Musikperlen: «Breitbild – Legenda» (2006)
Im Jahr 2006 probte ich mit meiner ersten Band Crossbones in Chur. Die Formation, die kurz zuvor im Prättigau gestartet war, hatte mit dem neuen Probelokal in der Bündner Metropole und dem studierten Gitarristen Dani W. Schmid, der damals noch als Guitardani durch das Land zog, ein neues Level erreicht. Wir waren jung und dumm, zeitgleich aber auch unheimlich motiviert, der ganzen Welt da draussen unseren Sound näher zu bringen. Doch warum erzähle ich die ganze Geschichte um eine Band, deren grösste Erfolge ein Konzert am Churerfest und eine EP mit ein paar lausigen Songs drauf sind? Der Standort unseres damaligen Proberaums war im Quaderschulhaus in Chur. Da es sicher auch jetzt noch nicht bei allen Klick gemacht hat… Die Bündner Raplegenden von Breitbild probten ebenfalls in diesen ehrwürdigen Katakomben und tun es, so glaube ich es zumindest, auch heute noch.
Da wir damals unsere Unwissenheit über das richtige Songwriting und Liveshows mit enorm vielen Proben kaschieren mussten, waren Immi Giger, Guitardani und ich ziemlich regelmässig im Bunker und tüftelten an neuen Liedern. Wie es der Zufall wollte, kam der Tag, an dem wir auch aus dem benachbarten Proberaum Bewegungen und Geräusche registrierten. Da ich nicht sehr scheu bin, empfand ich es spontan als eine gute Idee bei den Jungs anzuklopfen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich weder wer die Band Breitbild, noch was Rap überhaupt ist. Doch Thom Busiger öffnete uns die Tür und liess uns eintauchen in die Welt der «Grossen». Ihr Proberaum war mit sehr viel mehr Komfort ausgestattet als die meisten, die ich bis dahin kannte. Die Jungs hatten sich es gemütlich gemacht und stimmten extra für uns Gäste ein paar aktuelle Stücke an. Sie waren damals gerade in der «Legenda»-Phase und waren für Tourproben zusammengekommen.
Was mir als Rookie nach diesem Treffen positiv in Erinnerung blieb, war die aufgeschlossene und freundliche Art von Rapper Thom, welcher zugleich als Manager für die Band tätig war. Über die Jahre standen wir immer wieder in Kontakt bezüglich der Kompilations «Bock uf Rock» und «Bock uf Rap», bei welchen ich mir so sehr einen Beitrag von Breitbild gewünscht hatte, was leider nie zustande gekommen ist. Ähnlich gerne hätte ich es ebenfalls gesehen, wenn Virus of the Cactus von ihm gemanagt worden wäre… Doch ich glaube, er erkannte schon früh, dass diese Formation wohl nicht meine finale sein würde und dass es noch mächtig viel Luft nach oben gibt. Er war immer sehr direkt, was mir oftmals enorm weiterhalf und auch heute noch sehe ich ein wenig zu ihm als Musikmanager hinauf. Trotz krassen Erfolgen blieb er auf dem Boden und behandelte mich nie von oben herab, wie es viele andere Profis im Musikbusiness ganz gerne mit «Frischfleisch» tun. Gleichzeitig mit dem regen Austausch mit Thom und dem Kennenlernen des «Lost Members» Livty interessierte ich mich in den vergangenen rund 15 Jahren immer mehr für Bündner Musik und habe mir natürlich auch alle Breitbild-Alben besorgt. Meine Faszination für Mundartrap war nicht für alle meine Rock-Kollegen nachvollziehbar, doch ich habe es geliebt durch Featuringparts von Bündner Artisten auf Kompilations und anderen Veröffentlichungen immer wieder neue Musik zu entdecken und das Fansein so vollumfänglich zu zelebrieren. Übrigens für ein gut erhaltenes Exemplar von «Statischt» wäre ich auch heute noch bereit, ein gutes Sümmchen auszugeben, aber das ist ein anderes Thema.
Während ich Thom oft zufällig traf, dauerte es Ewigkeiten, bis ich den anderen Jungs erneut über den Weg lief. Den Literaten Andri Perl beispielsweise lernte ich erst im Dezember 2014 richtig kennen, als er im Kabinett der Visionäre gemeinsam mit Coni Allemann, Anja Conzett, Marietta Kobalt und Gimma eine Lesung abhielt. An das Wiedersehen mit Hyphen kann ich mich leider nicht mehr erinnern, aber es muss an irgendeiner Rapnight oder am Churerfest gewesen sein. Das letzte Puzzleteil, den Rapper Vali, lernte ich lustigerweise erst nach dem grossen Jubiläum zufällig beim Schwimmen kennen. Ich persönlich habe ja immer so ein wenig das Gefühl, das viele meiner Texte nicht wirklich am richtigen Ort ankommen, doch er hat sich herzlich für den grossen Konzertrückblick bedankt, was mich schon ziemlich stolz machte. In diesem Moment fühlte ich mich ähnlich wie damals, als Breitbild meine Plattenkritik zum selbstbetitelten Album teilten.
