«Homeless Songs» im Soundcheck
Es muss irgendwann kurz vor dem Millenium gewesen sein, als ich in einem Brockenhaus die CD «1000 Vies» von Stephan Eicher entdeckte und sie sofort kaufte. Da ich auch schulisch meine ersten ziemlich wackeligen Schritte in der französischen Sprache wagte, war seine Musik irgendwie ein Segen für mich. Durch ihn verstand ich viele Sachen in der doch recht komplexen Sprache schneller und wurde, wie so oft in meinem Leben, wenn es um Musik geht, regelrecht besessen. Entdeckt hatte ich ihn schon etwas früher beim «Matter Rock»- Sampler und allerspätestens als ich mir die CD «Engelberg» kaufte, gab es für mich als Fan kein Halten mehr.
Im Jahr 2002 rum kam nicht nur der Film «Warum syt ihr so truurig?» über das Leben und Wirken von Mani Matter raus, auch der Züri West-Film «Am Blues voruus» erschien. Bei beiden Filmen sprach Stephan Eicher ein paar liebe Worte und erzählte, wie er als Zeitzeuge, die Geschichten der anderen erlebt hatte. Wenn ich jetzt zurückblicke, muss ich eigentlich sagen, dass damals verdammt viel gute Musik erschienen ist, nicht nur viele meiner Lieblingsbands aus dem Nu Metal-Bereich feierten damals ihre ersten Erfolge, auch Stephan Eicher lieferte mit «Taxi Europa» 2003 ein bis heute wahnsinnig starkes Album ab. Diese Hits wie «Cendrillion après minuit», «Avec toi» oder auch das Titelstück hatten mir es wahnsinnig angetan. Doch etwas war anders.
In der Retrospektive dünkt es mich fast ein wenig so, als wäre ich der Einzige gewesen, der Stephan Eicher gehört hat zu dieser Zeit. Zumindest im Prättigau könnte ich mir noch vorstellen, dass dies wirklich so gewesen ist, aber ich muss auch sagen, es hatte etwas Magisches. Denn so toll und genial Linkin Park, Limp Bizkit und viele der Bands von damals waren, bereits nach dem zweiten Album war bei den meisten gehypten Bands die Luft draussen und es kam vielfach nur noch Stuss. Anders war dies zu dieser Zeit bei Stephan Eicher. Er hatte damals schon ein riesiges Repertoire, welches ich in meiner Sammelwut natürlich komplett besass, und auch die neuen Songs von ihm hatten das gewisse Extra. Da jedoch niemand anders darauf aufspringen wollte, konnte ich mein Fansein zelebrieren und musste, so dachte ich es zumindest damals, die Eicher-Songs mit niemandem sonst teilen.
Anlässlich der Abschlussreise mit der Fachmittelschule fuhren wir für eine Woche nach Montpellier. Diese Zeit ist mir vor allem aus zwei Dingen extrem in der Erinnerung haften geblieben: Auf der einen Seite, weil ich während der Reise und kurz danach mein erstes Buch «Das Ende der Sehnsucht» schrieb und andererseits weil ich damals Stephan Eicher ziemlich intensiv hörte. Ich hatte auf einem Flohmarkt in der Schweiz eine Kassette vom Album «Engelberg» erstanden, welche ich meinem Französisch-Lehrer Fritz Haas unterjubelte. Er, der beim ganzen Trip mit uns kein Wort Deutsch sprach, fand die Musik auch recht cool, weshalb wir auf dem Hinweg das Werk einige Male rotieren liessen. In Montpellier angekommen machte ich mich auf die Suche nach Musik von Daniel Balavoine. Damals, als das Internet noch relativ frisch war, hatte mir mein Bruder einen Liveclip von Eicher heruntergeladen, bei dem dieser «Tous les Cris, les S.O.S» sang, was mir sofort sehr gut gefiel. Auch von Balavoine habe ich dann einige Platten gekauft, höre sie aber heute eher selten. Im Virgin Mega Store habe ich damals noch die Live-DVD zur Taxi Europa-Tour gesehen, welche ich, damals idiotischerweise nicht gekauft habe und seither nie mehr in einem Geschäft entdeckt habe...
