Auch der zweite Schlaf der Vernunft gebiert Monstren …
Und die Erwartungen waren verständlich, denn die Trilogie über Cicero war ein Born der Informationen über die Zeit Roms zwischen 80 und 40 vor unserer Zeitrechnung, und Pompeji ist ein mitreissender Thriller in der Zeit kurz vor dem Vulkanausbruch 79 n. Chr., in dem es um Verschwörungen, Betrug und Mord geht.
Eine Hauptfigur ist Christopher Fairfax, ein junger, unerfahrener Geistlicher, der den Auftrag erhält, einen verstorbenen Kollegen in einem entlegenen Teil des Landes zu beerdigen und dann unverzüglich zu seinem Bischof zurückzukehren. Natürlich begegnet ihm allerlei Mysteriöses und Häretisches, in das er sich aber ohne grosse Gegenwehr hineinziehen lässt, und er macht sich für seine Herkunft, Ausbildung und lebenslange Indoktrination überraschend dynamisch und ohne den geringsten moralischen und theologischen Zweifel an die Aufklärung der Umstände des Todes des vorherigen Pfarrers und seiner Verbindung zu einer Organisation, die sich mit der Sammlung von Informationen über die Zivilisation vor der Apokalypse mit dem Ziel beschäftigt, eine Wiederholung solch eines Unterganges zu verhindern. Dass ihn dies auch ohne Verhandlung direkt auf dem Scheiterhaufen bringen könnte, belastet ihn ebenfalls nicht sonderlich. Und wenn dann sich die attraktive Lady Sarah Durston ohne Vorwarnung in ihn verliebt und eines Nachts ohne sein Zutun in sein Bett schlüpft, Zölibat zum Trotz, versteht sich das fast schon von selbst. Es sei die Spekulation erlaubt, dass diese naive Weltoffenheit bereits in seinem Namen angedeutet scheint, das englische Suffix «fax» ist oft eine anglisierte Version des französischen «face», also Gesicht oder Aussenwand, «Fairfax» wäre demnach ein etwas milchgesichtiger Zeitgenosse, ein auch in der heutigen Kirche nicht unumstrittener Christophorus.
Der sich durch den Roman hindurch sehr moral-plastisch zeigende Geistliche, der ohne Probleme seine Grundhaltungen zu Religion, Moral und Sex ändert, ist das eine grosse Manko der Geschichte, das zweite und viel Eindrücklichere ist das Ende, die Auflösung, hervorgerufen durch einen deus-ex-machina, der buchstäblich vom Bühnenhimmel fällt. Die letzten Seiten des Textes haben zumindest bei mir den Eindruck hinterlassen, dass der Abgabetermin des Manuskriptes direkt bevorstand und der Autor nur noch 30 Minuten Zeit hatte, die Geschichte zu beenden oder der Verlag hatte den Umfang des Buches auf 327 Seiten strikt limitiert. Das Ende wirkt unvorbereitet, unpassend und, wie gesagt, überhastet.
Dieser etwas saloppen Beschreibung zum Trotz ist alles jedoch extrem spannend und fesselnd geschrieben, ein echter «page-turner», mit der von Harris gewohnten Fülle an historischen Informationen, die die Leser*innen fast live in ein wenn auch wenig farbenfrohes, sondern eher düster und klaustrophobisch-beklemmendes zukünftiges, aber gleichzeitig auch vergangenes Mittelalter versetzten.
Der Topos der Entsendung der Hauptperson ist bei Harris nicht neu, im bereits erwähnten Roman Pompeji wird der junge Baumeister Attilius nach Misenum geschickt, einer kleinen Stadt in der Nähe von Pompeji, um den verschwundenen Vorgänger zu ersetzen und den Aquädukt zu reparieren. Auch er wird in politische Verwicklungen, Intrigen und Betrügereien hineingezogen und behauptet sich für einen jungen Baumeister überraschend gut. Alternative Realitäten, also geschichtliche Entwicklungen, die an einem entscheidenden Punkt in der Vergangenheit abweichend von der wirklichen Geschichte verlaufen, sind ebenfalls für Harris ein reiches Betätigungsfeld: Im Roman Fatherland, seinem Debütroman von 1992, hat das Dritte Reich den Weltkrieg gewonnen und die Geschichte ab 1942 eine andere Richtung eingeschlagen.
