Musikperlen: «AndaRojo – Self titled» (2006)
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Musikperlen: «AndaRojo – Self titled» (2006)

2002 war ich süsse 14 Jahre jung. Ich hatte vor vier Jahren mit dem Schlagzeugspielen begonnen und die Lust an diesem Handwerk weiter zu feilen, war mir aber tatsächlich schon ein wenig vergangen. Im beschaulichen Jenaz passierte dann doch etwas Unvorhersehbares, als sich eine Tür öffnete und ich einen neuen Schlagzeuglehrer bekam. Hans Conzett war sein Name und er war neben seiner nie stillbaren Reiselust auch noch der Bruder meiner Primarlehrerin Gabi Däscher. Die Musikgesellschaft Jenaz, der ich zu dieser Zeit angehörte, hatte mit ihm ein goldenes Händchen für exzellentes Personal bewiesen, denn Hans war nicht nur ein sensationeller Lehrer, sondern hatte auch immer die besten Storys voller «unglaublicher Szenen» auf Lager. Er, der gut 15 Jahre älter war als ich, hatte schon Länder bereist, die ich bisher nicht einmal vom Hörensagen gekannt hatte. Ich hatte in dem langhaarigen und tätowierten Drummer meine allererste Ikone und auch so etwas wie einen Mentor gefunden.


Er zeigte mir beim Musikmachen, dass es neben langweiliger Theorie auch noch etwas anderes gibt, nämlich gelebte und gefühlte Musik, welche vollgepackt mit Emotionen und Leidenschaft ist. Ich war sofort infiziert und habe diese ansteckende Freude an der Musik auch heute noch nicht verloren. Damals, als ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde, war die Zeit vorbei, bei der bloss stier nach Noten neue Musik gepaukt wurde. Neu jamten wir und ein klein wenig wurde auch nach eigenem Gutdünken draufgehauen. Hans zeigte mir einige Bands, die ich heute noch höre, wie beispielsweise Patent Ochsner, The Doors, Bruce Springsteen, Pearl Jam und viele weitere. Jedes Mal, wenn ich heute zum Beispiel den Song «Given to fly» von den letztgenannten Grungeikonen höre, denke ich an sein breites Grinsen und wie er sagt, wie magisch dieser Moment und dieser Beat immer wieder sei.

Wir waren, trotz des grossen Altersunterschieds, sofort auf einer Wellenlänge und diskutierten vor und nach den Proben ausgiebig über unsere endlose Begeisterung für Musik. Eine Stunde bei ihm im Schlagzeugunterricht fühlte sich an wie fünf Minuten und ich fand meine Passion in immer wieder neu entdeckten Rocksongs. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Bandworkshop in der Firmenzentrale seiner Band «Prana» in Bad Ragaz, als ich zum ersten Mal auf die damals ziemlich gehypte Band «Newrotics» traf und fast mit einem Gitarristen aus Flims, sein Name fällt mir heute leider nicht mehr ein, eine Rockband gegründet hätte. Gitarrist Stöff Ackermann und sein Mitbewohner Hans haben da an einem Wochenende bei ein paar jungen Menschen aus der Region die Leidenschaft für das Musizieren mit Band geweckt, was im Rückblick doch einige saftige Früchte getragen hat. Denn an diesem Wochenende war nicht nur meine Wenigkeit anwesend, auch Sarah Mark von Okto Vulgaris verfeinerte ihr Gespür für das Zusammenspiel mit anderen Musikern. Ein paar Monate nach dem Workshop gründete ich in Schiers mit Luciano Giovanoli und Fabio Casutt meine erste Band «Sputnik» und versuchte gleichzeitig Conzett’s damaliger Funkband «Prana» nachzueifern. Einige Konzerte des Quartetts habe ich gesehen, doch vor allem eins blieb stark in meiner Erinnerung haften: Die Plattentaufe der neuen EP in der Werkstatt Chur. Die Jungs zeigten wie viel sie auf dem Kasten haben und überraschten durch einen spannenden Facettenreichtum und grandioser Virtuosität. An diesem Abend lernte ich auch Roland Vögtli kennen, den die Newrotics-Girls im Vorprogramm mitgeschleppt hatten und welcher damals schon mit seiner ausgeprägten Aura das ganze Lokal in Beschlag nahm. Es müsste eigentlich dieser Schicksalsmoment gewesen sein, an dem sich mein Mentor entschied, mit dem Engadiner was Neues auf die Beine zu stellen. Denn auch ihm fiel auf, dass er mit Prana eher Musik für Musiker und nicht für die breite Masse produzierte. Auch der Umstand, dass die ausverkaufte Werkstatt nach der Show der Vorgruppe Newrotics um mehr als die Hälfte leerte, dürfte ihm einen Gedankenanstoss gegeben haben.