«Eldorado» war dann das Eicher-Album aus dem Jahr 2007, welches ich später wahrscheinlich weitaus am Meisten gehört habe, gut natürlich mit Ausnahme zu «Carcassonne» und «1000 Vies», welche auch heute immer wieder mal in die Stereoanlage wandern. Das Boxset «Traces» habe ich mir dann natürlich auch gegönnt und beim Album «L’envolée» wollte der Funken irgendwie nie so richtig überspringen. Aus diesem Grund hatte ich auch ein wenig Respekt vor dem neuen Werk, denn niemand sieht gerne seinen Jungendhelden fallen. Glücklicherweise hat Eicher mit «Hü!» noch ein ziemlich lebendiges Werk vorausgeschickt, das die Stimmung und Vorfreude auf neue Songs von ihm doch ziemlich angehoben hat. Also hören wir mal rein, wie sich der 59-Jährige schlägt.
«Si tu veux (que je chante)» erinnert mich irgendwie an «I weiss nid, was es isch». Diese sanfte und doch beschwingte Art, die Eicher bei seinen Singleauskoppelungen an den Tag legt, hinterlässt bei mir immer noch sehr viel Eindruck. Was für ein grandioser Einstieg, bei dem mir ständig neue, fast schon vergessene Erinnerungen aufpappen.
Das Titelstück «Homeless Songs» ist mit einer Minute und 18 Sekunden ein klein wenig kurz geraten, was mit seiner Unzufriedenheit mit seiner Plattenfirma liegt. Rebellierend und irgendwie auch spannend, so die alten Zeiten aufleben zu lassen und nicht alles einfach abzunicken.
Die Ballade «Prisonnière» kommt sanft durch den Äther, zeigt dass es für eine grosse Hymne oft nur ein Piano und ein paar Streicher im Hintergrund braucht. Grönemeyer hätte es nicht besser gekonnt.
Endlich kommt mit «Niene Dehei» ein Mundartstück, bei welchem Eicher fast schon flüsternd eine Situation malerisch mit Satzfragmenten nachzeichnet. So poetisch und mit einem leichten melancholischen Nachklang kann das eben nur ein Martin Suter zu Blatt bringen. Der Refrain ist durch übermässige Stimmverzehrung irgendwie komisch, was aber nicht so schlimm ist, da ihm nicht so viel Platz angerechnet wird. Locker wettgemacht wird dieser Fauxpass durch das Zitieren vom Poem «Der Bänz und der Bäri» von Carl Albert Loosli am Schluss, welches irgendwie «urchig» daherkommt und mir sofort ein Schmunzeln auf die Lippen zeichnet.
«Je n’attendrai pas» ist Magie in knapp zwei Minuten, wie sie nur Philippe Djian und Stephan Eicher im Duo hinkriegen. Interessant, welche Fragen ich mir hier beim Hören immer wieder stelle. Wie viele Minuten braucht ein Song zum Fliegen? Wie viel ist zu kurz? Wie viel zu lang? Ich muss ehrlich sagen, der Titeltrack war ein klein bisschen zu kurz, «Niene Dehei» fast ein wenig zu lang und das Lied hier, erscheint mir gerade perfekt.
Ein Pop-Meisterwerk zum sich Wohlfühlen ist «Monsieur – je ne sais pas trop», welches vor allem durch den tollen Aufbau und dem sehr mitsingbaren Refrain brilliert. Die Nummer wird uns im Herbst/Winter sicher noch ein wenig begleiten dank dem guten Geschmack einiger Musikredaktoren. Zu Recht, denn ich weiss auch nicht zu viel, aber ich weiss definitiv wie ein Hit zu klingen hat.
