«Die Früchte seiner Frau»
Als ich ein Knabe war, da lebte ich in einem Dorf, in dem die Apfelbäume keine Früchte mehr trugen. Irgendwann war auch der letzte ertraglose Apfelbaum gefällt worden. Äpfel kannten wir nur aus Geschichten und vergessenen Kuchenrezepten verstorbener Großmütter, die nicht beschreiben konnten, wie Äpfel schmeckten. Unsere Äpfel waren erzählte Früchte.
Nur ein einziger Baum, der durfte nicht gefällt werden. Der gehörte dem Alten:
Einem schweigsamen Mann im Dorf war die junge Frau nach langem Siechen qualvoll gestorben. Er begrub sie nach alter Sitte vor dem gemeinsamen Haus, nachdem er drei Nächte lang Totenwache gehalten hatte. Es bedurfte keiner Zeremonie, die die freudvollen Tage der Vergangenheit hätte verdrängen können. Er begrub sie allein zum ersten Vollmond des neuen Jahres. Ebenso lang lag die gefällte Leiche des letzten fruchtlosen Apfelbaumes in geheimer Drohung vor dem dunkel gewordenen Haus des Mannes.
Im Licht des Klagemondes riss dieser in einsamer Wut die letzten grünen Zweige des tot geglaubten Baumes aus dessen geschundener Krone und stieß sie in den Erdhügel, der die Überreste seiner Frau verbarg, ohne je ein Grab zu sein. Sein furchiges Gesicht war von Vollmondlicht unwirklich erhellt, seine Hände waren tief in Erde eingegraben, als er in der Dunkelheit kniend in sich zusammensackte. So fand man ihn auch am nächsten Morgen, jäh gealtert, vor einem trotzig stehenden Zweiglein sitzend, den Blick in einer anderen Welt.
Der Alte hatte seinen Baum gepflanzt.
Der Anblick des Alten grub sich uns ein, denn er kehrte von nun an jeden Morgen wieder, immer sah man ihn vor seinem Zweiglein kauernd. Die Leute im Dorf zeigten sich besorgt, stellten ihre Bemühungen um den seltsam gewordenen Mann jedoch achselzuckend ein, noch bevor ein Trauerjahr verstrichen war.
Vor langer Zeit, als meine Grossmutter ein junges Mädchen war, erzählte man ihr vor dem hoffnungsvollen Hintergrund der Apfelblütenknospen, dass die Holzapfelblüte des Dorfes den Frühling einläuten würde, aber niemals wieder sah sie eine Blüte.
So erschien uns der Dorffrühling lokal betäubt, nicht länger ortsansässig. Doch noch immer stand der Apfelbaumzweig des Alten: umgeben von Schwarz, grünte er einem unerwarteten fernen Frühling entgegen.
Die Frauen meinten, man solle den toten Stock nur aus der Erde ziehen und der Alte würde sich in seiner Trauer schon wieder beruhigen. Als Junge stand ich wie angewurzelt auf dem Grab, das kein Kreuz trug, und sah das zweifelhafte Zweiglein treiben in einer Zeit, in der es noch nach Winterkälte roch. Auch in den folgenden Jahren widerstand der Apfelbaumzweig dem Kältetod und es war, als würde der Trauernde jeden Morgen im Stillen allein zu ihm beten. Zusammengenommen betete ein ganzes Dorf. Jeder für sich wollten wir den Geschichten unserer Kindheit widersprechen.
Der Zweig dankte es und gedieh fast stolz inmitten eines Dorfes, in dem man seinesgleichen ausgerottet hatte. Je älter ich wurde, desto bekannter wurde das einsame Zweiglein, das nun ein Bäumchen war.
Wie die Jahre vergingen, bemerkte ich vor allem daran, wie das Bäumchen zum viel bestaunten letzten Apfelbaum des Dorfes gedieh. Noch immer sah man den Schatten des Alten morgens vor dem Baum auf schwarzer Erde stehen, die liebevoll den Tod zudeckte.
Mit jedem Jahreswechsel hoffte das Dorf insgeheim auf eine erste Blüte seines einzigen Apfelbaumes. Die Frauen wussten es besser: Der Baum hätte bereits im vorangegangenen Jahr blühen müssen. Auch ich bemerkte den Alten, wie er die wenigen Zweige mit Knospenansatz vorsichtig herunterschnitt und eilig mit ihnen im Haus verschwand. Eine Apfelblüte bekamen wir nicht zu Gesicht.
Er war allein mit sich und einem Einweckglas voller knospender Zweige. Der Blick des Alten glitt behutsam, die Scheu eines ortsfremden Kindes in den tränenden Augen, über die Haut eines Apfelbaumzweiges, der sich bereits sachte nach unten hin verholzte.
