«Celeste»
Bild/Illu/Video: zVg.

«Celeste»

Einsamkeit ist manchmal die Mutter verwegener Ideen.


Celeste schnitt im Garten drei anmutige Pfingstrosen der Sorte «Sarah Bernhardt» ab und stellte sie in eine altmodische Kristallvase auf die Kommode. Vor über vierzig Jahren hatte sie sich im Park des Pariser Palais Royal in diese Pflanze verliebt.  Der fruchtig-betörende Duft, dieses vielschattige Rosa und schon allein der Name «Sarah Bernhardt» führten einem das Bild dieser extravaganten französischen Schauspielerin der «Belle Epoque» vor Augen. Wie sie in ungewöhnlichen und gewagten Kostümen in der Comédie Française auftrat und im Alter, nach einer schweren Diabeteserkrankung mit nur einem Bein auf der Bühne das Publikum immer noch verzauberte.  Celeste hatte damals Knollen als Erinnerung an diese Studienreise mit nachhause gebracht und in ein eigens dafür vorgesehenes Rondell gepflanzt.


Celeste war trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre immer noch lebhaft und elegant. Das farbenfrohe Kleid stand ihr ausgezeichnet. Sie trug die, zugegeben gefärbten, langen Haare zu einem Zopf geflochten - ihr Haar war immer noch füllig -, und ihre schlanken Fesseln kamen in den dotterblumengelben Sandalen gut zur Geltung. «Eine Frau muss stets flott frisiert sein und hübsche Schuhe tragen», hatte ihre Mutter ihr schon als kleines Mädchen eingeschärft. «Oben und unten bilden dann zusammen einen würdevollen Rahmen.»


Die Einsamkeit ihres Witwendaseins, das nun schon fast zwei Jahre währte und die bereits Monate andauernde Isolation durch die Viruspandemie, liessen Celeste immer mehr in sich selbst abtauchen. Sie lud Freundinnen zu sich ein, doch diese verschoben wegen der Ausgangsbeschränkungen alle geplanten Treffen und so verbrachte Celeste viel mehr Zeit mit sich selbst als ihr lieb war.


Allein zu leben bedeutet für Celeste eine vielversprechende Herausforderung: Als Bibliothekarin im Ruhestand liebte sie es, viel Zeit zum Schmökern zu haben. Auch ungestört Klavier zu spielen und ihren Garten zu pflegen, erfüllten sie mit großer Freude. Aber dennoch verursachte die Dauer dieser aufgebürdeten Isolation, mit der dazugehörigen «sozialen Distanz», wie das derzeit hiess, allmählich ein lang vergessenes Kribbeln.


Das wolkenlose Firmament erfreute Celeste, bedeutete ihr Name ja die Verbundenheit zum Blau des Himmels. Am späten Nachmittag setzte sie sich auf die Bank vor dem Haus und schrieb, wie gewohnt in ihr in rotes Leder gebundenes Tagebuch. Um dem zu lange dauerndem Abgeschieden Sein zu entfliehen, hatte sie einen Schlachtplan entwickelt: jeden Tag drei sinnvolle Dinge auszuführen, Aktivitäten, die es wert waren in ihrem seit Jahrzehnten geführten Diarium erwähnt zu werden. Dazu zählte beispielsweise auf Pergamentpapier Briefe mit der alten Füllfeder zu verfassen und an wertvolle Freunde zu senden, die berühmten «Gymnopedien» von Eric Satie am Klavier einzustudieren und bei virtuellen Yogakurse mitzumachen.


Celeste betrachtete mit Wohlgefallen ihr Zuhause. Wie liebte sie doch ihr kleines Holzhaus mit dem wilden Garten davor! 1930 aus solider Eiche im Landhausstil erbaut, wirkten die über zwei Etagen verteilten Räume heimelig und strahlten eine gesellige Nostalgie aus. Im grossen lichtdurchfluteten Wohnzimmer mit der offenen Küche fühlte sie sich ungemein wohl. Diesen Ort hatte sie vor über vierzig Jahren mit Charles, ihrem Ehemann, zufällig bei einem Spaziergang am See entdeckt. Das Häuschen war Liebe auf den ersten Blick gewesen.  Wie ein Wink des Himmels war ihnen das Schild «ZU VERKAUFEN» erschienen, und sie hatten keine Sekunde gezögert, als sie es zu einem halbwegs vernünftigen Preis erwerben konnten.


