«Der Eiszapfen»
Bild/Illu/Video: Marcus Duff / cascadas

«Der Eiszapfen»

Montag, 6. Januar, irgendwann zu einer Zeit, in der es kalt war und es irgendwo in einem der unzähligen, tiefen Täler Graubündens noch ein bisschen kälter wurde.

 

Pius Cathomas, Kriminalkommissar der Graubündner Kantonspolizei erhielt gegen neun Uhr morgens einen Anruf. Nach wenigen Sätzen knallte er den Hörer zurück auf die Gabel, griff nach seinem braunen, abgetragenen Wintermantel und verlies eilig sein Büro an der Ringstrasse 2 in Chur. Kurz darauf zwängte er sich in seinen alten, roten VW Jetta und knatterte davon. Und wieder einmal rang er mit sich, als es zu quietschten und klappern begann, ein neues Auto zu kaufen. Cathomas fluchte leise vor sich hin, weil er die kalten Wintermonate verabscheute und die Heizung im Auto nur kalte Luft um seine Ohren säuselte. Gestern war er auf einer vereisten Treppenstufe ausgerutscht und dabei mit dem Kopf gegen einen Abfallkübel geknallt. Der Hauswart war danebengestanden und hatte lachend eine Handvoll Streusalz unter seine Schuhsohlen rieseln lassen. Pius Cathomas fuhr sich über seinen Hinterkopf und berührte vorsichtig die noch immer schmerzende Beule. Vorhin hatte sein Arbeitskollege Caspar Tour angerufen und mit schlotternder Stimme erzählt, dass ein alter Bauer mit Namen Maurus Caflisch in Domat/Ems von einem grossen Eiszapfen erschlagen worden sei. Da Tuor von einem tragischen Unfall ausging, freute sich Cathomas bereits wieder auf wärmere Zeiten.


Der marode Euli Hof lag abgelegen vom Dorf, nahes eines Waldrandes. Daneben befand sich ein weiteres grosses, etwas in die Jahre gekommenes Einfamilienhaus. Das Grundstück war umringt von einigen, kahlen Bäumen. Die letzten hundert Meter der Strasse waren völlig vereist und zu allem Übel ging es auf der schmalen Schotterstrasse bergauf. Die Vorderräder des VW Jetta begannen durchzudrehen. Der Motor heulte auf und eine grosse Abgaswolke umhüllte das rote Auto. Erst jetzt nahm Cathomas seinen Fuss vom Gaspedal, stieg aus und stampfte schlecht gelaunt zum Stall hinauf. Vor dem Stall standen zwei Polizeiautos und ein gelber Fiat Panda mit der Aufschrift «die Post». Tour eilte Cathomas entgegen, er war ein grosser, blonder, sportlicher Mann, mit leicht abstehenden Ohren: «Es ist kein schöner Anblick, der Bauer wurde regelrecht aufgespiesst,» schnaufte er und kleine Wolken entwichen bei jedem seiner Worte aus seinem Mund. Cathomas blieb stehen und betrachtete die Umgebung. Die Sonne schien und trotzdem pfiff ein kalter Wind durch das schmale, enge Tal. Er spürte wie die Kälte in seine Glieder fuhr und ärgerte sich, weil er seinen Mantel im Auto liegen gelassen hatte. «Bringen wir das schnell hinter uns, es scheint klar zu sein, dass es ein tragischer Unfall gewesen sein muss.» Tuor bibberte vor Kälte und zog sich seine Wollmütze tiefer ins Gesicht.  

Cathomas strich sich unbeeindruckt über seinen drei Tage Bart und antwortete nachdenklich: «Wir werden sehen, nichts ist schon im vornherein klar.»


Pius betrachtete kurz den Toten und wandte sich ab. «Er ist vom Postboten gegen acht Uhr dreissig gefunden worden. Caflisch muss am Morgen vor dem Stall mit dem Besen gewischt haben, dann brach der Eiszapfen von der Dachrinne ab und erschlug ihn.» Cathomas schwieg und versuchte seine ersten Gedanken zu fassen.


Jeder Tatort hatte seine spezielle Eigenart, jene besondere Geschichte, die ihn im ersten Augenblick etwas erzählte. Er kramte in seinen Hosentaschen und hielt eine kleine silberne Büchse in der Hand.

«Ein Stück Schokolade ist gerade das, was ich jetzt zum Denken brauche. Ist dir nichts aufgefallen Tuor?» Tuor starrte ihn fragend an und sah dann zum Dach hoch.


