenweit entfernt. Sorgen wollten mich nicht loslassen, Probleme nicht einfach so aus meinem Wahrnehmungshorizont verschwinden wie die fluffig leichten Wölkchen im tiefblauen Azur. Ich seufzte, als ich plötzlich etwas auf meinem Unterarm spürte und meine Augen wieder öffnete. Ein bunter Schmetterling hatte sich auf meinem Arm niedergelassen. Ein eigenartiger Schmetterling. Irgendwie wirkte er mehr wie eine …
«Heute ist dein Glückstag. Ich bin eine Schmetterlingsfee und du hast drei Wünsche frei.»
Überrascht hielt ich inne. Ein sprechender Schmetterling? Wo gab’s denn sowas?
«Ich bin eine Schmetterlingsfee», konstatierte das flatterhafte Wesen nachdrücklich.
Okay, es war später Vormittag und ich war nicht betrunken. Offenbar träumte ich.
«Nein, du träumst nicht. Immer diese Skepsis.»
Vernahm ich etwa einen genervten Unterton in der Stimme dieses seltsamen Wesens?
«Schmetterlingsfee», rief es – oder sie? – mir in Erinnerung, «und du hast noch immer drei Wünsche frei. Also, was darf’s sein?»
Sollte ich mich ernsthaft darauf einlassen? Vielleicht hatte ich einen Sonnenstich und halluzinierte? Oder waren in der Schwammerlsauce doch ein paar lustige Pilze gewesen? Wer weiß? Auf der anderen Seite: Was hatte ich schon zu verlieren? Rundum war niemand. Weit und breit keine Menschenseele. Also war auch nicht zu befürchten, schiefe Blicke zu ernten, sollte jemand mitbekommen, wenn ich mich mit einem «Schmetterling» unterhielt.
«Schmetterlingsfee! Das ist ein Riesenunterschied.»
Echt jetzt? Der Flattermann war wohl etwas pedantisch.
«Erstens bin ich eine Fee und kein Flattermann. Und zweitens bist du ein engstirniger Kleingeist. Glaubst du tatsächlich, dir haben sich bereits alle Geheimnisse des Universums offenbart, du Möchtegern-Allwissende?»
Das sass! Ich konnte spüren, wie sich meine Mundwinkel verzogen und ich meine Augen zusammenkniff. Dieser kleine Frechdachs …
«Schmetterlingsfee!»
«Schon gut», knurrte ich am Ende meiner Gelassenheit angekommen, «du hast gewonnen. Ich will mal so tun, als ob es dich wirklich gäbe. Was willst du von mir?»
Das filigrane Wesen klappte seine bunten Flügel weit auf und tänzelte mit seinen winzigen Füsschen über meinen Unterarm. Wie das kitzelte - ich konnte nur mit Mühe den Reflex unterdrücken, mit meiner anderen Hand …
«Wage es nicht! Ich bin schliesslich hier, um dir drei Wünsche zu erfüllen.»
Also liess ich meinen rechten Arm wieder sinken.
«Schon besser. Also, deinen ersten Wunsch, bitte, ich habe ja nicht ewig Zeit.»
Ein wenig verdutzt über die Dreistigkeit dieses Winzlings rümpfte ich die Nase, um gleich darauf dennoch meine Überlegungen in Richtung «Was wünsche ich mir?» zu lenken. Es gab so vieles, was ich noch nicht hatte und gerne gehabt hätte, doch meine Gedanken drifteten Richtung grösserer Dimensionen, als ich meinen Wunsch zu formulieren begann, der eindeutig die Lösung ALLER Probleme auf diesem Planeten zum Ziel hatte.
«Stopp!» quietschte das sonderbare Wesen auf. «Bevor du noch etwas aussprichst, solltest du die Regeln kennen.»
Regeln?
«Regeln! Deine Wünsche dürfen nicht die Entscheidungsfreiheit des Individuums einschränken.»
Wie bitte?
«Du darfst dir nichts wünschen, was gegen den Willen eines anderen ist.»
Äh, ja? Wünschen wir uns denn nicht alle, dass unser Planet frei von Problemen wie Umweltzerstörung, Kriegen und anderen Katastrophen ist?