Die Sonne war untergegangen, orangerotes Restlicht hatte sich der Einsamkeit des Hauses schleichend bemächtigt. Der Kopf des Alten war schwer vor Erinnerung. Die Zweige rochen nach besiegtem Winter. Doch, so meinte er, kein Winter im Dorf war weiß, kein Frühling grün, kein Apfelbaum durfte blühen. Sein geräuschvolles Seufzen versank in einer gerade noch weissen Apfelknospe, deren oberflächliches Rosa einen köstlichen Inhalt erahnen liess. Er dachte nach, aber kein Gedanke wollte verweilen. Stattdessen ungefragt und ungeladen – Bilder und entfernte Gerüche. Erinnerte Sinnlichkeit streifte memorierte Fruchtkörper und wohlig warme Sonne auf zu früh gealterter Männerhaut. Er wehrte sich gegen die Bilderflut und sank unter Zwang zurück in die ungeöffnete Blüte.
Oft beobachtete ich, wie die Dorfkinder in der Nähe des Baumes spielten. Auch ihre Grossmütter hatten ihnen die Geschichten erzählt, so dass ihnen ein lebendiger Apfelbaum wie eine Gestalt aus Sagen und Märchen vorkam, als er still vor sich hin wachsend in ihrer Wirklichkeit wurzelte.
Wieder erschien der Alte mit der Astschere und bereitete den treibenden Kinderphantasien ein jähes Ende. Ohne auch nur einmal aufzuschauen, umging er die Trauermienen der erwartungsvollen Kinder und brachte einen dicken Bund knospender Zweige in sein Haus. Kahl und verletzt wirkte der Baum, denn auch diese Apfelblüte wurde nicht geteilt.
Der auf den Holzdielen jäh zurückgeschobene Stuhl gab einen knarzenden Laut von sich, als sich der Alte erst bei Sonnenuntergang vom Tisch erhob, um nach dem einfachen Wasserglas zu sehen, in das er die Zweige Stunden zuvor gestellt hatte:
Fünf schneeweiße Blütenblätter heuchelten Jungfräulichkeit und erschienen triumphierend kichernd unter dem trüb gewordenen Blick des alten Mannes. Zartes Blattgrün umfing einen Blütenstand von drei Knospen, von denen eine bereits eine Blüte sein wollte. Er wusste, dass im Inneren eines jeden Apfels ein Stern saß. Der Kosmos der Frucht war bereits im Blühvorgang angelegt. Das ängstigte ihn, bedachte man, wie im weit entfernten Dunkel Sterne einsam leuchteten. Versunken starrte er aus dem Fenster in die sternlose Nacht eines sonderbar gewordenen Dorfes.
Die Tage zogen an ihm vorüber, während all seine Sinne in den kostbaren Besitz des Apfelblütenstraußes eingebunden waren. Dieser war zum lebendigen Zentrum des karg möblierten Hauses geworden, welches keinen Besuch kannte oder auch nur dulden wollte. Das Sonnenlicht schien spärlich durch die ungeputzten Fenster und bildete langgezogene Kegel, in deren Mitte glitzernd der Staub tanzte. Verwegen mühte sich die Apfelzweigblüte in den inzwischen jährlich eintretenden frühen Tod. Mit jeder gefallenen Blüte rückte die Angst eines großen Welkens näher an den Alten heran. Derart vertraut, streifte sie seinen Nacken, legte kameradschaftlich den verräterischen Arm um seine Schultern, küsste eisig seine sture Stirn, kam so nah, dass er fühlen konnte, dass der Frühling niemals mehr zu ihm durchdringen würde. Die Apfelblüten gehörten ihm allein.
Als ich in einem unbestimmten Winter nach langem Reisen als gestandener Mann in mein Heimatdorf zurückkehrte, war der Alte nicht mehr. Man hatte ihn vor Jahren unter dem letzten Apfelbaum des Dorfes neben seiner Frau beerdigt, wonach dieser sein Blühen ganz ausgesetzt hatte. Mir war, als müssten die Apfelblüten Geschichten und Legende bleiben, und doch trugen mich meine Beine wie von selbst an die Wohnstätte des Alten, die nun ein Baum war und kein Grab.
Im grauen Baumschatten stand ich allein, als sich mein überraschter Gesichtssinn in den Himmel erhob und sich mein Blick in ein vorsichtig knospendes Zweiglein verliebte.
Julia Kulewatz wurde in Ludwigsfelde bei Berlin geboren und wuchs abwechselnd in Berlin und Erfurt auf. Sie studierte Literaturwissenschaft, Philosophie, Modezeichnen und Choreographie in Erfurt und Seoul. Sie schreibt Kurzgeschichten, literarische Miniaturen und Gedichte. Zudem arbeitet sie an ihrer Dissertation über «Textual Spaces» und literarische Räume, die sie am Collagen-Werk Herta Müllers bespricht. Nach «Vom lustvollen Seufzer des Sudankäfers» ist «Jenseits BlassBlau» ihr zweiter Kurzgeschichtenband. Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Science-Fiction-Roman «Dysfunctional Woman» und ihrem dritten Kurzgeschichtenband, «Bastardisierung». Die Autorin gibt Seminare zum Thema «Kreatives Schreiben» unter anderem an der Universität und an der Volkshochschule Erfurt.