Es war eine wilde Zeit voller Veränderungen. Nicht nur die Newrotics lösten sich bald auf, auch bei Prana und beim Safari Beat Club in Chur war bald Schluss. Als Muzzy, den ich damals noch nicht wirklich gut kannte, dies damals über Myspace und Mund zu Mund-Propaganda bekannt gab, war die Stimmung im Churer Ausgang schon eher düster und ein klein wenig niedergeschlagen. Doch jedes Ende bringt auch einen Neuanfang und da wir damals wussten, dass King Muzzambo bald mit dem Palazzo der alten Stadt ein Lokal sondergleichen schenken würde, waren wir irgendwie doch noch zufrieden und ein paar wenige Events konnten wir noch in «unserem» Safari geniessen.

Eine davon war der Silvester. Eben Prana hatte sich vor kurzem und fast ein wenig wie über Nacht aufgelöst, da man sich auseinandergelebt hatte. Was mir damals als junger Kerl irgendwie unbegreiflich erschien, würde ich in meiner Karriere auch noch einige Male selbst erleben… Aber das ist eine andere Geschichte.
Hans machte weiter und stand an einem Silvester auf einmal mit einer Band namens «AndaRojo» im legendären Safari Beat Club auf der Matte und riss die Hütte mit fetten Rockklängen ab.


Die Band AndaRojo war so etwas komplett Neues und für mich und irgendwie einfach verdammt cool. Sie hatten als Quartett, bestehend aus dem Engadiner Roland Vögtli, den Prättigauern Hans Conzett und Johi Rauber, sowie dem Rheintaler Andi Mehrstetter, so ein unsichtbares Band zwischen einander und eine ansteckende Magie, die bei jedem Gig auf das Publikum übersprang. Was sie schon früh zu der Band machte, die ich insgesamt weitaus am meisten live gesehen habe. Insgesamt sind es, glaube ich, mindestens so um die zehn Mal gewesen.

Bereits kurz nach der Gründung stand auf einmal die Idee der Jungs im Raum, dass sie nur noch von der Musik leben wollten und aus diesem Grund nach Südamerika auswandern würden. Dies vor allem aus dem Grund, da es dort vor allem vom finanziellen Aspekt her einfacher sein würde mit der Musik über die Runden zu kommen.

Ich hatte als Jungspund noch nie eine solch abgefahrene Idee gehört, doch die Jungs zogen es eiskalt durch, was ihnen einen überaus verdienten Platz in der Bündner Musikgeschichte verschaffte.


Um diese Reise, den Film und das Album «Desert» überhaupt realisieren zu können, war das Quartett 2006 ziemlich auf Werbe und Konzerttour und hat fleissig nach Sponsoren gesucht. Was mich damals total faszinierte, war die Tatsache, dass die Herren an unglaublich vielen Orten spielten und extrem viele Kilometer ohne Murren auf sich nahmen. Bis heute prägt mich diese Band nur schon wegen der Tatsache, dass sie auch mal Konzerte angenommen haben, die keine fetten Gagen abwarfen, sondern einfach der Musik und des Erlebnisses wegen. Livespielen und das «Klassenfahrt»-Erlebnis, das man mit einer Band hat, sind unbezahlbare Erinnerungen, die man als Musiker einfach erlebt haben sollte und die mir heute einige Zeit nach der Auflösung von Insomnia Rain doch auch ein wenig fehlen.

Im Sculpture Studio in Chur nahmen die vier Herren bei Mike Friggerio das bahnbrechende Demo auf, welches ihnen die Tour und die Sponsorensuche in vielen Aspekten erleichterte.


Hören wir rein:

«Why me» war der Hit schlechthin und ich hatte Freude, dass die Ode an die Heilsamkeit von Kräutern aus der Feder von meinen Schlagzeuglehrer stammte. Denn auch bei meinen eigenen Bands drängte ich darauf, möglichst alle Texte selbst zu schreiben und so neben ein paar harten Schlägen auf die Kessel, auch lyrisch etwas beitragen zu können. Dieser Inspirationsmoment von Hans, klingt heute noch frisch, ist ein tolles Rockbrett und ist anders als die künstlich verlängerte Version des Hits auf dem Album «Desert» wirklich konsequent, auf den Punkt gebracht und authentisch. Auch wenn ich nie ein grosser Fan vom Graskonsum war, dem Hans doch hin und wieder mit Freude frönte, fühlte ich mich den Zeilen als «schwarzes Schaf der Familie» irgendwie extrem verbunden.