Ein kurzes, wirklich kurzes Intermezzo ist der Song «Broken» und mich beschleicht ein wenig das Gefühl, dass Eicher mit den vielen kurzen Liedfetzen auch ein wenig die bei der Suisa ärgern will, was doch irgendwie lustig wäre.
«Gang nid eso» ist im besten «1000 vies»-Stil gehalten und gefällt mir wahnsinnig gut, denn hier hört man die Poesie von einem Martin Suter untermalt von einem träumerischem Orchester. Auch hier liegt in der Kürze die Würze und das Chanson lässt am Schluss keine Wünsche offen.
«Haiku – Papillons» startet mit einem leichten Piano, Rudolph Stalder der das Gedicht «Summerabe» vorliest und ich finde diese Art Poesie so federleicht in die Musik einzuflechten, ziemlich cool. Nach dem kurzen Loosli-Werk, das für viel Ambiente sorgt, gibt’s einen Sommerabschiedssong, der viel Nostalgie aufkommen lässt und doch so federleicht wie ein Schmetterling davon segelt.
«Né un ver» mit Dan Reeder ist ein ziemlich lustiges Stück, das den Lauf des Lebens hinterfragt und es doch gleichzeitig auch ziemlich zelebriert.
Beim Song «Toi et ce monde» schoss es mir in den ersten Sekunden sofort in den Kopf: «Carcassone!» Denn so wie das Eicher-Album aus dem Jahre 1993 klingt dieses Lied hier. Also mich dünkts fast ein wenig, es hätte damals auf dieser legendären Platte sein können und es hätte überhaupt nicht fehl am Platz gewirkt. Was für ein wunderbarer Flashback.
Alles bleibt «Still» behandelt die Momente, in denen es eigentlich nicht so dumm wäre, mal danke, entschuldigung oder anderes zu sagen. Doch eben, es bleibt alles still. Irgendwie ein «herziges» Mundartlied, dass auch gut als Kinderlied funktionieren würde.
Auf dem zweitletzten Lied «La Fête est finie» holt Eicher gleich zwei Gäste an Bord. Beim Kanon singen Axelle Red und Miossec mit, was spannend und überraschend klingt.
Das letzte Lied «Wie einem der Gewissheit hat», auf dem Neben Eicher Gregor Hildebrandt zu hören ist, beweist auch wieder mal, wie experimentierfreudig er doch immer noch ist. Eine gelungene Mischung aus einem Funkspruch? und seinem Gesang.
Schlussfazit:
Das neue Album von Stephan Eicher mit dem Titel «Homeless Songs» ist eine Perle, denn die Schweizer Musiklegende schafft es nicht nur, seine Lieder auf das Wesentlichste herunter zu brechen, es gelingt ihm auch an Orten, wo die Musik oder die Worte nach mehr Ausdruck verlangen, ihnen den optimalen Raum zu gewähren. Entstanden sind 14 spannende Popsongs, die nicht nur die alten Fans wie mich zu begeistern vermögen, sondern durch ihre auf den Punkt gebrachte Kürze, auch neue Hörerkreise begeistern könnten.
Wenn dieses facettenreiche und tiefsinnige Album als Trotzreaktion und mit wenig Budget entstanden ist, wie würde es wohl klingen, wenn die Plattenfirma Eicher genügend Geld zur Verfügung gestellt hätte? Man kann es leider nur erahnen und hoffen, dass dies nicht das letzte Eicher-Album sein wird. Denn ich will einem Kreativen wie ihm nicht dabei zu sehen, wie er sein Werk bloss noch verwaltet und mit Best of-Kompilations um sich wirft.
Meine Angst, den Jugendhelden Eicher fallen zu sehen, war absolut unbegründet, denn er scheint mit dem Alter noch mehr Tiefe zu erhalten, so dass gewisse Songs ziemlich sicher bald eine Stralkraft wie seine Evergreens aufweisen.
Das Album «Homeless Songs» von Stephan Eicher kann unter diesem Link auf Cede.ch erworben werden.