Charles und sie hatten eine harmonische Vernunftehe geführt. Sie waren einander erstmals in der Bibliothek, in der sie arbeitete, begegnet. Sie fühlten sich geistig voneinander angezogen, teilten ihre Begeisterung für Musik und Literatur. Die oftmals verstandesbetonte Konversation mündete in tiefer Freundschaft, doch vermisste Celeste physische Leidenschaft. Sie schätzen sich und da beide allein waren, befanden sie das, was sie verband als ideale Grundlage für eine dauerhafte Ehe. Die in ihren geliebten Büchern so wunderbar beschriebene Ekstase, das wilde Herzklopfen und rauschähnliche Zustände spürte sie trotz, oder vielleicht gerade wegen ihres starken Verlangens nie. Doch Glück spriesst aus vielen Wurzeln und gesegnet mit einer gesunden Alltagszufriedenheit, hatten beide den Schritt ins Eheleben nie bereut.


Celeste lustwandelte fast aufgeregt durch ihr Haus und betrachtete dabei liebevoll zwei solide Möbelstücke, die von glücklichen Momenten ihres Lebens zeugten.


Mitten im Raum befand sich George, ein altes Karussellpferd, das sie auf dem Naschmarkt in Wien gesehen und sofort ersteigert hatte. Der ehemals weiß-blaue Anstrich war grossenteils abgeblättert und gab dem Tier ein verschwitztes Aussehen, ganz so als sei das Pferd erst kürzlich von einem wilden Ausritt zurückkehrt. Die Messingstange in seiner Mitte befähigte George, die Beine wie zu einem Sprung angesetzt aussehen zu lassen und seine Schnauze war leicht geöffnet. Wie zu einem siegessicheren Lächeln entblösste er kleine weiße Zähne. Wann immer Charles und sie sich stritten und keine Worte mehr füreinander fanden - so lautete die Vereinbarung -, schrieben sie einander einen kurzen Brief oder auch nur eine Notiz und steckten sie George ins Maul. Der andere entnahm diese, wenn ihm danach war und nach einigem Nachdenken auf beiden Seiten setzten sie sich wieder zusammen und kommunizierten wut- und emotionsentladen miteinander.


Vor der Küche stand Egon. Dieser vor vielen Jahren aus einem dem Abriss preisgegebenen Nobelrestaurant gerettete Servierwagen bewegte sich auf zwei hinteren Holzrädern und zwei kleinen vorderen Stahlrädchen fort. Auf ihm wurden dazumal köstliche Desserts feilgeboten. Celeste erinnerte sich noch gut an ein Abendessen mit österreichischen Freundinnen. Als der Kellner den Wagen heran rollte, rief eine von ihnen: «Schau, schau, da kommt der Egon mit dem Wagerl!» Und so hieß das Ungetüm von da an Egon. An ihren österreichischen Freundinnen hatte Celeste stets das Lachen und die laute Heiterkeit geschätzt, ja sie hatte sie wie eine Umarmung empfunden; und wie schön und befreiend war doch das viele «Herumblödeln» und das sich kindisch aufführen dürfen, auch als Erwachsene. Wie sehr ihr das fehlte, gerade jetzt.


Nach einem köstlichen Rindsfilet und einem Glas Bordeaux schlug Celeste ihr Tagebuch auf und strich es mit dem Handrücken glatt. «Ich spüre was angenehm Prickelndes in mir, sagte sie laut zu sich selbst und blickte das hölzerne Pferd von der Seite an. Mit ihrer Füllfeder schrieb sie in Großbuchstaben «WAS ICH WILL» auf die leere Seite und unterstrich diese drei Worte kräftig. Darunter setzte sie:


Ich will Verehrer.

Ich möchte mich begehrt fühlen.

Ich wünsche mir noch einmal vor Glück zu taumeln.

Dann blickte sie auf ihre schnell hin gekritzelten Sätze und flüsterte: «Wenn das Herz voll ist, geht der Mund über!» und ein verschmitztes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. «Das hat mein Herz geschrieben, nicht ich!»


