«Nighthawks» - Protokoll einer Bildbetrachtung
Ein Ort, an dem Nachtschwärmer einkehren können, ohne von sozialen Interaktionen aus ihrer fast zen-haften Konzentration gerissen zu werden. Karl Kraus hat über die Gäste eines Wiener Caféhauses geschrieben: «Hier trifft man Menschen, die gern allein sind, und dazu Gesellschaft brauchen.» Eine Plüsch-Isolation mit wienerischem Schmäh findet man hier natürlich vergebens, trotzdem ist dies ein Ort, der willkommen heisst – Social Distancing, nicht weil man muss, sondern weil man will, ein Raum voll Klarheit, Transparenz, geordnet wie ein japanischer Steingarten. Die traditionelle Rezeption des Bildes, nachdem Hopper es 1942 beendet hatte, widerspricht diesem Ansatz jedoch vehement, und – ich gestehe es – auch noch recht einhellig.
Es ist das Jahr nach Pearl Habor und dem Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg, eine Zeit der Verunsicherung, des Pessimismus, der Vereinsamung und der Leere. Und Hopper hat tatsächlich auch einmal geschrieben: «unconsciously, probably, I was painting the loneliness of a large city». Die Figuren in dem Café sind dann auch überwiegend isoliert, der Bartender hinter der Theke spricht zwar mit den beiden Gästen auf der hinteren Seite, ob sie ein Paar sind, ist jedoch nicht zu entscheiden, vielleicht berührt die linke Hand der Frau die Hand des Mannes neben ihr – eher unwahrscheinlich, die Zigarette in seiner Hand scheint dem zu widersprechen. Auch wenn einige Teile des Bildes bzw. der Einrichtung des Cafés paarweise vorhanden sind (zwei silberne Kaffeemaschinen, zwei Salzstreuer), bildet dies nur bedingt einen Kontrast zu dem einzelnen Mann mit dem Rücken zum Betrachter. Beide männlichen Gäste tragen Anzug und Hut, die Frau ein rotes Kleid zu ihren roten Haaren. Alle sind formell gekleidet, respektabel, beherrscht und aus der Distanz eines Betrachters von ausserhalb des Cafés nicht verzweifelt, nicht isoliert, sondern allein.
«The woman in red» ist farblich das Zentrum des Bildes, auch wenn sie von der Positionierung her sich am rechten Rand eines der beiden «Goldenen Schnitte» des Bildes befindet: Von rechts her bildet der Aussenrand des Cafés das eine Ende und von links her das Ende des äusseren, hinteren Fensters das andere Ende des Zweidrittel-Schnitts. Die drei Gäste des Cafés befinden sich alle im gemeinsamen Bereich beider Schnitte, nur der Bartender bleibt ausserhalb. Die Frau trägt rot zu roten Haaren: selbstbewusst scheint sie auf die Hand des Mannes neben ihr zu deuten oder sie sogar zu berühren. Die Tradition der Frauen in Rot mit auch noch roten Haaren ist offensichtlich und so platt, dass Hopper sie sicherlich nur mit leichter Ironie in sein Bild hat einfliessen lassen. Aber «einsam, unterwürfig, schüchtern» sind keine Adjektive, die sie beschreiben würden.
Das Licht aus dem Café strahlt über den eigentlichen Cafébereich hinweg auf die Strasse, auf die andere Strassenseite und erleuchtet noch den unteren Teil der Hausfassade. Das gelbe Licht innerhalb wird zu einem grünen und blauen Licht, das sich warm wie ein Halo um die Glasscheiben und über das Trottoir schmiegt. Der Eingang ins Café liegt ausserhalb der Betrachterperspektive, was die Transparenz, die Sichtbarkeit der Szene im Café verstärkt, aber gleichzeitig auch die Distanz, die Trennung des Betrachters von den Personen innen vergrössert. Der Betrachter ist aussen vor, hat keinen sichtbaren Zugang zum lichterfüllten Inneren: isoliert von den isolierten Figuren? In vielen von Hoppers Bildern (zum Beispiel «Cape Cod Morning») blicken die zentralen Personen aus dem Zimmer, aus dem Haus, aus dem Bild heraus, erwartungsvoll, nachdenklich, in Ruhe: ganz im Moment, ganz Zen, ganz präsent. In Nighthawks blicken die Figuren nach innen, ins Zentrum, nicht weniger ruhig und präsent.
Für mich ist eine Einsamkeit der Stadt keine notwendige Einsamkeit der Menschen, keine leidvolle Erfahrung der Isolation, sondern ein Allein-Sein, das Mut und stille Grösse erfordert.
Das Bild war übrigens nicht in der – aktuell geschlossenen – Edward Hopper-Ausstellung der Fondation Beyeler enthalten. Es hätte sicherlich die anderen Exponate überstrahlt, aber die gezeigten Bilder lohnten auch so einen Besuch jederzeit. Ab 17. Mai 2020 gibt es übrigens Goya …