«Farbrausch mit allen Sinnen»
Bild/Illu/Video: Sandra Peters

«Farbrausch mit allen Sinnen»

Entspannt hocke ich am Strand und geniesse die Einsamkeit. Im beruhigenden Klang der Wellen treibe ich dahin.

Der Himmel färbt sich im Osten violett. Ein langsam aufsteigender rot glühender Ball vertreibt die Nacht, taucht das Meer in wundervolle Farben: unterschiedliche Töne von Rot, Orange, Blau. Dieser Anblick stimmt mich melancholisch, dennoch fange ich ihn bewusst ein.

Mein Mann kommt barfuss den Strand herauf und ruft: «Guten Morgen, Chris! Wieso hast du mich nicht geweckt?»

«Ich liebe die Ruhe und wollte die Farben trinken. Ausserdem siehst du süß aus, wenn du schläfst!»


Den Wunsch respektierend, nimmt er die Ausrede mit einem Lächeln hin. «Was für ein prächtiges Schauspiel ein gewöhnlicher Sonnenaufgang doch sein kann! Du hast meinen Blick dafür geschärft», lenkt er ein und setzt sich neben mich.


«Wusste das vorher auch nie richtig zu schätzen!» Ich lehne in seinem Arm und unterdrücke aufsteigende Panik. Die Erkenntnis, wie weit ich den Kopf drehen muss, um Mike in die Augen zu sehen, versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Dann fängt mich der liebevolle Blick auf, sorgt vom Herzen her für Wärme. Ohne meinen Partner wäre ich verzweifelt; aufrecht und Trost spendend agiert er wie eine Eiche im Sturm. Wenn ich morgens die Augen öffne und am eingeschränkten Gesichtsfeld zu zerbrechen drohe, hält er mich.


Das Glaukom schlich unbemerkt wie ein Taschendieb heran. Als es diagnostiziert wurde, war der Sehnerv bereits irreparabel geschädigt. Der Arzt meinte, ich müsse mit völliger Erblindung rechnen. Ich konnte mir kein Leben ohne Farben vorstellen, gefangen von der Dunkelheit, und wurde in einen finsteren Höllenschlund geworfen.


«Lass mich die Welt mit deinen Augen sehen!», fordert Mike oft. Dann beschreibe ich den Farbrausch der Umgebung, all die Nuancen von Leben in meiner eigenen Sprache. Als Malerin nehme ich Farben anders wahr, erkläre, welche Grundtöne zum Mischen nötig sind, wie die Rinde des Baumes plastisch wird, das Gras saftiger wirkt und wie sich Wolken in den Himmel stupfen lassen. Mike saugt all das auf und probiert es dann aus. Tatsächlich besitzt er einen scharfen Blick fürs Detail, malt sorgsam, wo ich mit schnellen Pinselstrichen skizziere. Ich weiß nicht, ob er aus Liebe zu mir mit dem Malen begann, oder er durch mich die Liebe zu Leinwand und Farben entdeckte. Oft stehe ich mit geschlossenen Lidern hinter ihm und lausche. Stelle mir vor, wie er die Pasten mischt, den Pinsel schwingt, schwelge in den vertrauten Düften.


«Wenn es so weit ist, werden meine Augen deine sein!» Wie immer spürt Mike meine Stimmung und versucht, mich zu trösten.


Dankbar blicke ich ihn an. Die Sonne hat sein Haar ausgeblichen; weissblonde Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Automatisch streiche ich sie zur Seite und bemerke erneut, wie spät die eigene Hand auftaucht, wie wenig vom Sehfeld noch übrig ist. Doch durch den winzigen Einschnitt sehe ich fokussierter: zahllose Lachfältchen, sinnliche Lippen. Ich möchte Mike küssen, halte mich aber zurück und banne stattdessen seinen Anblick auf meinen inneren Malgrund. Jede Einzelheit will ich festhalten, werde gleichzeitig an unsere erste Begegnung erinnert.


Nach der Diagnose konnte ich nicht arbeiten, hockte teilnahmslos da. Tage später wurde ich vom Verlangen getrieben, Keilrahmen mit Farben zu malträtieren, nur um ihre Töne aufzusaugen; kleckste, strich, weinte, malte.


«Das ist fantastisch!», erklang es hinter mir.

Erschrocken fuhr ich herum. Im Türrahmen meines Ateliers lehnte ein stocksteif wirkender Kerl in Anzug und Binder, grinste unverbindlich, ohne das Bild aus den Augen zu lassen.

«Entschuldigen Sie, hier ist geschlossen. Kommen Sie bitte ein anderes Mal wieder!»


«Verkaufen Sie mir das Bild!» Die Stimme klang sanft, aber bestimmt.

