Von Okapis, Flammender Versuchung und Rosenkohlaufläufen ...
Bild/Illu/Video: zVg.

Von Okapis, Flammender Versuchung und Rosenkohlaufläufen ...

In Selmas Haus gibt es Bereiche des Fussbodens, die so dünn(häutig) sind, dass man sie besser nicht betreten sollte und die deshalb mit rotem Klebeband markiert worden sind. Nur der buddhistische Mönch Frederik schafft es, ohne einzubrechen auf dieser Lebensraumexklave zu stehen, aber buddhistische Mönche scheinen ja sowieso einen leichteren Fussabdruck in der Welt zu haben als andere Menschen.


Aber von Anfang an. Wir sind in einem kleinen Dorf im deutschen Westerwald, das allerdings auch auf Lummerland liegen könnte, wenn nicht der kalt pfeifende Wind Bedingung wäre. Die drei Teile des Romans werden von Luise erzählt, die als Hauptfigur und als personale Erzählerin fungiert, was nicht immer ohne Brüche funktioniert. Es stirbt eine Person pro Teil und immer ist ein Okapi schuld. Nein, natürlich nicht, aber Selma, die Grossmutter Luises, hat neben der Fähigkeit zu leckeren Rosenkohlaufläufen die zweifelhafte Gabe, immer durch einen Traum über ein Okapi den Tod einer nahestehenden Person anzukündigen. Und in diesem kleinen Dorf im Westerwald sind eigentlich alle Einwohner nahestehend. Daher ist die Spannung, wen es denn nun in Teil 1 treffen wird, im ganzen Dorf zu spüren und zu sehen: die Besuche bei der Dorf-Kräuterfrau nehmen exponentiell zu, auch wenn ihre Rezepte bei libidinösem Unterdruck eher zu wirken scheinen als bei Tod.


Luise verliebt sich in Frederik, Frederik noch nicht in Luise (er ist ja buddhistischer Mönch irgendwo in Japan), der Optiker liebt die Selma, Luises Mutter den Eisladenbesitzer Alberto, den Erfinder der Eiskreationen Heimliche Liebe und Flammende Versuchung (drei Kugeln gemischt), und ihr Vater die grosse, weite Welt. Also, alles wie schon tausendmal gehabt. Was den Text von Mariana Leky jedoch ausmacht ist das Verbinden und Aufheben von Gegensätzen in der Sprache und in der Welt. Im Roman treffen wir auf die märchenhafte Welt einer harmonischen Dorfgemeinschaft mit Optiker, Eiscafébesitzer, Einzelhändler, die keine Namen haben, nur Funktionen und soziale Stellungen, wie in den traditionellen Märchen die Bäcker, die Müller, die Pfarrer. Selma träumt von einem Okapi, jemand stirbt. Luise sagt die Unwahrheit, etwas fällt zu Boden. Aber der Text im Buch greift Raum in der (vielleicht nur minimal weniger fiktiven) Welt um das Buch herum. Der Text über die roten Begrenzungslinien in Selmas Haus tritt aus dem Text heraus und usurpiert den Buchum­schlag, das ganze fassbare Buch wird zum Bereich, den Leser*innen nicht betreten sollten, wollten sie nicht Gefahr laufen einzubrechen, in Bereiche unter der Oberfläche zu stürzen.


Der Optiker hat das Talent, spielerisch die unwahrscheinlichsten Gegensätze in einer Geschichte zu vereinen, wie Tod und Liebe oder, prosaischer, Pfandflaschen und Tannen­bäume und Mathe und Kalbsleber. Und wie so oft in diesem Buch sind die äusseren Handlungen der Charaktere die Antworten auf ihre innersten Fragen.


Durch Frederiks Erscheinen beginnt der Optiker, sich mit dem Buddhismus zu beschäftigen und findet schnell die ihn vollkommen in Beschlag nehmende These: «Wenn wir etwas anschauen, kann es aus unserer Sicht verschwinden, aber wenn wir nicht versuchen, es zu sehen, kann dieses etwas nicht verschwinden.» Und damit verbinden sich wieder zwei unerwartete Bereiche: der Kosmos eines vermeintlichen «Wohlfühlbuchs» auf der einen Seite mit dem buddhistischen Konzept der Verbundenheit allen Seins auf der anderen. Der Seher, der Gesehene und das Sehen, der Leser, die Geschichte und das Buch sind ohne einander nicht denkbar. Erst wenn wir etwas isoliert betrachten wollen, geht’s mit den Problemen los. Zum Glück hat auch der Optiker, der das ganze Buch lang anderen den Durchblick verschafft, am Ende eine Epiphanie. Wir lernen: Durch Benennen erschaffen wir Differenzen und Differenzen sind verdächtig nahe bei Wertungen.


Der Text ist märchenhaft, kitschig, aber auch verspielt und überraschend und weise. Es passiert eigentlich nichts, Luise verlässt am Ende (wahrscheinlich) endlich ihr Dorf, Luises Mutter hat endlich den Vater verlassen, der sie schon lange verlassen hatte und drei Charaktere im Dorf sind gestorben. Also, es passiert nicht viel im Text, aber im Lesenden passiert dafür umso mehr. Es bleibt ein warmes Gefühl in der Bauchgegend mit einer Ahnung, wie das Leben in einer sozialen Gemeinschaft sein könnte, wenn die Menschen sich einfach gegenseitig sein liessen, die soziale Kontrolle einstellten, nach aussen wie nach innen, und aufhörten, sich als anders zu fühlen.


Denn es gibt kein «Anderes». Wenn wir etwas sehen, dann unterscheiden wir, zwischen uns und anderen Menschen oder sogar zwischen uns und einem Buch. Und vielleicht sind auch wir manchmal märchenhaft, kitschig, aber auch verspielt und überraschend und weise. Und wenn wir in ein Buch, und im Buch in den Boden unter unseren Füssen einbrechen: Wer kann dann garantieren, dass wir nicht in uns selbst eingebrochen sind?


Mariana Leky - Was man von hier aus sehen kann, Köln: DuMont, 2017

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