«Grundsätzlich ja, ABER …» hakte mein Elfchen …
«Schmetterlingsfee!»
… ein. Du meine Güte, war die Kleine empfindlich. Hätte ich einen Ausdruck in dem winzigen Gesicht erkennen können, es wäre wohl Missbilligung gewesen. Immerhin fuhr sie in ihrer Erklärung fort.
«Grundsätzlich wollen das zwar viele, aber nicht alle. Manchen geht es am Popo vorbei. Aber mehr als das, unterscheiden sich die Vorstellungen, wie es zu erreichen ist. Wie willst du zum Beispiel einen Krieg um eine Region lösen, wenn beide sie für sich beanspruchen? Wer hat Recht? Wer soll verzichten? Beide Seiten werden gute Argumente für ihren Anspruch haben. Sich also das Ende aller Konflikte und Kriege zu wünschen, würde heissen zu entscheiden, wer Recht hat und wer nicht. Aber Recht nach welchen Massstäben?
Mein Kopf begann noch mehr zu schwirren.
«Es ist also nicht so einfach, wie du dir das in deiner Weltretter-Naivität vorstellst.»
Okay, da musste ich wohl zustimmen. Es war nicht SO einfach. Ein anderes Thema: Gesundheit! Da wären sich doch sicherlich alle einige, oder etwa nicht? Nachdem mein Schmetterlingself – Verzeihung: Schmetterlingsfee – in einen heftigen Lachanfall ausbrach, gab es wohl auch hier ein grosses ABER.
«Genau. Schau dich doch mal in der Welt um. Nicht alle Krankheiten müssten sein. Vieles könnte anders laufen, ABER auch hier wirken im Hintergründe Interessen und Entscheidungen, die du mit deinem Wunsch nicht verändern kannst. Und ganz ehrlich: manche Menschen klammern sich regelrecht an ihre Krankheit, als wäre sie selbst ohne diese bedeutungslos. Es ist also sehr kompliziert und definitiv nichts, wofür du einen Wunsch verschwenden solltest, den ich noch dazu nicht erfüllen darf und kann.»
Nun gut. Die Welt konnte ich nicht retten, weder Umweltzerstörung noch Kriege verhindern, nicht mal die Krankheiten heilen. Was blieb dann noch, was es sich zu wünschen lohnte? Die Habgier der Menschen beenden? Wäre gegen den Willen des Individuums. Neid, Eifersucht, Intoleranz, Böswilligkeit … alles individuelle Freiheiten. Schrecklich, aber so war es. Jeder entscheidet selbst über seine Handlungen. Mehr und mehr graute mir vor dem, was ich nicht beeinflussen konnte und akzeptieren musste, obgleich es viel Schaden rund um mich anrichtete.
«Denk nach. Ich habe nicht alle Zeit der Welt. Was möchtest du in diesem Augenblick? Was würde dir guttun?»
Keine Ahnung!
«Sieh dich um.»
Mein Blick löste sich von dem bunten Winzling auf meinem Arm, streifte über die Wiese neben mir. Unzählige bunte Sommerblumen inmitten von kniehohem Gras, das sich an Spitzen bereits strohgelb verfärbte. Leuchtend rote wilde Mohnblumen neben tiefblauen Kornblumen. Strahlend weisse Margeriten und dazwischen viele kleine rosa, gelb und orangefarbene Blüten. Eine sommerliche Brise liess all das sanft vor sich hin wogen, untermalt von einem geheimnisvollen Rauschen, auf dessen Hintergrund sich das vielstimmige Konzert der Grillen und Zikaden entfaltete. Der Wind trug den Hauch des Sommers mit sich, der mich an ein Bukett von würzigem Thymian, sonnengeküsster Erde und Pinienharz erinnert, und den ich tief in mich aufnahm, während ich erneut die Augen schloss.
