Bild/Illu/Video: Steve Wenger

6000 feiern 20 Jahre Breitbild

Irgendetwas Magisches lag am Samstag in der Churer Luft. Irgendwie war es sogar gänzlich Unbeteiligten bewusst, dass in der Stadthalle am Abend Musikgeschichte geschrieben wird. Meine Frau und ich waren noch ein wenig unterwegs, um erste Weihnachtsgeschenke zu kaufen und uns auch ein wenig an das Klima zu gewöhnen nach den fünftägigen Ferien in Hurghada. Als wir gemeinsam mit Corina’s Kollegin Silvia Fausch in der Altstadt auf ihren Freund Stefan Brügger warteten, bestätigten sich meine Vorahnungen, denn wie aus dem Nichts stand plötzlich die Raplegende Milchmaa aka Goran Vulovic vor mir. Mit einem breiten Grinsen und sichtlich erfreut darüber, wieder einmal in seiner City umher zu schlendern, begrüsste er mich und wir sprachen kurz über das grosse Jubiläum am Abend, das Heimkommen und die Familie im Allgemeinen. Er, der selbst viel zu selten Musik veröffentlicht und inzwischen leider auch relativ selten auf der Bühne steht, erwähnte zwar, dass er fix auch dabei sein werde am Abend, liess mich aber im Dunkeln darüber, ob er dann auch auf der Bühne mitmischt. Keine zehn Minuten nach Gogo kam mir dann auch noch tatsächlich Andri Perl entgegen, bei dem ich nachfragte, wie nervös er denn schon sei. Er erklärte mir, dass er gerade versuche, nicht zu viel Zeit in geheizten Räumen zu verbringen und dadurch seine Stimme ein wenig zu schonen. Ich musste schmunzeln und empfahl ihm Tee zu trinken. Ich wünschte ihm beim Verabschieden noch gutes Gelingen und erklärte, wie fest ich mich auf den Abend freue. Irgendwie ist es schon lustig… Wenn ich alleine unterwegs bin, treffe ich eigentlich praktisch nie jemanden, aber wenn meine Frau dabei ist, kommen wir oft keine zehn Meter weit, ohne dass ich auf Leute treffe, die ich kenne und mit denen ich dann gut und gerne auch mal 20 Minuten plaudere. Dies passierte am Samstag glücklicherweise nicht draussen bei den kalten Temperaturen, sondern anschliessend als ich im Manor Dave von Tyte Stone traf, mit dem ich über ihr neues Buch und den im nächsten Jahr erscheinenden Jubiläumsfilm plauderte. Wir fuhren dann noch kurz nach Hause, machten uns schick und düsten um halb 8 nach Chur.


6000 sind verdammt viele Leute

Ich hatte es echt ein wenig unterschätzt. Ich dachte, 6000 seien gar nicht so viele Leute. Doch als wir in Chur einfuhren, wurde mir relativ schnell bewusst, dass ich mich mächtig getäuscht hatte. Dass die Parkplätze vor der Stadthalle komplett besetzt sein werden, damit hatte ich noch gerechnet, doch auch beim Lindaquai und Arcas Parkhaus war alles weg. Das hatte ich so noch nie erlebt und so parkierten wir am Schluss dann eben im Manor Parkhaus. Klar, es wäre zehn Mal klüger gewesen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anzureisen, aber wir waren schon so knapp dran, dass mich das Gefühl beschlich, ich könnte etwas vom Programm verpassen. Da wir, wie praktisch alle gut 15 Minuten anstehen mussten, erreichten wir die Stadthalle erst als die Vorgruppe Kaufmann bereits bei den letzten drei Song angelangt waren, was mich dann doch ein wenig geärgert hat. Wie gerne hätte ich ihr Set beschrieben, dass sicher ziemlich spannend gestaltet war. Der kurze Höreindruck zeigte mir aber klar und deutlich, dass ich diese Band auch in Zukunft mit Sicherheit noch oft auf ähnlich grossen Bühnen erleben werden kann, da sie für genau solche geboren sind. Schon interessant, wie viel Druck nach vorne die Jungs inzwischen erzeugen können und wie sie es immer wieder schaffen mit ihrer handgemachten Musik und den authentischen Texten von Frontmann Reto das Publikum zu berühren. Ich dachte lange, dass nach May Day das Kapitel Mundartrock irgendwann ein unschönes Ende finden werde, doch seit dieses Quartett auch ausserkantonal für Furore sorgt, hege ich Hoffnung für das Genre. Schade war ich nicht früher da, aber wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

 

