«Die Sicht eines Blinden»
Bild/Illu/Video: Sandra Peters

«Die Sicht eines Blinden»

Wie jeden Morgen wachte ich auch an diesem Tag zeitig auf. Um mich herum ist es still. Meine Freundin Stefanie wird wohl schon aufgestanden sein. Ich setze mich an den Bettrand und stelle die Füsse auf den Boden. Die Borsten des Bettvorlegers kitzeln angenehm meine Fusssohlen. Ich stehe auf und laufe nur mit einer Boxer-Shorts bekleidet, ins Bad. Dort stelle ich mich vor das Waschbecken. Um richtig wach zu werden, wasche ich mein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Ich spüre, wie sich alle Muskeln in meinem Gesicht zusammenziehen. Das Handtuch, mit dem ich mein Gesicht abtrockne, fühlt sich angenehm weich an. Ich gehe zurück ins Schlafzimmer und suche nach dem Stuhl, auf dem meine Kleider bereitliegen. Dabei stosse ich unglücklich mit dem Fuss an einen der Bettpfosten. Ich stolpere und kann mich im letzten Moment mit meiner Hand auf der Matratze abstützen. Mir entfährt ein unschöner Fluch. Ich mache einen Schritt zurück und stosse mit meiner Ferse an einen langen, dünnen, geraden Stock. Ein Stuhlbein, fährt es mir durch den Kopf. Ich taste mit der Hand nach hinten und spüre etwas Weiches. Ich nehme das Bündel mit meinen Sportkleidern und lege es auf die Matratze. Nach kurzer Zeit bin ich angezogen und begebe mich auf Socken in die Küche.


«Guten Morgen Schatz», höre ich Stefanies vom Esstisch her herüber. Sie klingt wie das Zwitschern einer Nachtigall an einem besonders schönen Sommertag.

«Hallo Liebling». Von der Stimme angezogen laufe ich zum Esstisch hinüber und spüre schon bald, wie mich zwei sanfte Hände an der Schulter berühren. Stefanie zieht mich zu sich hinüber und gibt mir einen Kuss auf die Lippen.


Ich laufe um den Tisch herum und setze mich ihr gegenüber. Vorsichtig taste ich auf der Tischplatte nach meiner Tasse. Als ich sie endlich finde, nehme ich einen grossen Schluck. Der aromatische Duft des frisch aufgebrühten Kaffees lässt nun auch den letzten Rest an Müdigkeit aus meinem Körper verschwinden.


Nach dem Kaffee schnüre ich meine Laufschuhe. Unsere Hausrunde beginnt praktischerweise nur ein paar Meter vom Wohnblock entfernt, in dem unsere Wohnung ist. Schon bald erreichen wir unser gewohntes Tempo. Ich höre das Rascheln von Kies unter meinen Schuhsolen. Nach einer Regenrinne wird das Geräusch unserer Schritte leiser. Hier beginnt der unbefestigte Teil des Weges. Immer wieder spüre ich grössere und kleinere Baumwurzeln unter meinen Füssen. Meine Freundin ruft von Zeit zu Zeit Kommandos und zeigt mir so etwaige Hindernisse an. In einer Kurve merke ich, wie sich meine Freundin nach rechts von mir entfernt. Das muss die Stelle mit der Sitzbank sein. Ich folge meiner Freundin und setze mich auf das warme, trockene Holz. Von der Seite her höre ich, wie meine Freundin die warme, wohlriechende Frühlingsluft einatmet. Der leichte Wind trägt den Duft von frisch gemähtem Gras zu uns, Er lässt die Blätter eines Busches in der Nähe rascheln. Daraus ist das aufgeregte Zwitschern zweier Vögel zu hören. Plötzlich höre ich zwei Frauenstimmen und im Hintergrund das regelmässige Klicken von Walking‑Stöcken. Zwei Nordic-Walkerinnen, die ihre Morgenrunde drehen und sich angeregt unterhalten. Als sie an uns vorbeikommen grüssen sie freundlich und setzten beim Weitergehen ihre Unterhaltung fort.


«Die Nordic-Talkerinnen sind wieder unterwegs.» sage ich zu meiner Freundin. Wir lachen beide herzlich. Meine Freundin sagt, bis jetzt seien wir sehr gut unterwegs.


«Na dann lass uns dafür sorgen, dass das so bleibt.» erwidere ich und stehe auf. Wir laufen gemütlich an und erreichen schon bald wieder unser gewohntes Tempo. Ich freue mich bereits jetzt auf unsere nächste Joggingrunde.



















Julian Schneuwly ist 1998 in Bern geboren. Seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte er früh. Durch seine Liebe zu guten Büchern kam er auf die Idee, früher oder später sicher einmal selbst einen Krimi zu veröffentlichen. Schneuwyl lebt mit seiner Familie in einem kleinen Dorf im Kanton Freiburg.

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