«American Gothic» - Protokoll einer Bildbetrachtung
Das Bild heisst «American Gothic» und könnte als Paradebeispiel für einen längeren Essay über «Die Ambiguität in der Kunst» dienen, es ist voll von Anspielungen, Unklarheiten und Doppeldeutigkeiten, von Versatzstücken, Symbolen und Projektionen, deren Rätselhaftigkeit von Grant Wood selbst immer gepflegt worden war, da er auf Fragen zu dem Bild nie klar und eindeutig antworten wollte.
Bei mir als Anglist klingeln bei dem Namen mindestens zwei grosse Kirchenglocken: «Gothic» natürlich als Baustil und «gothic» als Begriff für ein literarischen Genre in der Zeit zwischen circa 1756 und 1822 in England, grob von der Veröffentlichung von Horace Walpoles Castle of Otranto bis zu Jane Austens Northanger Abbey. «American Gothic» war ebenfalls ein Thema in der internationalen literaturwissenschaftlichen Diskussion am Ende des 19. Jahrhunderts, über die Frage, ob es überhaupt möglich war, in den ehemaligen Kolonien so etwas wie gotische Themen, also den Horror und den Terror der Seele, ohne die Versatzstücke wie gotische Schlösser, Kathedralen und Ruinen schreiben zu können, in denen dann sich von lüsternen Adligen verfolgt glaubende Damen serienweise in Ohnmacht fallen würden. Für mich haben Edgar Allen Poe und Nathaniel Hawthorne zweifellos bewiesen, dass dies auch in dem amerikanischen Kontext der Neuen Welt eindringlich möglich war, denn – wie Hawthorne in einem Blackwood-Artikel schrieb: «Terror is of the soul.»
Den Baustil finden wir in der Fensterform des Hauses im Hintergrund wieder, ein Beispiel des sogenannten «Carpenter Gothic»-Stils aus den 30er Jahren in den USA. Aber darüber hinaus ist «gotisch» als Stil visuell nicht mehr vertreten. Aber als Inhaltsebenen eventuell doch: Sieht man die Gotik als Weiterentwicklung des romanischen Baustils, aus der dunklen, verzweifelten Gedrungenheit der romanischen Architektur zur sich in die Weite und in die Höhe aufschwingenden menschlichen Leistung, in der Emanzipation des Menschen vom Buckeln zum aufrechten Gang in der Kirche, vom prädestinierten Schäfchen zum wertvollen Individuum, dann spiegelt sich dies in dem Pioniergeist, in dieser Aufbruchsstimmung in der ländlichen Gesellschaft um 1930, aber eben auch schon weit früher nach der Ankunft der Pilgerväter aus Plymouth im September 2020 vor genau 400 Jahren.
Die Strenge der Gesichter, die Klarheit der an Edward Hopper erinnernden Farben des Himmels und des Hauses vermitteln eindeutig die Botschaft: Wir sind nicht hier zum Spass, wir sind auf dieser Welt, um unser manifestes Schicksal umzusetzen und zu beweisen, dass wir zum auserwählten Volk gehören. Und wir können das nur beweisen, wenn man uns lässt. Soziale Absicherungen, Krankenversicherungen, Arbeitslosengeld nehmen uns die Möglichkeit, uns vor Gott zu beweisen, weil unser Erfolg im Leben dann nicht mehr an uns liegt, sondern uns abgenommen wurde. Wenn soziale Netze Krisen abfedern, ist mir persönlich die Möglichkeit genommen, Gott zu beweisen, dass ich es wert bin, von ihm auserwählt zu werden. Konkurse, Bankrotte, Misserfolge gehören zum Wachstum, gehören zu einem Leben des Strebens und Durchhaltens: dass man mal hinfällt ist nicht das Problem, das Wieder-Aufstehen ist das Zentrale. Und wenn am Ende der Erfolg fehlt, dann habe ich mich persönlich eben nicht genug bemüht. «Am Ende ist alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.»
Die Heugabel ist daher das Zepter des landwirtschaftlichen Pioniers, der zusammen mit seiner Frau (oder seiner Tochter oder seiner unverheirateten Schwester?) vor seinem vernünftigen, schmucklosen Haus posiert, das wie die puritanischen Kirchen nicht von der Konzentration auf den Glauben, auf das Jenseits ablenken soll. Auch wenn in diesem Fall dies eher von einem sehr engen Blickwinkel und grossem Wunschdenken geleitet ist, denn die Kleidung der Menschen im amerikanischen Hinterland war zu der Zeit eher bunt wie die äusserlichen Dekorationen ihrer Häuser auch. Der Blick des Mannes ist klar und konzentriert, die Frau auf der linken Seite blickt nach rechts aus dem Bild heraus, dem Beobachter nicht in die Augen, aus Höflichkeit oder aus der Notwendigkeit, anderes als den Beobachter im Auge zu behalten. Sie blickt aus dem Bild heraus, aber ihre Augen sind nicht gesenkt. Beider Lippen sind schmal, die Stirnen gefurcht.
Es ist für mich nicht überraschend, dass dieses Bild, das in Chicago 1930 fast nicht zu seiner ersten Ausstellung zugelassen werden sollte, eine solche amerikanische Ikone geworden ist. Einerseits zeigt es den «Schöpfungsmythos» der US-amerikanischen Gesellschaft, die Abkehr von der politischen Abhängigkeit von Grossbritannien, die Weiterführung der religiösen Tradition der puritanischen «manifest destiny» und die Erschaffung von etwas Geeintem aus dem Gemisch von Völkern, das die Grundlage der heutigen USA ausmacht (e pluribus unum). Auch wenn realistischer Weise die USA heute weniger ein «melting pot» sind, wie man oft hört, sondern eher eine «salad bowl»: eine wirkliche Vermischung, ein Verschmelzen findet nicht mehr statt. Eine Gurke in einem Salat bleibt auch in der Schüssel eine Gurke.
Andererseits vermittelt das Bild in seiner Gesamtheit einen Eindruck von tiefem Ernst, fast von calvinistischer Lebensfeindlichkeit und Strenge. Das Leben ist ein Jammertal, wir müssen schaffen, um ihm einen Sinn zu geben: Wir leben, um zu arbeiten. Fühlen wir Schweizer*innen uns davon nicht immer noch irgendwie angezogen?