16:9 machen 6000 stolz

Die Spannung stieg und als um 20 vor Zehn endlich der Vorhang fiel, gab es in der Stadthalle Chur kein Halten mehr. Ohne Kompromisse schossen Breitbild die Hits «Mach si stolz», «Brett» und «Drei Fläscha Jack» mit viel Wucht ins Publikum. Die rockigen Banger zeigten, dass die Jungs richtig Bock auf das Jubiläum hatten und dass sie, wie es das nächste Lied ankündigte, in ihrer Karriere einiges «Richtig» gemacht haben. Andri Perl begrüsste die ziemlich motivierte und teils auch schon etwas beschwipste Zuhörerschaft zum 20-Jährigen und wie könnte er das besser als mit dem Überhit vom letzten Album, welcher den Titel «30 isch ds neua 50» trägt? All diese Hymne zum Start fuhren mir direkt unter die Haut und lösten in mir einiges aus. Ich weiss, es klingt ein wenig kitschig, aber meine Augen wurden durch Freudentränen nass, ein zufriedenes Gefühl stellte sich ein und dabei hatten die Jungs noch nicht einmal eine halbe Stunde gespielt... Das Gesamtkonzept war einfach grandios: Die zur Bigband angewachsene, verdammt tighte Band The Busingers unter der musikalischen Leitung von Sam Senn, das von Bane und seinen Team entworfene Bühnenbild, die illustren Bildern auf dem grossen Screen im Hintergrund, dazu das Hitfeuerwerk, bei dem sich das Publikum ziemlich textsicher zeigte, liess wirklich niemanden kalt und verwandelte die Stadthalle bereits früh in einen regelrechten Hexenkessel.


Der König betritt das Gebäude

Die energiegeladene Performance bekam nach dem Lied «Üsi Lieder sind scho döt» einen neuen Höhepunkt, denn im Hintergrund fuhr das animierte Auto in den «Endboss» und genau dieser trat in Form von Milchmaa auf der Bühne in Erscheinung. Imposant und kein bisschen müde riss er die ganze Meute mit und bewies eindrucksvoll, wieso die Krone im Hintergrund nicht umsonst bei seinem Gastauftritt auf der Leinwand eingeblendet blieb. Was für eine Legende, der dann kurzerhand gemeinsam mit Claudio Candinas aka Hyphen die guten alten Zeiten der Freestyle Convention aufleben liess und dank kreativen Wortspielereien für viel Begeisterung sorgte. Ich hoffe, der grosse Zuspruch des Publikums hat ihn ein wenig gepackt und dazu animiert, mal wieder neue Musik zu produzieren. Passend zum Auftritt vom unangefochtenen Churer Rapking, spielten Breitbild «Klistadtköniga» bevor das pumpende Set erstmals ein klein wenig ruhiger wurde.


Endlich mit Bläsern
Der Lovesong «Schritt» begeisterte durch einen unwiderstehlichen Groove, der dem Auftritt zwar ein wenig das Tempo nahm, dafür dem Publikum auch ein wenig Luft zum Atmen verschaffte. Beim nächsten Song «Einsam» hatten dann die drei Bläser namens «Boxhorns» ihren grossen Auftritt. Erstmals in ihrer Karriere arbeiteten die Jungs von Breitbild mit einer Blassektion zusammen, was dem Klangbild neue Facetten verschaffte und hoffentlich auch in Zukunft noch mehr so praktiziert wird. Als nächstes wurde die Nummer «As gfallt mr guat bi diar» in der Hyphenversion zelebriert und allerspätestens beim Song «Classics» war allen klar, dass nach dem kurzen balladesken Moment wieder Rap am Zug war. Als dann das Flugzeug mit den Gästen vom Dynamic Duo landete, gab es in der Stadthalle für Rapfans kein Halten mehr. Den Bündner Rap-Pionier Spooman gemeinsam mit seinem Kumpel Shape MC nochmals live erleben zu dürfen, war etwas, von dem ich bisher nur geträumt hatte. Die beiden Legenden rissen ab und sorgten für genügend Ablenkung, als die Breitbildjungs unauffällig sich durch die Menge schlängelten.


Nostalgie pur in der Mitte
Die Breitbild-Jungs Thom, Andri, Hyphen, Vali und DJ Jäger waren inzwischen in der Mitte der Halle angekommen, wo sie in ihrer Urformation nochmals intensiv in den Rückspiegel blickten. Bei dem Showcase mitten im Publikum kamen Evergreens wie «Statischt», «Safari», «Nr.1», «Gimmer Liabi», «Mina Hip Hop» oder auch «Immer mit dr Ruah» zum Zug. Zum ersten Mal und auch einzigen Mal an diesem Abend wurde das Publikum um mich herum fast ein wenig ungeduldig, denn ja, man verstand in meinem Ecken leider nicht wirklich viel von dem kurzen Nostalgieset, was doch ein wenig schade war. Während die Breitbild-Jungs in feinster Boybandmanier die Interaktion mit ihrer Anhängerschaft feierten, wurde vorne auf der Bühne kräftig umgebaut. Beim Dynamic Duo-Auftritt waren bereits die Sprayer am Werk und jetzt wurden auch noch ein Flügel aufgebaut. Nach dem Set, welches die Herzen der Oldschooler höher schlagen liess, kam mit Bandit ein musikalischer Gefährte der Jungs auf die Bühne, der ebenfalls an die goldenen Jahre des Mundartraps erinnerte und zeigte, dass man auch durchaus als Rapper über 40 immer noch abreissen kann.


