Musikperlen: «Tyte Stone – Figga!» (2004)
Kaum eine Bündner Band polarisiert ähnlich wie die Formation Tyte Stone. Es wurden schon unzählige Geschichten über die Jungs aus Chur erzählt und ihr Ruf eilt ihnen oft voraus. Ich war zum Beispiel am vergangenen Wochenende am Konzert der Band Delilahs im Fabriggli Buchs und habe mich nach der Show noch ein wenig mit ihnen unterhalten. Lustigerweise erinnerten sie sich an mein Gesicht, aber mit dem Namen hatten die Zuger doch gröber Mühe. Als ich mich dann vorstellte, gab es einen grossen «Aha-Moment» und als nächstes kam der Satz: «In Chur haben wir doch mit den alten nackten Männern gespielt.» Ich für meinen Teil war doch ziemlich stolz darauf, dass die Musikerinnen und Musiker sich zumindest an dies erinnern konnten und wir in Erinnerungen zur Plattentaufe anlässlich der Kompilation «Bock uf Rock Vol. IV» zu schwelgen begannen.
Die Band Tyte Stone polarisiert. Das merkte ich auch als Booker beim Open Air Malans. Für mich war sofort klar, dass ich diese Jungs auf den Geissrücken bringen musste und es klappte im zweiten Jahr dann auch glücklicherweise. «Open Air klingt super. Da fliegen die Gummipuppen so schön.», war der Kommentar von meinem langjährigen Kumpel Gilla Baby alias Marc Gilardi. Auch wenn am Schluss alle zufrieden waren mit dem epischen Fest, dass die Herren veranstaltet hatten, wurden im Organisationskomitee doch auch einige Stimmen laut, dass eine solche Band für eine solche Familienveranstaltung eher unpässlich sei. Dies ignorierte ich gekonnt, denn ich wusste, wenn ich Tyte Stone hole, dann wird der Event unvergesslich, was er auch wurde. Ausserdem spielt man mit dem Buchen eines solchen Acts immer in die Karten der Gastroverantwortlichen; so als kleiner Gratistipp an Jungveranstalter…
Zum letzten Mal live erlebt habe ich die Band an meinem 30. Geburtstag im Kulturhaus Chur. Ich weiss noch, wie sie die knappe Anzahl Zuschauer mit ihrem Konzert kräftig nach oben korrigierten und ich überglücklich war mit meinen guten Freunden so richtig zu feiern. Das sollten wir eigentlich in Kürze mal wiederholen, wenn ich mir es so nochmals durch den Kopf gehen lasse.
Jetzt schauen wir aber nochmals zurück auf ihr Werk «Figga!» aus dem Jahre 2004. Die Veröffentlichung dieses Werkes fiel auch in die Zeit, als ich die Band gemeinsam mit QL an der «Blue Musix Night» (Ich weiss, wie billig mein abgekupferter Name ist…) von High5 im Churer Eisstadion sah. Ich wurde sofort Fan und bin es nach vielen Jahren immer noch, da ich mich mit den Jungs sehr gut verstehe. Dies ist insofern recht speziell, da Shy-Boy ziemlich aktiv bei der SVP engagiert ist und ich mich eher linken und grünen Kreisen zuordnen würde. Macht aber nichts, da Musik verbindet und es letztendlich ziemlich egal ist, was jemand wählt, so lange er wählen geht und sein Gegenüber mit seiner Meinung nicht bevormundet. Doch zurück zur Musik. Hier geht’s zu den Tracks:
«Liabasschmerz»
Der alte Punkhaudegen Dave Sciamanna gibt sein Debüt bei den Pornoboys und die melancholische Nummer von einer Braut die «abaus» ist, lädt heute noch zum Mitsingen mit und zeigt, wie punkig und doch irgendwie gefühlvoll eine CD eröffnet werden kann.
«I weiss, i weiss»
Die rockige Ode an eine Nymphomanin ist ziemlich catchy und findet dank dem sehr mitsingbaren Chorus heute noch ab und zu Platz auf der Setliste der Buaba. Eine ziemlich perverse Angelegenheit, wenn Gilla ziemlich genau ins Detail geht. Grandios finde ich nach wie vor den Hardrock-Zwischenteil kurz vor Schluss, der ein episches Gitarrensolo einläutet, welches aufzeigt, dass ich die Band auch ohne die kultigen Texte wahrscheinlich ziemlich geil finden würde, da Mundartrock mit Drive eben genauso zu klingen hat.
«Im Elend»
Shy Boy Roli gibt sich die Ehre und zeigt, warum hin und wieder Spass mit Mass angesagt wäre. Die Chronik eines Suffs wird begleitet von feinstem Blues-Rock, wie ihn Status Quo populär gemacht haben. Irgendwie witzig und malerisch, wie offen Roli das Thema angeht, welches schon der eine oder andere der Anhängerschaft im ähnlichen Stil durchlebt haben dürfte. Nach dem Einstand von Shy Boy gibt’s erstmals ein kleines komödiantisches Stück, welchem viele weitere auf der CD folgen werden, die irgendwie lustig sind und dem roten Faden dienen.
«Reschtposchte»
Den damalige Schlagzeuger Schmackofatz habe ich nie wirklich kennengelernt. Für mich war immer Julius der perfekt passende Drummer der Band. Sein Vorgänger singt die Hymne, die der Feder von Shy Boy entspringt und macht bei der lustigen Nummer, welche sich dem Restpostenficken zu später Stunde widmet, einen soliden Job.