«Weshalb ist ausgerechnet nur dieser grosse Eiszapfen abgebrochen? Er ist der einzige, oder siehst du noch andere am Boden liegen?» Tuor war es nicht aufgefallen. Cathomas schnäuzte laut in ein Taschentuch.


«Der Postbote kann gehen und bring mir diesen Eiszapfen, ich möchte ihn mal genauer anschauen.» Ein junger Mann von der Spurensicherung hob ein zerbrochenes Stück des Eiszapfens vom Boden auf und hielt es ihm entgegen. Das Eis muss eine beachtliche Grösse gehabt und locker gegen zwei Kilogramm gewogen haben. Pius Cathomas befahl Tuor, nochmals das ganze Anwesen nach Spuren abzusuchen und dann verlies er den Tatort.


Der VW Jetta liess sich nur mühsam auf der engen Strasse wenden und nach etlichen Versuchen gelang es ihm schliesslich auch. Der Leichenwagen fuhr gerade den Weg hoch und ein kreuzen war unmöglich. Pius fluchte und verwarf die Hände hinter dem Steuer. Nun spulte auch der Leichenwachen und verkeilte sich. Cathomas stieg aus und zog seinen Wintermantel an. Die zwei Männer im Leichenwagen waren ebenfalls ausgestiegen. «Es sind nur hundert Meter», rief Cathomas ihnen gelassen entgegen und schritt an den beiden vorbei, die sprachlos stehen geblieben waren. Gib es eigentlich nur Männer, die Tote in Särge legten, fragte er sich dann, als er zu Fuss das Tal verlies.


Zehn Minuten später sass er im Restaurant Adler, sein Handy klingelte. «Cathomas» schrie er genervt. Eine junge Serviertochter stand Kaugummi kauend neben ihm und wartete auf die Bestellung.

« Oo du Sparnivel. Joo Tour i chuma! Aber ez trink i zerscht amol a Kaffi!»


Sein roter Jetta versperrte noch immer die Strasse, der Leichenwagen war in der Zwischenzeit weggefahren. Nun aber standen ein grosser Viehtransporter und ein weiteres Auto davor und dahinter die beiden Polizeiautos. Ein grosser Mann mit dickem Bauch unterhielt sich aufgeregt mit den Polizisten als Cathomas herantrat. «Ist das ihr Wagen», brüllte er, «ich muss die Kühe vom Bauer Caflisch holen.» Cathomas wurde stutzig, «So schnell? Caflisch ist doch erst seit heute Morgen tot.»

«Das ist schon seit langem abgemacht, sein Sohn ist oben im Stall.» Pius drückte einem der Polizisten seinen Autoschlüssel in die Hand und eilte hinauf zum Hof.


Tuor kam gerade aus dem Haus und hielt einen kleinen, durchsichtigen Plastiksack in die Höhe. «Schau mal, was ich im Schnee gefunden habe. Einen toten Spatz!»

«Bist du nicht zu alt für solche Spiele» entgegnete Cathomas irritiert.

«Der Spatz wurde mit einem Luftgewehr abgeschossen!» rief Tour. Cathomas hielt kurz seinen Atem an und wusste sofort, dass sie etwas Wichtiges entdeckt hatten.

«Mit einer Luftgewehrkugel wäre es durchaus möglich, einen Eiszapfen vom Dach zu schiessen» fuhr Tuor erregt weiter.

«Wie weit schiesst ein solches Gewehr, 40 – 50 Meter?» Cathomas suchte nach einem geeigneten Ort; «Von dort oben aus dem Fenster des Nachbarhauses könnte rausgeschossen worden sein!» rief er und zeigte mit dem Finger auf eines der Fenster.


«Tuor, du sprichst mit dem Sohn vom Caflisch und fragst ihn, was er heute Morgen gemacht hat und warum der Viehtransporter bereits da ist. Ich versuche herauszufinden wer im Nachbarhaus wohnt.» Cathomas spürte wie die Anspannung zunahm, welche Rolle würde der tote Vogel in diesem Fall spielen? Er stapfte durch den knietiefen Schnee und blieb vor dem Haus mit den dunklen Fenstern stehen. Die Bäume hinter ihm rauschten im Wind.