Verwundert schaute ich das entstandene Werk an, hatte vom Malprozess kaum etwas mitbekommen. Die Farben waren aus mir herausgeflossen. Malen ist mein Leben! Ich zögerte, denn die Erkenntnis traf peitschenscharf: Das war mein Leben!


Das Bild verschwamm hinter Tränenschleiern. «Nehmen Sie es, ich schenke es Ihnen!», murmelte ich, denn der Anblick wurde unerträglich. Dieser leuchtende Farbrausch aus Blau, Violett, Orange, Rot und Gelb passte nicht zu meiner tiefschwarzen Stimmung.


Nach kurzem Schwanken nahm der Fremde das feuchte Ölgemälde und schaute fragend zu mir. Seine Augen erinnerten mich ans Meer, an den bevorstehenden Verlust. Um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, kehrte ich dem Besucher eilig den Rücken. Die Dielen knarzten beim Hinausgehen und das Türschloss klackte entschieden.

Erleichtert wollte ich abschliessen, als zaghaftes Klopfen ertönte. Ich rang mit mir, wollte eigentlich allein sein. Beim vorsichtigen Lugen durch den Türspalt gewahrte ich den Fremden, der entschuldigend auf das Bild deutete. Verwischt zogen orangerote und gelbe Schlieren ihre feurige Bahn ins Meer. Doch mich fesselten die Farben auf seiner Wange: Dort zeichnete sich klar der Sonnenaufgang des Gemäldes ab.


«Entschuldigen Sie, könnten Sie mir bitte helfen? Ich bin ein solcher Tollpatsch!» Dabei grinste Mike verlegen und fuhr sich durchs Haar. Er sah derart hilflos aus, angemalt wie zum Karneval: ein scharfer Kontrast zum Rest der seriösen Erscheinung … Ich versuchte, das Lachen zu unterdrücken, doch es bahnte sich erbarmungslos seinen Weg. Tiefdröhnend fiel Mike ein. Dieser Laut kitzelte angenehm im Magen. Mein Herz stolperte, schlug dann umso heftiger. «Das kriegen wir schon wieder hin!»


Heute erinnert uns das Bild an diesen schicksalhaften Moment. Ich habe es so gelassen – es verbindet uns.


«Du denkst an unsere erste Begegnung!», katapultiert Mike mich zurück in die Gegenwart. «Genau die Farben dieses Sonnenaufgangs hast du damals gemalt. Irgendetwas haben sie in mir ausgelöst, eine unerklärliche Sehnsucht. – Das mit der Farbe im Gesicht war kein Versehen.»


«Dafür bin ich dir unendlich dankbar», flüstere ich.

Seine Augen nehmen das Blau des Ozeans auf, strahlen voller Liebe. Mein Geliebter sinkt mit mir in den Sand und küsst mich sanft, zuerst auf den Mund, dann auf die Lider. Automatisch schließe ich jene und lasse mich von den Gefühlen tragen.


«Der Himmel ist wundervoll blau mit ein paar Kumuluswolken: Phthaloblau mit Weiß aufgehellt. Wenige Pinselstupfer für die Wolkenberge. Am Horizont steigt die Sonne auf: eine aufgehellte Scheibe Indischgelb. Etwas davon ziehe ich ins Himmelblau …» Er beschreibt die Umgebung, als male er sie.


Vor dem Dunkel der geschlossenen Augen entsteht nach und nach ein farbenfrohes Bild. Ich sehe die Welt, wie Mike sie sieht und hoffe, mein Gedächtnis kann alles bewahren. Es ist ein Segen, die Schönheit selbst erblicken zu dürfen. Wenn ich ganz von seinen Eindrücken abhängig bin, können Erinnerungen diese auffüllen.


Die Aussicht lässt mich zögern und dichter heranrücken; der vertraute Duft beruhigt. Selbst wenn die Dunkelheit den Blick irgendwann vollständig ausfüllt, erhellt Mikes Licht meine Seele. Ich glaube daran, dass wir das Gemälde unseres Lebens gemeinsam malen.



























Sabine Reifenstahl lebt in Mecklenburg. Beruflich mit Zahlen und Fakten beschäftigt, lässt sie n der Freizeit in die Welt der Sagen und Legenden entführen. Bücher sind seit jeher ihre Leidenschaft, selbst Geschichten erzählen die logische Konsequenz.


Die Autorin entführt den Leser in fremde Welten, zeigt mythische Länder oder menschliche Grenzbereiche. Dabei wirbt sie für Toleranz.

Viele ihrer Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Anthologien veröffentlicht, ihr Romandebüt erscheint voraussichtlich 2020, für ein weiteres Herzprojekt, ihren Fantasy-Roman mit mythologischen Anklängen wurde ebenfalls ein Vertrag geschlossen. Weitere Projekte, längere wie kurze, sind in Vorbereitung. Mehr unter: www.sabinereifenstahl.de und bei Facebook.

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