«Sex mol in dr Nacht»
Das ist der grosse Hit von Dave, der durch seine schnittigen Riffs auch heute auf keiner Tyte Stone-Party fehlen darf. Ein griffiges Brett, das sofort im Ohr hängen bleibt und zeigt, welch feines Gespür der Bassist aus Cazis für grosse Melodien hat. Die Nummer ist heute fast schon ein Evergreen der gut neben Nummern wie «Nonnen» oder «Tyte Stone Rock’n’Roll» bestehen kann.
«Schmuse isch nid debi»
Auch im Dienstleistungsgewerbe in San Francisco gibt’s nichts umsonst. Das Abenteuer von Jimbo, der sich für ein wenig Geld etwas Liebe erkaufen will, findet leider kein Happy End. Denn wie es der Titel schon vermuten lässt, ist nach dem Akt kein Schmusen angesagt. Eine witzige Nummer, die auch heute noch ziemlich frisch klingt und «fägt»!
«Schafseckel»
Bei dieser Nummer frage ich mich heute noch, wer seine Stimmbänder dafür geopfert hat. Die Parodie auf Acts wie Guns n’Roses oder andere haarigen Bands ist zwar lustig, aber sicher eine der schwächsten Nummern der ganzen CD.
«Dr Pöschtler»
Das nächste Lied über einen transsexuellen Postmann ist groovig und rockt ziemlich gerade aus, wie es eben nur Liedlein von Gilla Baby können. Bereits beim ersten Durchhören singt jeder, wahrscheinlich eher männliche, Zuhörer sofort den griffigen Refrain mit. Dass dann der Pöstler mit dem Polizisten sein Glück findet und beide nachher ihr berufliches Glück am Leutschenbach finden, lässt einem schon ein wenig schmunzeln, da bei der Aussage im Kern auch ein wenig Wahrheit mitschwingt.
«Vogelkunde»
Männer sind pervers, das weiss man doch. Die Volksmusiknummer auf dem Rockalbum ist ziemlich lustig und irgendwie ist es schon erstaunlich, wie viele sexuelle Praktiken Gilla hier so während des Liedes aufzuzählen vermag.
«Bankok Bock»
Das Stück von Shy-Boy-Roli singt Dave Sciamanna, was der Nummer eine ziemlich coole Punkrockattitüde verleiht. Zwischen den Zeilen des Rockkrachers über den leider alltäglichen Sextourismus in Asien findet sich auch ein Hauch Sozialkritik, der einem über die Tragik nachdenken lässt. Mir gefällt sehr gut, wie die Hook am Schluss ein wenig angehoben wird. Gelungen.
«Greiseficker-Blues»
Die Hymne auf Viagra und andere sexuelle Hilfsmittel für den Sex im Alter hat bei mir irgendwie nie einen bleibenden Eindruck hinterlassen, weshalb das Lied mir auch jetzt ziemlich unwichtig für das Gesamtkonzept des Albums erscheint.
«Motzari»
Ganz anders sieht es mit der nächsten Nummer aus, bei der Dave einen weiteren ziemlich stimmungsvollen Rocksong liefert. Die Thematik, die direkt aus dem Leben geschnitten ist, kennen wahrscheinlich viele Herren nur allzu gut. Ich persönlich hätte die Nummer definitiv viel weiter vorne platziert auf der Scheibe, denn es ist ein Lied, das ohne ironische Zwischentöne auskommt und auch gut bei einer anderen Band funktioniert hätte.
«Herzbrand»
Einer der coolsten Hits, die Gilla je geschrieben hat, läutet das grosse Finale der Musikperle ein. Ziemlich lustig, wie er die Geschichte einer gescheiterten Beziehung nacherzählt, bei der er trotz Drogen, Geld verprassen und Gewalt, nicht so genau weiss, weshalb die Frau dann doch gegangen ist. «Z Sozialamt zahlt miar scho.» «Kocht hesch übrigens miserabel» und weitere Einwürfe machen das Stück zu einer Spielwiese, die live nach Belieben ausgeweitet werden kann und immer wieder für ein paar Lacher sorgen.
«Gummisusi»
Roli macht aus einem Witz einen kurzen Song zum Abschluss, der beim ersten Mal durchhören sicher einen Schmunzler bereithält.
«Maikel»
Der Diamant auf der Scheibe ist aber definitiv der versteckte Song nach dem letzten Lied. Damals im Jahr 2004, das heisst, gute 15 Jahre vor der Dokumentation «Leaving Neverland» haben Tyte Stone sich getraut Witze über Michael Jackson und seine pädophilen Neigungen zu machen. Das brauchte damals sicher Mut, erinnert stark an Klassiker wie «Trulalala» und ist heute noch ziemlich lustig zum Anhören. Auch hier wiesen sie darauf hin, wie wenig sie von Pädos halten und machten dies aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern voller Wortwitz und mit viel Schalk im Nacken.
Schlussfazit:
Die CD «Figga!» war nicht nur die erste von Tyte Stone, die ich mir ohne schlechtes Gewissen kaufte, sie ist auch heute ein Sammelwerk von einigen ihrer stärksten Nummern. Vor allem die Kombination aus dem Traumduo Shy-Boy/Gilla und dem Altpunker Dave Sciamanna hauchte der Churer Band neuen Drive ein. In einer Zeit weit vor Metoo brachen die Jungs einige Tabus und sorgten durch einen gesunde Portion Humor und viel Schweinekram für ein besseres Verständnis. Man könnte jetzt weiter die Wirkung auf die Gesellschaft durch ihren offenen Umgang mit heiklen Themen erklären, aber ich denke, Tyte Stone erlebt man am besten live auf einer Bühne. Wer genauer hinhören will, ist mit diesem Werk hier bestens bedient, denn kaum ein anderes, abgesehen von einer Best-Of, bieten eine solche Hitdichte und klingt auch 15 Jahre nach ihrem Erscheinen noch verdammt frisch und rockig.