An der Haustüre Glocke lass er den Name Fritsche. Cathomas klingelte. Ein etwa 18-jähriger, bleicher Junge öffnete die Türe. «Guten Tag, ich bin von der Bündner Kantonspolizei, mein Name ist Pius Cathomas. Bist du allein zu Hause oder sind deine Eltern auch da? Ich würde gerne mit euch sprechen.»
Der Junge schüttelte den Kopf, «Nein, es ist niemand da. Meinen Eltern sind beim Arbeiten und kommen erst am Abend zurück.»

«Darf ich ins Haus kommen, ich möchte mir gerne etwas ansehen.» Der Junge starrte ihn mit wachsamen Augen an, «Natürlich, kommen sie nur herein.»


Pius schob sich am Jungen vorbei und ging die Treppe hoch. Das Haus war gross und besass viele Zimmer. Der Junge folgte ihm schweigend. Auf dem Dachstock war es staubig, durch das einzige, verschmutzte Fenster im Raum schien die Sonne. Cathomas starrte hinaus auf den Bauernhof vom alten Caflisch. Der Junge stand weiter schweigend neben ihm.

«Caflisch wurde von einem Eiszapfen erschlagen. Haben sie etwas davon mitbekommen?»

«Nein, ich war in meinem Zimmer und habe Musik gehört.»

«Besitzt deine Familie ein Luftgewehr?» Der Junge mit den blauen Augen, von dem er den Namen noch immer nicht wusste, wirkte kalt und unantastbar. «Nein, wir haben kein Luftgewehr, Tammi nomol, wieso auch?» Pius sah ein, dass er so nicht weiterkam. «Gut dann komme ich gegen Abend wieder, wenn deine Eltern zurück sind.»


Der Viehtransporter war vorgefahren und eine Kuh nach der anderen wurde verladen. Wo sein VW Jetta jetzt stand, wusste er nicht. Zu seiner Überraschung sass Tuor im Haus vom alten Caflisch alleine am Küchentisch und kaute verbissen an einem Stück Salsiz herum. «Hast du etwas rausgefunden?» fragte Pius Cathomas spitz. «Sicher! Der Hof ist seit langem verkauft, eine Aussteiger Familie aus Zürich will sich hier niederlassen» Tuor kaute verbissen weiter. «Caflisch selbst wäre in ein Altersheim gekommen. Der Sohn war den ganzen Morgen bei der Arbeit, dafür gibt es Zeugen.» Pius hörte aufmerksam zu, «Wieso musste Caflisch ins Altersheim, so alt war er doch nicht?»

«Ich glaube sein Sohn sagte 66 und er meinte auch sein Vater ertrug das Alleinsein nicht mehr, er habe fantasiert und wirre Geschichten erzählt.»


Cathomas sah zum Fenster hinaus. Eine Kuh bockte und schlug mit den Hinterläufen gegen den Vietransporter. Ein Mann fluchte auf romanisch. «Was waren das für Geschichten?»


«Keine Ahnung, er soll erzählt haben, dass das Telefon in der Nacht immer mal wieder geklingelt habe. Und wenn er den Hörer abnahm drohte ihm eine Stimme mit dem Tod. Auch sollen unbekannte Personen um den Hof herumgeschlichen sein. Der Sohn selbst habe einige Mal hier geschlafen, es sei aber immer alles ruhig gewesen.» Cathomas erhob sich und trat vor die Haustüre, er blickte hinüber zum Nachbarhaus. Zwischen den beiden Häusern standen grosse Bäume und für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, jemand habe ihn aus dem obersten Fenster angestarrt. «Dein Jetta steht vorne beim Restaurant Adler.», bemerkte Tour währendem er seine Jacke anzog. Es war dämmrig geworden und die kleine Siedlung am Waldrand wirkte jetzt noch verlassener und dunkler.


Kurz nach sieben Uhr abends rief er bei der Familie Fritsche an, doch es ging niemand ans Telefon. In der Nacht schlief Cathomas unruhig und er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Als sein Natel neben ihm auf dem Nachttischchen klingelte, schreckte er auf. Seine Frau war aufgewacht und starrte ihn mit verschlafenen Augen an. Leise flüsterte eine Frauenstimme «Herr Cathomas, sie müssen nach Domat/Ems kommen, Kevin Fritsche ist verschwunden!» und legte auf.