Gerührte Rapper bedanken sich
Etwas MTV-Unplugged-Charakter erhielt der Abend als die Jungs zum Lied «La Cucina della Mama» ansetzten. Dieser Lobgesang auf die Kochkünste der Mütter ist irgendwie ziemlich einzigartig im Repertoire der Formation, da Vali und Claudio dort ausnahmsweise in ihrer Muttersprache Italienisch respektive Romanisch rappen, was doch ziemlich unter die Haut ging. Ebenfalls ein ziemlich emotionaler Moment folgte, als die Jungs zu kurzen Danksagungen ansetzten. Irgendwie ziemlich beruhigend, dass ein solche Grossveranstaltung auch für Jungs nicht gerade alltäglich ist. Vor allem Vali Priuli war hin und wieder den Tränen nahe und stockte bei seiner Ansprache. Ihre Dankbarkeit für die Möglichkeit Musik zu machen, strahlte eine Authentizität aus, die die ganze Stadthalle mit Wärme flutete und noch lange nachhalte als die Hymne «Flagga» gespielt wurde. Zwei Meter hinter mir, hatte meine Frau jemanden erblickt, den auch sie sofort erkannte und ich dachte mir noch, wie cool es wäre, wenn…


Angelina und andere Hits
Ehe ich mich versah, stand der blonde Hüne Dabu Bucher bereits oben auf der Bühne beim Flügel von Yves Zogg und sang «Min Ort».
Wie schön, dass die beiden Herren Dj Arts und eben Dabu Bucher sich die Zeit genommen haben einen Grossteil ihrer Begleitband an diesem grossen Abend zu unterstützen und als dann tatsächlich noch ihr Überhit «Angelina» angestimmt wurde, dachte ich mir, besser wird es heute Abend wohl kaum mehr. Doch weit gefehlt. Nicht nur bei dem Mundartüberhit zeigten sich die Zuhörer ziemlich textsicher, auch beim Finale voller Bündner Rapklassiker wurde lautstark mitgerappt und gejohlt. Doch zuerst gab es noch ein Fenster für Literatur und Poesie, welches der Wortakrobat Vali mit viel Kreativität und Eleganz ausfüllte. Dann war es endlich soweit: Das Finale startete mit einer Heavy Metal-Version von «D’Wält isch schön», welche umrahmt von einem atemberaubenden Bilderspektakel auf der Grossleinwand ins Publikum gefeuert wurde. Krass, wie die Jungs beim Refrain eigentlich gar nichts machen mussten. Aus 6000 Kehlen wurden die Hookzeilen gegröllt, als gebe es kein Morgen mehr. Ähnlich euphorisch aufgenommen wurde der Song «Lüüt» aus der Feder des kreativen Wuschelkopfs Claudio Candinas.


Morgen und Gestern
Beim grossen Finale gaben sich nochmals die illustren Gäste die Klinke in die Hand. So erschien bei der letzten Strophe des Songs «Out on Luv» plötzlich die zukünftige Bündner Raplegende Ali Cetin auf der Bühne. Wenig später wurde nochmals ein wenig zurück geschaut und ein paar Herren von der «Legenda»-Begleitband «Toshman and Rabbit» gaben sich die Ehre und zeigten, wie man der Durchbruchssingle «Gimmer as Mic» den nötigen Punch versetzt, um das Publikum komplett zum Ausrasten zu bringen. Heftig diesen Hit bis kurz vor dem Schluss zurück zu halten, aber gefolgt von den nächsten Megakrachern «Für 1 heds immer no glangt», «As isch nid immer alles crazy» und «Nacht» blieben keine Wünsche mehr offen und Breitbild verabschiedete sich mit einer Ballade auf die Freundschaft, die mir gänzlich unbekannt ist und wahrscheinlich die einzige Nummer an diesem Abend vom Album «Was für a Moment» gewesen sein muss.

Alles «richtig» gemacht

Ich hätte den Jungs noch ewig zuhören können, denn die ansteckende Spielfreude war ein Genuss für Ohren, das Herz und die Seele. Die abenteuerliche musikalische Reise durch ihr Repertoire glich einer Achterbahnfahrt voller Action, die es stetig schaffte zu überraschen und nie langweilig wurde. Hier wurde ohne kommerzielle Absichten eine aussergewöhnliche Karriere gefeiert und eine einzigartige Atmosphäre geschaffen. Und als ob die tausenden begeisterten Besucherinnen und Besucher nicht schon genug wären, setzten die Jungs mit Depotbechern ein Statement für eine Mehrweg- statt Wegwerfgesellschaft, was dem Abend einen stimmigen Rahmen gab und sinnlose Abfallberge verhinderte. Thom, Vali, Hyphen und Andri, ich denke ich spreche da einigen aus der Seele: Danke für diesen unvergesslichen und emotionalen Abend! Chur und ganz Graubünden ist stolz auf euch! Auf die nächsten 20 Jahre, weil «für 1 heds immer no glangt»!!!

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