Der Preis der Meinungsfreiheit
Bild/Illu/Video: Marcus Duff

Der Preis der Meinungsfreiheit

Herr Schweizer ist seit kurzem pensioniert und ganz zufrieden mit allem, was er im Leben erreicht hat. Er wohnt mit seiner Ehefrau in einem kleinen Einfamilienhaus umringt von einem Gartenzaun, am Rande einer grossen Stadt. Im Garten blühen die ersten Blumen, der Apfelbaum müsste zurückgeschnitten werden und kleinere Schäden am Haus, die der Winter zurückgelassen hatte, können nun repariert werden.


Wie jeden Morgen nimmt Herr Schweizer sein Velo aus der Garage und schwingt sich auf den Fahrradsattel. Ein warmer Wind streift ihm ums Gesicht und noch bevor er seinen Nachbar grüsst, der ebenfalls auf dem Weg in die Stadt ist, trifft ihn dieser Gedanke über die Klimaerwärmung. Eigentlich sind ihm diese ganzen Berichterstattungen in den Medien etwas suspekt, denn er hatte gelernt, dass das Wetter einfach nur Wetter war und auch in Zukunft unberechenbar bleiben würde. Eigentlich hätte Herr Schweizer gerne darüber diskutiert, doch so richtig traute er sich nicht, denn wollte er vor der ganzen Familie als Klimaleugner dastehen?


Als er später durch die Stadt fuhr und sah wie sich die Strassen verändert und viele verschiedene Nationalitäten hier niedergelassen und sich eine neue Existenz aufgebaut hatten, so trauerte er den alten Zeiten nach, als alles noch etwas einfacher gewesen war. Doch durfte er seine Gedanken offen äusseren, ohne gleich in eine Ecke gestellt zu werden? Er schüttelte den Kopf und radelte weiter. Vor einer Kirche liefen zwei Männer händehaltend auf dem Trottoir entlang. Herr Schweizer bremste und stieg vom Fahrrad. Die Zeiten hatten sich so rasend schnell verändert, dass ihm dieses Tempo zunehmend Mühe bereitete. Wo gestern noch Kinder Fussball spielten, sassen diese heute auf der Wiese herum und beschäftigten sich mit ihren Smartphones.


Doch musste er wirklich alles nickend hinnehmen?

Vor dem Kiosk grüsste ihn Frau Ilic und ohne den Gruss zu erwidern begann Herr Schweizer nach Zeitungen zu suchen, die seine Fragen beantworten konnten. Nach einiger Zeit blieb er aber enttäuscht und mit leeren Händen vor dem Zeitungsständer stehen. Er fragte sich wo all die Diskussionen und Debatten über die wichtigen Themen in diesem Land geblieben waren. Alle grossen Zeitungs-Verlage schienen sich in allem einig zu sein. Herr Schweizer war etwas irritiert, hatten wir das Kämpfen und Debattieren um eine Richtung verloren? Er dachte dabei nicht an die billigen Beschimpfungen, die sich Politiker bei Sendungen im Fernsehen an den Kopf warfen, sondern um ein ehrliches Ringen, um ein Fighten und ein Überzeugen mit Worten, die einem Schlagabtausch würdig waren.


Herr Schweizer fand, dass sich die Gesellschaft der Meinungsfreiheit selbst entledigt hatte und der einfachhalber ein paar Meinungsmachern ohne zu prüfen überliess. Doch gab es diese freie Meinungsfreiheit überhaupt und verkrochen sich die Menschen nicht seit jeher aus Angst vor Ablehnung hinter der grossen Masse? Wer entschied am Ende des Tages, was richtig oder falsch war? Es beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl, sich einer selbst gewählten Zensur unterworfen zu haben. Irgendwie gehörte auch er zu diesen Mutlosen und auch er hatte es verlernt, dass geschriebene kritisch zu hinterfragen.


Herr Schweizer griff sich eine Zeitung und bezahlte, dann radelte er schweigend nach Hause. Dies war ein Problem, dass die Jugend zu lösen hatte und nicht die Alten, dachte er.


Unterwegs hielt er an und blickte auf eine alte, prächtige Buche, die mitten auf einer Wiese stand und ihn schon ein Leben lang begleitete. Er hustete und aus irgendeinem Grund kam ihm Ali in den Sinn, der im Nahen Osten lebte und unter ständiger Lebensgefahr seine Bibel verstecken musste oder jene junge Frau, der es untersagt war in die Schule zu gehen und trotz aller Widerstände gelernt hatte zu lesen und zu schreiben. Heute versteckt sie sich im Untergrund und kämpfte im Internet mit Worten gegen das Regime. Die Freiheit ist ein besonderer Schatz und auch heute muss man bereit sein, um jedes freie Wort zu kämpfen, damit sie schliesslich genau wie die alte Buche in ganzer Pracht dastehen kann. Denn von aussen gibt es immer wieder Angriffe, die uns zurechtstutzen, der Äste und Wurzeln berauben wollen. Herr Schweizer nickte der alten Buche zu und wusste nun, dass diese Freiheit nur mit Vernunft, gegenseitigem Respekt und Zuhören bewahrt werden konnte.


Zu Hause wartete bereits seine Frau auf ihn, sie hatte wie immer das Frühstück vorbereitet. Im Garten blühen die ersten Blumen, der Apfelbaum müsste zurückgeschnitten werden und kleinere Arbeiten am Haus, die der Winter hinterlassen hatte, können nun repariert werden.


Doch diesen Nachmittag musste diese Arbeit warten, denn er würde alle seine Kinder zum Kaffee einladen und wieder beginnen mit ihnen zu diskutieren, denn man kann nur ernten, was zuvor gesät worden ist….

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