Sicherlich positioniert sich der Roman in einem Spannungsverhältnis zu anderen literarischen Dystopien der Vergangenheit, zu allererst zu Margret Atwoods The Handmaid’s Tale aus dem Jahre 1987 und ihrem 30 Jahre später veröffentlichtem Abschlusswerk The Testaments von 2019, beides brilliante Erzählungen aus einem fiktiven Staat Gilead im Nordosten Nordamerikas mit einem von Männern dominierten Staatssystem und von Frauen, die sich dem grösstenteils willig unterordnen. In der Auflösung im zweiten Band erscheint zwar auch die Feder von einem Übermass an Hoffnung geführt worden zu sein, dies ist aber sehr viel psychologisch glaubwürdiger und erzähltechnisch überzeugender gelungen als bei Harris. Die von Atwood in Gilead positionierten Werte und Normen lassen sich leider schon als fast prophetisch bezeichnen, wenn man sich die gelebte Realität in den USA seit Trump genauer ansieht.
(Übrigens, warum Margret Atwood noch nie den Nobelpreis für Literatur gewonnen hat, zum Beispiel anstatt William Golding 1983, der mit Lord of the Flies einen ebenfalls in einer alternativen Welt nach einem Atomkrieg spielenden, beachtenswerten Roman veröffentlich hat, daneben aber, mit Verlaub, eher Zweitklassiges, ist diesem Rezensenten völlig unerklärlich.)
Dass sich trotz allem ein grosses Staunen bei mir nach der Lektüre des Romans Second Sleep von Robert Harris ergeben hat, liegt an dem Titel des Romans. Die modern-industrielle Idee, dass Schlaf eine effiziente Tätigkeit sein muss, die dazu beiträgt, unsere Erwerbstätigkeitsfähigkeit aufrecht zu erhalten und zu fördern, dass man sich ins Bett legen muss, um intensiv, konzentriert und effizient 8 Stunden durchgehend zu schlafen, alles andere wäre bedrohlich, gesundheitsschädigend und existenzbedrohlich, wird als Schimäre entlarvt. In vorindustriellen Zeiten ohne elektrisches Licht hatte die Nacht und damit der Schlaf eine andere Bedeutung und Rolle als heute. Harris bezieht sich ausdrücklich in einem Zitat zu Beginn des Buches auf den Text von A. Roger Ekirch, At Day’s Close: A History of Nighttime aus dem Jahre 2005. Dort untersucht Ekirch im Kapitel 12 die vorherrschende Schlafstruktur in der Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhundert und findet, dass der nächtliche Schlaf standardmässig aus dem ersten und dem zweiten Schlaf bestand, beide ungefähr gleichlang, 4 Stunden, zwischen denen eine Phase der klaren und bewussten Wachheit lag, in der man ass, las, arbeitete, sich dem Sex hingab oder sich mit den Menschen im gleichen Bett unterhielt. Er unternimmt den vorsichtigen Versuch, dies auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit herzuleiten, aus dem Wissen, dass wir nie auf unserem Weg zum Homo sapiens die Chance hatten, sicher und ungestört die Nacht durchzuschlafen, meistens aufgrund von Gefahren, Hunger oder Geräuschen. Der unterbrochene Schlaf scheint daher zum Menschsein dazu zu gehören.
Dieses Wissen hat zumindest meine Nachtruhe nach und trotz der Lektüre von Harris’ Second Sleep zu einer weitaus weniger leistungsorientierten, auf unbedingte Erholung ausgerichteten, viel entspannteren Tagesphase werden lassen.
Robert Harris, Der zweite Schlaf, München: Heyne, 2019
Die Rezension basiert auf der englischen Fassung, Robert Harris, Second Sleep, London: Penguin, 2019