«Zurück in die Zukunft – mit dem Trottinett»
Pipe steht mit einem Bein auf der Pedale, das andere bleibt fest mit der Scholle verhaftet. «Nights in white satin, never reaching the end»: Der Sound der Moody Blues vom Hof vermischt sich mit einem an- und abschwellenden Brumm, Brumm, Brumm. Der pensionierte Knecht schraubt an Lenkrad und Tourenzahl. Brumm, brumm! Das neue Motorrad hat er gegen seine erste AHV-Rente eingetauscht. Und die Heugabel in Tigergabeln umgetauscht. Brumm, brumm, brumm! Ein halbes Jahrhundert Knechtschaft und Genügsamkeit liegen hinter ihm. Nun taucht er ein in die Geheimnisse von Lamellenkupplung und Keilriemen. Er träumt von endlosen Weiten: «Nächte in weissem Satin, ohne je das Ende zu erreichen», säuselt es aus dem Zimmer der Bauerntochter. Pipe hebt den Kopf seitlich in die Höhe, als suchte er im wolkenlosen Himmel das Startkommando. Dann braust er mit der neuen Batavia los – pfeifengerade auf der krummen Landstrasse. Nach hundert Metern verschlingt ihn und sein Motorrad ein gelbes Weizenfeld.
Den Film «Die kleinen Fluchten» hat der Fernsehapparat in Zimmer 212 schon verschluckt. Auf dem gewölbten Glas bleibt ein dunkles, mattes Grau zurück. Geblieben ist einzig das Lächeln auf den Gesichtern von Maria und Rosa. Es gilt den schrill-bunten Abenteuern Pipes, mit denen er den einst grauen Alltag abgelöst hatte. Aber per Helikopter das Matterhorn umrunden und sich Motorrad-Medaillen von Dorfschönheiten um den Hals legen lassen? Rosa und Maria leben im Pflegeheim. Seit einigen Jahren brummt, oder besser gesagt, knarrt es auch bei ihnen, aber das hat weder mit einem Motorrad noch mit einer ausgelassenen Feier am Dorffest zu tun. Sondern mit den Knochen und Gelenken der achtzigjährigen Frauen. Mit Rosas fortgeschrittener Osteoporose und Marias Abhängigkeit vom Rollstuhl. Auch Rosas Anflüge von Trauer und Marias Eigensinn machen nicht vor dem Zimmer halt. Sie teilen sich eine All-inclusive-Pension, inklusive «Mödeli» und Ticks. Zu ihnen gehört Marias lebenslanger Stolz, nach überstandener Kinderlähmung auf eigenen Beinen zu stehen. Wie schwer nur fiel es ihr, ihre Selbständigkeit vor der Nummer 212 abzugeben! Verständlich, dass sie nun etwas harsch Pipes Abenteuer abtut: «Wir sind doch aus dem Alter heraus.»
Rosa teilt diese Nüchternheit: «Schauen wir lieber dem Altern vorurteilslos entgegen.» Mit ihrer Leselupe hilft sie nach, fährt behutsam über Marias Gesicht. Da verteilen sich grosse und kleine, lange und feine, zarte und grobe Falten. Wie ein Blatt, das Äste, feinste Zweige und Fasern im Lichtschein hervortreten lässt. Rosa klingt versöhnlich: «Weisst du. Falten sind nicht nur Flecken der Zeit. Sie sind auch ein Zeichen, dass wir uns entfalten.» Maria hebt skeptisch die Augenlider, ihre Falten vermehren sich auf der Stirn: «Weisst du, alle wollen alt werden, aber wer will schon alt sein und dazu noch alt aussehen?» Rosa verstummt. Ihr Blick geht zum Fenster, bis sie meint: «Vielleicht sollten wir uns doch ein paar Träume bewahren? Ich erinnere mich nur allzu gern an das Nachbarhaus meiner Kindheit. Wie oft starrte ich an diese Hauswand! Dort stand ein Trottinett. Ein Fahrgestell, das Rostflecken hatte. Aber es hatte fantastisch dicke Gummiräder und ein rotes Fahrgestell. Ich wollte nichts anderes, als auf dieses geriffelte Trittbrett zu steigen.»
«Und?», fragt Maria, die Hände erwartungsvoll im Schoss gefaltet.
Ein frischer Luftzug drängt sich zwischen die beiden. Komisch, das Fenster ist geschlossen, so dass der Schwall der Stimmen nicht vom Park heraufdringen kann. Rosa öffnet den Mund und setzt ihren Traum fort: «Ich fasse mich und steige auf das bodennahe Trittbrett.