«Legenda» war mein erstes Album von Breitbild und auch eines der ersten zehn von mir überhaupt erworbenen Rapalben. Es gehört für mich auch heute noch zu den besten Bündner Alben überhaupt, da hier einerseits mit einer unglaublich tighten Band gearbeitet wurde und anderseits praktisch alles enorm stimmig ist. Drehen wir die Uhr ein wenig zurück und hören erneut rein in die Perle.
Die Platte knistert und mit «Bliba drbi – Vorwort» startet ein instrumentales, jazziges Stück, welches direkt in die nächste Nummer überfliesst.
«Bliba drbi» ist eine wundervolle Ode auf die Dankbarkeit und die schönen Dinge des Lebens, denen man einfach treu bleiben muss. Diese Lobhymne hatte für mich als Teenager immer einen inspirierenden Charakter, denn ich musste viele dieser gefeierten Dinge unbedingt auch selbst ausprobieren. Cool, wie alle Rapper sich zum Start der LP vorstellen und ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern.
Der Livebanger «Richtig» hat im Verlauf der grossen Legenda-Tour ein passendes Livevideo erhalten. Livty sagte mal, man könne ein richtiges Livevideo nur produzieren, wenn man auf einer Tour an mehreren Konzerten filme, auch wirklich was der Bühne passiere und das Resultat dann so Sinn mache wie bei Breitbild. Weil die Band live schon immer eine Macht war und sich ihre Fanbasis auch an diversen «Hundsverlochata» hart erarbeitet hat, sind sie heute die einzigen Bündner mit einem richtig epischen Livevideo. «Irgendöpis richtig gmacht!»
Sozialkritisch wird’s beim groovigen «Halb so schlimm», auf dem mit Modo von den X-Chaibä auch der erste Gast auftritt. Spannend, wie schon 2006 Probleme wie die immer grösser werdende Schere zwischen Arm und Reich, Gewalt, Kriege, Fremdenhass, Missachtung von Menschenrechten und vieles weitere thematisiert wurde. Die Nummer könnte auch aus diesem Jahr stammen und wäre trotzdem ziemlich aktuell, was einem schon ein wenig nachdenklich stimmt.
«Mina Hip Hop» ist klassischer Rap, weshalb er an der Jubiläumsshow auch in der Mitte der Halle mit DJ Jäger an den Turntables präsentiert wurde. Witzig, wie sie ihren Werdegang nacherzählen und dabei ihren Wurzeln Tribut zollen.
Für den Überhit «Für 1 hets immer no glangt» gibt’s eigentlich nur ein Wort, welches perfekt passt: Zeitlos!
«Phätt app» hat mich von Anfang an sofort begeistert, da es mir zeigte, wie viel Spass Texte in Mundart machen können. Noch nie zuvor hatte ich gehört, wie kritischen Stimmen mit so viel Humor die Berechtigung genommen wurde. Ein Stück, bei dem sich die vier MCs selber nicht allzu ernst nehmen und deshalb für viele Lacher sorgen.
Weniger verspielt ist «Selber» bei dem Lego von den X-Chaibä gastiert. Der Battletrack, auf dem Thom einer seiner besten Parts serviert, ist ein ziemlicher Banger, der zum Kopfnicken animiert und auch heute noch ziemlich frisch klingt. Spannend, welche Kritik die Jungs sich anhören mussten und wie offen sie damit umgehen.
Die melancholische Nummer «Schatta und Staub» malt dunkelgraue und melancholische Bilder mit Worten und hatte für mich als sensibler Jugendlicher hin und wieder eine wundervoll tröstende Wirkung. Das spezielle an der Nummer ist, dass trotz der stetig präsenten Trauer immer ein Funke Hoffnung mitschwingt, was eine beruhigende Wirkung hat.
In eine komplett andere Richtung geht «Schnada und Schnaps», welche das Werk «Liablingslieder, Fraua und Piar» direkt weiterführt und eine unvergessliche Partynacht nachzeichnet.
«Uf üs» ist der einzige Track auf dem Album, den ich nicht mehr aktiv in Erinnerung hatte. Schade eigentlich, denn das Lied zeigt, dass die Jungs nie vergessen haben, wem alles sie ihren Erfolg zu verdanken haben. Bei diesem Werk lohnt es sich es in Stereo zu hören, denn gegen Schluss laufen unterschiedliche Rapspuren auf beiden Seiten, was noch ein spezielles Erlebnis ist. Ausserdem ist hier das mit den Prostituierten und ihren Zuckungen drauf, was mich immer noch zum Schmunzeln bringt.
Beim Song «As khunnt» muss ich sofort an meine erste und ziemlich legendäre Homeparty in Chur denken. Diese Hymne an die «Selbstliebe» und den Gedanken, dass am Schluss alles irgendwie aufgeht, ist auch heute noch verdammt witzig und hat humoristisch damals viel zum Gelingen des Festes beigetragen. «As khunnt scho guat. I mein, hauptsach as khunnt.»