Doch wie sollte sie diese verwegenen Wünsche zur Erfüllung bringen? «Du benimmst dich unmöglich!», schalt sie sich selbst, um diesen Vernunftblitz gleich wieder mit einem Lachen zu verscheuchen. «Ich lade Alfred ein!», sagte sie. «An ihn muss ich immer wieder denken.» Alfred war Violinist im städtischen Kammerorchester gewesen und seinerzeit oft in die Bibliothek gekommen, um Biografien über Komponisten zu entleihen. Häufig hatten sie sich über verschiedene Genies unterhalten. Ganz besonders schätzen sie beide Tschaikowsky und Paganini. In Alfreds Gegenwart hatte sie immer dieses Lady-Chatterley-Gefühl gespürt. Seine feingliedrigen Hände tauchten in ihrer Erinnerung wieder auf. Sportlich war er gewesen, von athletischer Figur, gar nicht wie ein im Orchesterboden verschwindender Künstler. So viel sie wusste, hatte er niemals geheiratet. Er war so in seine Musik vernarrt gewesen, dass sie in den vielen anregenden Gesprächen niemals auf private Dinge zu reden kamen. Aber einmal, als sie mit der Bibliotheksgruppe nach Paris gefahren war, damals, als sie die «Sarah Bernhardt» entdeckte, da hatten Interessierte aus dem Bibliotheksförderkreis mitreisen dürfen. Und im Park des Palais Royal umarmten sie sich kurz wie Liebende. Wie schade, dass dann eine Kollegin kam und sie ihrem gerade ausbrechenden Gefühlsorkan entriss.


Alfred also. Sie würde ihn einfach im Internet suchen.

Sofort setzte sich Celeste an den Tisch, schenkte sich ein weiteres Glas des herrlichen Rotweins ein und legte, in Nostalgie schwelgend, Edith Piaf auf. Und dann flossen die Worte aus der Feder.

«Lieber Alfred, es ist lange her, aber unsere musischen Begegnungen habe ich niemals vergessen. Unsere Wesensverwandtschaft hat mich stets begeistert. Ich bin inzwischen verwitwet, und heute wage ich zu sagen, was ich schon vor dreissig Jahren dachte: Ich würde dich liebend gerne wiedersehen und zum Mittagessen bei mir einladen. Und davor würde ich dir gerne meine Pfingstrosen zeigen. Erinnerst du dich noch an Paris und an «Sarah Bernhardt»? Ich habe sie im Andenken an unseren Ausflug nach Paris, an dich und unsere Küsse gepflanzt. Komm doch am nächsten Donnerstag an die im Absender vermerkte Adresse, gegen zehn Uhr, wenn du kannst. Oder ruf mich an. Deine aufgeregte Celeste.»


Befriedigt stand Celeste auf und begab sich auf einen abendlichen Rundgang durch ihren Garten. Die letzten Wochen waren für die Jahreszeit ungewöhnlich warm gewesen. Die Natur hatte sich mit einer Shakespeare würdigen Sommernachtstraumkulisse revanchiert: Alles war wie von Zauberhand gewachsen und üppig erblüht. Am Vortag hatte es geregnet und diese Feuchtigkeit brachte den frischen Duft von Gras und Erde mit. Jetzt gerade waren die schweren Regenwolken wie weggepustet, erste blaue Himmelsflecken zeigten sich wieder. Vorboten eines neuen Glücks?


Am folgenden Donnerstag parkte ein alter dunkelblauer Alfa Romeo vor Celestes Gartentor. Zuerst sah sie einen Geigenkasten aus dem Auto ragen. Dann schälte sich der Fahrer des Wagens langsam aus dem niedrigen Gefährt. Ihr Herz begann stürmisch zu klopfen.


Es war 10.05 Uhr, im Radio lief gerade der Wetterbericht: «Die Wolkenfront der letzten Tage löst sich langsam auf, am Nachmittag erwartet uns ein strahlend blauer Himmel.»


























Christa Prameshuber, geboren 1961 in Linz. Nach dem Geografie-Studium (Diplomarbeit über Vaduz) in Innsbruck arbeitete sie über zwanzig Jahre lange in internationalen Firmen und Organisationen in Genf und Paris und lebt nun in Montreux und Zürich. Seit 2015 widmet sie sich dem Schreiben. Ihr neues Buch mit dem Titel «Das mit der Liebe ist alles ein Schwindel» bildet den zweiten Teil einer Frauentrilogie und erscheint im Oktober im Trauner Verlag. Im Mittelpunkt stehen die drei aussergewöhnlichen Grosstanten, die das Mädchen nach dem frühen Tod seiner Mutter grossgezogen haben. Ihnen will sie mit ihren Werken ein Denkmal setzen. Mehr Informationen zur Autorin findet ihr hier!

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