Die Welt die draussen, jenseits dieser Wiese, sie hatte ihre Probleme, doch ich konnte nicht eines davon lösen, wie sehr ich es mir auch wünschen würde. Irgendwie fühlte ich mich hilflos und unnütz, gleichzeitig war es aber auch irgendwie in Ordnung, weil ich eben nur ein Mensch war, ein kleines Rädchen in einem astronomisch grossen Getriebe. Alles, was ich in diesem Augenblick wollte, war noch ein wenig hier zu verweilen, auf dieser Wiese, in der Ruhe und dem Frieden dieses Sommertages, einfach nur hier sein …
«Das ist ein guter Wunsch. So sei es.»
Überrascht öffnete ich meine Augen wieder. Wenige Sekunden blendete mich die Sonne, als ich blinzelnd die Schmetterlingsfee hochflattern sah – oder es zumindest so zu sehen glaubte. Denn im nächsten Moment senkte ich meinen Blick auf meinen Arm, auf das bunte Tattoo, das manche wohl als Schmetterling erkannt hätte, aber ich wusste um sein Geheimnis, um seine Magie, und schloss lächelnd meine Augen, während ich einfach nur da war, frei von dem Wunsch, das zu verändern, was nicht in meiner Macht stand und woran mein kleiner Schmetterlingself …
«Schmetterlingsfee!»
… mich wieder einmal erinnert hatte, bevor ich allzu tief in trüben Gedanken versinken konnte. Wie war das doch gleich? Wünsch dir was? Ich wünschte mir, noch ein wenig hier zu verweilen – bei mir selbst.
Informationen zur Autorin:
Mein Name ist Lesley B. Strong. Ich bin Autorin, Bloggerin, Lebensphilosophin, unheilbare Romantikerin und Borderlinerin – anders gesagt: der wandelnde Widerspruch. Oder die Auflösung desselbigen – je nach Betrachtungsweise. Jahrzehntelang der emotionalen Achterbahn eines Borderline-Syndroms ausgeliefert, stets auf einem schmalen Grad zwischen Überlastung auf der einen Seite, und Selbstablehnung auf der anderen balancierend, durchlebte ich zahllose persönliche Krisen. Ein glücklicher Zufall im Jahr 2017 öffnete für mich eine Tür, die ich anfangs zaghaft durchschritt, um bald darauf zu erkennen, was ich nie für möglich gehalten hätte. Mit Romantik aus der Krise? Es mag wie ein Märchen klingen – und in gewisser Weise ist es das auch – aber durch die Arbeit an meiner ersten Kurzgeschichte, die letztendlich zur Roman-Trilogie JAN/A werden sollte, fand ich meinen Weg zurück zu Selbstliebe und Lebensfreude – trotz Borderline-Syndrom. Aus dem Schrei der Seele nach Schmerz wurde eine Suche nach tiefen Emotionen, nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Schließlich wurde ich in mir fündig. Zurück in die Umarmung des Lebens - dieses Motto bildet das grundlegende Thema sowohl in meinen Geschichten als auch Blogs. Solange ich zurückdenken kann, wollte ich Schriftstellerin werden, wollte über das Mysterium Leben schreiben, von dem ich anfangs kaum etwas wusste. Im Alter von ungefähr 20 entschied ich, zuerst ein wenig «zu leben», bevor ich darüber erzählen wollte. Nach mittlerweile fünf Jahrzehnten auf vielfältigen Pfaden, nach so manchen Irr- und Umwegen, verarbeite ich in meinen Geschichten all das, was ich an Erfahrungen gesammelt habe, reflektiere zwischenmenschliche Beziehungsdynamiken ebenso wie die nach wie vor für mich faszinierende Fähigkeit des Menschen, sich selbst im Weg zu stehen. Meine Arbeit als Autorin und Bloggerin setzt fort, was ich als Trainerin und Coach für Persönlichkeitsentwicklung begonnen habe: Ein Blick hinter den Spiegel, unter die Oberfläche des Offensichtlich, auf die Botschaft zwischen den Zeilen. Meine Bücher sind wie das Leben: Sie passen nicht nur in eine Schublade oder ein Genre. Ich schreibe Geschichten, um mich selbst zu verstehen – und in denen sich auch andere wiederfinden können, denn letztendlich sind wir Menschen nicht so verschieden, wie manche glauben möchten. Letztendlich streben wir alle nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung – zurück in die Umarmung des Lebens.