Um nicht zu kippen, umklammere ich die Lenkstangen mit festem Griff. Das Gummiprofil prickelt an meinen Handflächen. Erst wippe ich versuchshalber auf dem gerillten Fahrbrett herum und hafte mit einem Bein jeweils versetzt am Boden. Dann stosse ich mit dem Fuss ab!» Marias Handflächen werden feucht: Ihr ist, als hörte sie hinter Rosa ein leises Rauschen und Brummen von Propellern, wie sie beim Start eines Flugzeugs ertönen.
Rosas Blick wird glasig. Allen Ernstes behauptet sie, in eine Zeitmaschine eingestiegen zu sein, die sie zu einem sonderbaren Hotel geführt hat. Ihre Stimme klingt anders; so, als hielte sie ein Papier vor den Mund, während sie staunend erzählt: «Zimmermädchen schütteln und falten Betten, klopfen mit erstaunlicher Leidenschaft auf Kissen. Auch beim Schrubben der Bäder schwingen sie Hüften und Beine. Derweil blicken sie auf ein Bild mit Fitnessgeräten. Auf mein Wie und Warum ihres Tuns erwidern sie: «Weil wir mit der Vorstellung, Fitness zu machen, jeden Monat ein Kilogramm abnehmen.» Mein Kopfschütteln beantworten sie mit dem Hinweis auf eine Vergleichsgruppe. Diese verrichte die gleiche Arbeit, ohne auf Fitnessbilder zu blicken – mit dem Unterschied, kein Gramm Gewicht zu verlieren. Mein Trottinett erhält daraufhin einen kräftigen Tritt, als ob es mir die Frage beantworten könnte: Können Gedanken wirklich Berge versetzen?»
Währenddessen fällt Maria eine Reportage über einen Sportcoach ein, der einfache Rituale anbot. Vor einem Länderspiel empfahl er seinen Spielern, nachts im Bett eine Hand aufs Herz zu legen und sich vorzustellen, welch grossartige Arbeit dieses Organ leiste. Vor schwierigen Aufgaben riet er, fünf Kaffeebohnen in die linke Hosentasche zu legen. Nach jeder Lösung sollte eine Bohne auf die andere Seite wechseln. Wer abends in die rechte Hosentasche mit den gesammelten Bohnen griff, fühlte sich gestärkt und glücklich …
Rosas Stimme klingt nun fremd. Wie bei früheren Übersee-Telefongesprächen. Mit dumpfem Rauschen, als ob das Meereskabel im Wellengang schwingen würde. Atemlos fährt Rosa fort: «Ich rolle über eine grüne Parklandschaft mit Pappeln und einem kleinen See, durchquere einen kleinen Wald; Sand und Kies reiben hörbar an meinen Rädern. Nach der Lichtung erscheint eine trutzige Anlage mit Türmchen und soliden Steinquadern. Es ist ein ehemaliges Kloster, in das mich ein Herr in elegantem, etwas antik wirkendem Anzug einlädt. Im Foyer und in angrenzenden verwinkelten Zimmern treffe ich Männer um die Achtzig. Einige blättern in alten Büchern und Magazinen, andere unterhalten sich angeregt, im Hintergrund das rhythmische Klappern und der Gitarrensound zu Johnny Cashs näselndem «Ring of Fire». Affenrufe verraten den «Daktari»-Filmfan, daneben lauscht ein Senior Ben Cartwright von der Ponderosa-Ranch, wie er knapp einem Lynchmord entronnen ist. «Aha, Bonanza», sage ich und wende mich mehr amüsiert als irritiert dem Hausherrn zu. Und frage ihn, weshalb die Senioren in vergangene Zeiten eintauchten. Er erwidert mit ernster Miene: «Das Ganze hat es in sich. Wir sind alle um die Achtzig. Im Heim kamen wir kaum mehr aus den Betten. Teilweise waren wir auf einen Rollstuhl angewiesen. Aber seit einigen Wochen, seit wir in dieser künstlichen Zeitkapsel leben, diskutieren wir leidenschaftlich über den Vietnamkrieg und die Ermordung Kennedys. Und: Wir kochen wieder selber, werden von Tag zu Tag beweglicher. In Intelligenz-, Seh- und Hörtests haben Ärzte schon nach einer Woche festgestellt, dass wir deutlich bessere Resultate zeigen.»