Der VW Jetta von Pius sprang nicht an, auch der Tritt an die Stossstange nützte nichts. Im untersten Stock des Mehrfamilienhauses ging ein Licht an, die schrullige Frau Aebi spähte hinter einem Vorhang hervor. «Sapperlott! Als ob ich Sie nicht gesehen hätte.», zischte Cathomas. Tuor stoppte seinen BMW kurz darauf neben dem Jetta und wenige Minuten später hielten sie vor dem Euli Hof. Beide Häuser lagen im Dunkeln: «Merkwürdig, ich dachte ein Junge wird vermisst», stellte Tuor erstaunt fest. Cathomas klopfte einige Male heftig an die Haustüre der Familie Fritsche. Von drinnen waren Schritte zu hören. Die Türe ging einen Spalt weit auf und eine Frau mit blonden, struppigen Haaren schrie ihn wütend an: «Was wollen sie?» Cathomas hielt der Frau seinen Polizei-Ausweis unter die Nase und entgegnete verärgert: «Ich wurde angerufen und mir wurde mitgeteilt, dass Kevin Fritsche verschwunden sei!»
«Wir wissen von nichts, bei uns sind alle im Bett, auf Wiedersehen.», fauchte Frau Fritsche und knallte die Türe wieder zu. Tuor und Cathomas verstanden nicht, was da vor sich ging. «Hast du geträumt!», maulte Tuor.


«Sappermost! Keine Ahnung, ich weiss nur, dass ich angerufen wurde und die Frauenstimme sagte, Kevin Fritsche sei verschwunden. Soll ich nun die Türe eintreten und mit gezogener Waffe in das Haus stürmen?» Pius vergrub seine Hände in der Jacke und blieb kurz vor dem BMW stehen. Dann stieg er ein und sie fuhren weg. Als sie ausser Sichtweite des Hofes waren, befahl Cathomas sofort zu halten: «Neben dem Haus vom Caflisch steht ein Auto mit offener Heckklappe!»


Leise schlichen sie durch den Wald zurück zum Hof. Die Tannen rauschten im Wind, Wolkenfetzen bedeckten den Mond. Tuor öffnete die Haustüre vom alten Caflisch, sie war nicht verschlossen. Pius ging voraus und betrat vorsichtig mit eingeschalteter Taschenlampe das Haus, aus der Stube war das ticken einer Uhr zu hören. Tuor zeigte zur Kellertüre, sie war nur angelehnt. Langsam folgten sie einer Steintreppenstufe nach unten und drangen immer tiefer in das Kellerloch hinein. Nur der Lichtstrahl bahnte sich suchend einen Weg durch die Dunkelheit. Irgendwo waren Stimmen zu hören, Cathomas zog seine Waffe. Tour blieb vor einer Kellertüre stehen und Cathomas trat mit voller Wucht dagegen. Beide schrien: «Polizei, alle auf den Boden legen!» und starrten in fünf erschreckte Gesichter, die in einem Kreis auf dem Boden um mehrere brennende Kerzen sassen. Fritsche erhob sich und rief mit erhobener Faust: «Viva Camüsa!» Wütend packte Cathomas den Burschen am Arm und riss ihn zu Boden.


Später in der Nacht sollte sich dann das Rätsel lösen. Die Burschen hatten sich der militanten Camüsa Bewegung angeschlossen, für die, die weltweite Globalisierung eine Bedrohung für die Menschheit darstellte. Ebenfalls wurden Sprengstoff und diverse Molotowcocktails sichergestellt. Kevin Fritsche sagte noch in der gleichen Nacht aus, er habe den alten Caflisch nur erschrecken wollen. Mit den Telefondrohungen versuchten sie ihn vom Keller fernzuhalten. An einem weiteren Treffen habe er dann doch ihr Versteck herausgefunden und mit der Polizei gedroht. Am nächsten Tag sei ihm dann der Einfall mit dem Luftgewehr gekommen, mit dem er hie und da aus Langeweile auf Vögel geschossen habe. Cathomas hörte mit zunehmender Besorgnis zu und fragte sich, wie viele militante Gruppen es noch in Graubünden gab und wie weit sie von einer Katastrophe entfernt waren. Solange sie sich jedoch bei einer Verfolgung eines Kriminellen an die Geschwindigkeitsvorschrift zu halten hatten, bestand für den Kanton kaum Gefahr. «Von der Zentrale hat dir heute Nacht übrigens niemand angerufen.», stellte Tour später fest. «Sapperlot, ich weiss, es war die Mutter, sie hat ihren Sohn verraten, aus Angst will sie aber unerkannt blieben.» Cathomas klopfte Tour auf die Schulter, zog sich den Mantel an und verlies das Büro.  

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