Es gibt immer solche Stücke wie «Angela» im Frühwerk von fast jeder Band. Die amüsanten Klänge und das Wortspiel mit dem Namen sind nach dem fünfzigsten Durchspielen des Liedes dann vielleicht nicht mehr so witzig wie beim ersten Mal und das Werk verschwindet im Giftschrank. Dieses Lied ist so eines, welches leider etwas zu früh weggeschlossen wurde. Die Pop-Rock-Nummer, die vor allem kurz vor Minute drei ziemlich viel Drive aufnimmt und mir auch heute noch ein Schmunzeln auf das Gesicht zaubert, ist gar nicht so schlecht, wie von der Band, durch Verbannung von der Setliste, bewertet.


Das sehr kreative Werk «Fabulus», bei welchem sich Johi doch recht leichtfüssig und ungeniert im Zwischenteil bei the Doors bedient, ist auch heute noch ein musikalisches Überraschungsei, welches sehr zu gefallen vermag. Die stetigen Wechsel zwischen verträumten Zwischenteilen und epischen Riffsalven, die zum Pogen einladen, würden auch heute noch ziemlich gut funktionieren. Ein zeitloses Werk, das nichts an Kraft verloren hat.

«Impreschiunant» hat mir immer sehr gut live gefallen, da der Aufbau so treibend war und der Refrain so viel Präsenz einnimmt, was sehr zum Mitsingen einlud. Das doppelte Tempo und die Chöre im Zwischenteil, sowie auch das epische Finale mit dem Yeah-yeah-Dialog zwischen Roli und Johi sind schlicht grandios und konnten live durch ein Herauszögern schweisstreibende Momente beim Publikum auslösen. Sensationell.


Das letzte Stück «Desert» ist vor allem ein Lehrstück in kreativer Rockmusik. Der Mix aus The Doors, Reaggae-Klängen, einem Hauch Toto, sowie der eigenen Handschrift lässt kaum Wünsche offen und entführt die Zuhörer direkt in die Ferne. Das imposante Werk hatte mit der ganzen Globetrotter-Mentalität der Jungs auch fast etwas von einem Soundtrack ihres Trips. Das Wirren am Schluss ist ekstatisch und es kommt fast ein wenig Melancholie auf, dass die grandiosen 22 Minuten und 13 Sekunden schon vorüber sind.


Schlussfazit:
Die selbstbetitelte Debüt-EP von AndaRojo klingt nach Abenteuer. Bei jedem Ton schwingt Freude mit und anders als bei ihrem später erschienenen, einzigen Album «Desert» hat Produzent Fridge hier nicht überproduziert, sondern diese ungestüme Energie und jugendliche Frische ungekünstelt auf’s Band gedrückt. Diese Frühphase einer Band, die leider schon viel zu früh wieder auseinander ging, ist somit einzig dokumentiert durch diese EP, die zwar auch heute noch zu gefallen vermag, aber irgendwie auch ein wenig traurig stimmt. Denn heute spielt mein Mentor Hans Conzett, wegen den Folgen eines Autounfalls und des kaputten Rückens kein Schlagzeug mehr und ist, ich weiss leider nicht genau in welches Land, ausgewandert. Auch Bassist Andi ist nach AndaRojo irgendwie ebenfalls komplett von der Musiklandkarte verschwunden. Selbst die Band Nau, in der Roli und Johi mitgemischt haben und dank denen ich am Open Air Malans einen AndaRojo-Flashbackmoment hatte, existiert heute nicht mehr. Einziger schmaler Trost bleibt der noch aktive Frontmann Roli Vögtli, der als Cha da Fö und mit der Band Me + Marie äusserst erfolgreich unterwegs ist. Seit 2011 gibt es die romanische Rockband nicht mehr, was bleibt sind zahlreiche Anekdoten und die Hoffnung, dass Roli Vögtli irgendwann mal live ein kleines Medley aus den Rojo-Hits zusammenstellt. Das wäre wirklich eine «unglaubliche Szene», wie Hans es bezeichnen würde.

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