Ich schäme mich über meine Unbedarftheit und muss ihm gestehen: «Mich überrascht, wie Gedanken eine derart positive und heilende Wirkung haben. Ich will sie nach Europa tragen.» Dankbar schüttle ich ihm die Hände. Und schwups. Schon bin ich seinem Blickfeld entschwunden. Mein Trottinett hat sein letztes Ziel im Visier: Back to the Pflegeheim. Und nun, Maria, bin ich zurück bei dir.»
Nochmals spürt Maria einen Lufthauch. Als würde die «bezaubernde Jeannie» mit Turban und Pluderhose kurz mit den Augen blinzeln und die Arme verschränken. Wie eine lästige Fliege auf der Schulter schüttelt sie den Gedanken an Hexerei gleich wieder ab. Ihr Rösli sitzt wie eh und je vor ihr. Nur dass sie selbstbewusster wirkt. Als hätte sie einen Hindernisparcours mit Bravour bewältigt.
Maria gibt ihrem Rollstuhl eine ruckartige Drehung. Sie hebt die Vase mit den leuchtend blauen Kornblumen vom Nachttisch und platziert sie auf ihr gemeinsames Tischchen vor dem Fenster. Als wollte sie das Unfassbare mit diesem Akt kompensieren. Sie öffnet die Flügeltüren des schmalen Balkons. Stimmen klingen herauf, frische Luft strömt herein. Und der frisch gemähte Rasen treibt einen wohltuenden Duft nach Kräutern ins Zimmer. Er erinnert an Sommerferien im Heu. An Spaziergänge im Wald, an das Durchstreifen einer nicht perfekten, aber dennoch faszinierenden Welt. Als wäre sie von Rosas Traum angesteckt, meint sie: «Mit so was können wir doch auch etwas anfangen, oder?»
«Womit?» fragt Rosa zurück. Maria erklärt: «Mit der Kraft unserer eigenen Gedanken. Stell dir vor, wir denken beim Altern nur noch an «schwerhörig», «gehbehindert», «grau» und «viele Falten». Das sind doch Vorurteile.» Strafft den Hals und setzt fort: «Von nun an haben wir Lachfalten, sind reif und erfahren. Weisst du, Rösli, auf die Frage nach meinen Falten erwidere ich in Zukunft: Du hast den ganzen Tag Zeit, dich zu entfalten. Sich zu entfalten, ist was ganz anderes, als faltenlos zu leben.»
Rosa überrascht Marias neue Gelassenheit. Und wie steht es mit ihrer eigenen Altersweisheit? Sie hängt nach wie vor an ihrem Kindertraum, wie sie trotzig gesteht: «Ich will ein Trottinett! Es wird halt jetzt ein Tretroller auf vier Rädern. Mit meinen Stöcken bringe ich in das fahrbare Untergestell eine gute Bewegung hinein. Weisst du, ein bisschen bleibe ich ein Kindskopf. Und das ist gut so.» Maria spinnt Rosas Faden verschwörerisch weiter: «Und wenn du das erste Mal im Park dein vierrädriges Trottinett ausführst, klebe ich ein Schild mit bestandener Fahrprüfung an meinen Rollstuhl!»
In diesem Moment trägt das offene Balkonfenster die letzte Strophe von «Nights In White Satin» herauf: «Just what you want to be, you will be in the end. Gerade das, was du sein willst, wirst du am Ende sein», singen die Moody Blues ihnen wie eine Bestätigung hinauf.
Quelle:
Voll im Wind. Geschichten von A wie Altersheim bis Z wie Zwetschgenschnaps, 2020 Blaukreuz-Verlag, Bern, 152 Seiten, 978-3-85580-549-5
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Mehr zu Silvia Ittensohn
Neben meiner Tätigkeit als Fachlektorin für Interkultur, Philosophie und Politik bin und war ich stets journalistisch tätig, und zwar seit dem Germanistik-, Publizistik – und Philosophiestudium. Nach dem Lizenziat und anschliessender Lehrerausbildung war ich lange als Deutschlehrerin für Fremdsprachige im Migrationsbereich tätig – auch mit eigenen Projekten. Zudem initiierte ich nach einem Master in Interkultureller Kommunikation einen lokalen Kultur-Verein Schweiz-China. Seit meiner Pensionierung habe ich unter anderem das literarische Spiel mit Gedichten wieder aufgenommen. Derzeit schreibe ich Kindergeschichten für ein interkulturelles Projekt zu Schweiz-China. Zuletzt schrieb ich eine fiktionalisierte Broschüre zur Geschichte der «SP-Frauen Schweiz». In Zukunft möchte ich mich dem Thema Alter, Altersweisheit und Humor in Form von Kurzgeschichten und allenfalls auch einem Fachbuch widmen.