«Oh my God!» ist Selbstbeweihräucherung vom Feinsten. Trotzdem klingen die Parts von Andri, der sich damals noch Phlegma nannte, Vali, Hyphen und Thom immer ziemlich lustig und nicht überheblich. Ich frage mich gerade, ob sie damals bei der Aufnahme des Albums schon geahnt haben, dass diese CD ein solch grosser Wurf wird?
Auf «Angscht» kommt es zum grossen Gipfeltreffen, denn King Milchmaa gibt sich die Ehre. Gleich zum Start muss ich ein wenig Schmunzeln, da er schon 2006 von einem Debüt gerappt hat, es aber erst im Jahr 2013 veröffentlicht hat. (Übrigens auch eine ziemliche Musikperle, das Album «-ić») Gogo teilt auf dem Lied königlich aus und zeigt mit seiner ganz eigenen Art und Weise, warum man ihn getrost als eine Legende bezeichnen darf. Ich denke, es ist für die Konkurrenz sicher immer ein wenig schwierig, sich für neue Songs zu motivieren, wenn man hört, wie Breitbild und Milchmaa hier locker flockig über den Beat flowen, als wäre es ein Kinderspiel. Zusammenarbeiten wie diese sollte es in Zukunft unbedingt wieder öfters geben!
Ein spätes Highlight kündigt sich an, als Phlegma in «Du nit wärsch» kein Blatt vor den Mund nimmt und kurzerhand dem «ICF» die Leviten liest. Dieses Lied hatte ich so oft im Ohr, als die Partysekte in der Evangelischen Mittelschule Schiers ziemlich offensiv und ungeniert um neue, keusche Mitglieder weibelte. Auch wenn sie sich heute wahrscheinlich zurückhaltendender bei ihren Missionierungsversuchen verhalten, gab es eine Zeit, wo Mitglieder des «Vereins» omnipräsent mit allen über Gott sprechen wollten. Andri zeigte Mut und auch der kongeniale Part von Sektion-Rennie bringt einige Schmunzler mit sich. Ich muss sogar sagen, dass ich wohl durch diesen Gastbeitrag überhaupt erst die grandiose Band Sektion Kuchikäschtli kennen und lieben gelernt habe. Merci drfür!
Die ziemlich coole Rapnummer «#1» erinnert mich stark an die Nummer «Lüt», weil auch hier Claudio Candinas ein paar ziemlich anständige Strophen auf Tape bannt. Das Lied, dessen Hook ursprünglich im Stadtgarten Chur aufgenommen wurde, erlebte durch das erste Nummer 1-Album der Band 2016 ein kurzes Revival, da sie es nochmals inklusive eines kurzen Gastauftritts von Johann Schneider-Ammann durch die sozialen Medien schickten. Wann wurde eigentlich aus der Rautetaste, welche für Nummer oder Raute stand, der Hashtag #?
Ein echter musikalischer Leckerbissen ist die Trennungsballade «Hätt nit sölla si». Die traurigen Zeilen schaffen es immer noch direkt unter die Haut zu gehen und bei den tieftraurigen Pianoklängen läuft es mir auch heute noch eiskalt den Rücken runter. Als ich die CD damals gekauft habe, hätte ich nie erwartet, mich im Verlauf der Jahre in vielen dieser Situationen wiederzufinden. Der Soundtrack zum Auseinandergehen ist unglaublich zeitlos und Breitbild hat es geschafft, für diese schwierigen Emotionen die passenden Worte zu finden. Das Lied hier hat sicher einigen Menschen in der Region ein paar Stunden beim Psychologen erspart und Trost gespendet.
«No sind nit alli guata Liader gschriba (Outro)» ist ein feiner Ausklang, den ich jetzt einfach mal so für mich geniesse.
Schlussfazit:
Breitbild haben 2006 mit dem Album «Legenda» eine Platte veröffentlicht, die in jede komplette Schweizer CD-Sammlung gehört. Der ausgewogene Mix aus klassischen Beats und den Kompositionen der Wahnsinnsband Toshman and Rabbit machen den zweiten Longplayer der Herren zu einem Meisterwerk, welches heute noch frisch und unverbraucht klingt. Die Musikperle ist aus zahlreichen Gründen zeitlos. Beispielsweise lassen die MCs Vali, Hyphen, Thom und Phlegma tiefe Einblicke in ihr Leben zu und nehmen kein Blatt vor den Mund. Ohne Druck schaffen sie eine Vielzahl an Hits und auch die Gäste sind handverlesen und passen exzellent ins Gesamtkonzept des Albums. Mit diesem Werk hat ausserdem Produzent Lou Geniuz seinen legendären Ruf weiter ausgebaut; Zu Recht, denn hier hat er, wie alle Beteiligten, einen wahnsinnigen Job abgeliefert. Nomen est Omen.