«Ein sehr seltsames Paar» Teil 2
«So und wem gleicht Jianmin denn nun am meisten?» fragte der Onkel in die Runde. Es war eine Frage, die sich alle Eltern der Welt nach der Geburt ihres eigenen Kindes fragen. Auch Sisi und Zemin hatten sich die Frage gestellt, obwohl nicht ganz die Gleiche. Für Sis war die Frage, ob Jianmin eines Tages Sisi ähneln würde oder nicht.
«Die Bilder, die ich das letzte Mal gemacht habe... da war ich mir sicher, dass man Sisi in Jianmin erkennen kann. Aber auf den Bildern von heute sehe ich das nicht so klar,» sagte der Onkel.
«Es ist wahr... man kann nie ganz eindeutig sagen, ein Kind habe die Gesichtszüge eher seines Vaters oder die seiner Mutter... Das Aussehen ändert fortlaufend,» kommentierte Sisis Vater. Eine Weile lang sprachen sie darüber, wie ähnlich Kleinkinder ihren Eltern waren, und wie wiederum nicht, und wie sie dann als Erwachsene «eine Kopie ihres Vaters oder ihrer Mutter» seien.
Zemin hörte diesen Worten scheinbar unbeteiligt zu. Er war alarmiert. Würde er das Geheimnis, das auch das Geheimnis Sisis war, je preisgeben müssen? Der Schrecken, den er nun empfand, nahm ihm beinahe die Atemluft weg.
«Jedenfalls sehe ich bei Jianmin keine Merkmale, die an Zemin erinnern», meinte der Onkel. Dann gab er Zemin einen Klaps auf die Schulter, «aber als Vater bist du ein ganz guter Mann!»
Sisi war die ganze Zeit hindurch auf Zemins Couch gesessen und hatte geschwiegen. Als die Sprache auf das Aussehen ihrer Tochter kam, schauten ihre Augen suchend zu Zemin. Als die letzten Worte fielen, schauten die beiden sich in die Augen.
Ab ihrem zweiten Geburtstag kam Jianmin in die Obhut ihrer Grossmütter, und zwar in deren Wohnungen: eine Woche lang bei Zemins Eltern, eine Woche lang bei Sisis. An Wochenenden nahmen Sisi und Zemin ihre Tochter wieder nach Hause oder schliefen bei den jeweiligen Eltern zusammen mit Jianmin. Die Eltern hatten geräumige Wohnungen. Die Kleine gewöhnte sich rasch daran, an so vielen Orten zu Hause zu sein. Sie wurde überall verwöhnt. Ihre eigenen Eltern konnten sie auch so regelmässig sehen, etwas abends, wenn Zemin und Sisi sich einfanden, um mit den Großeltern, bei denen Jianmin in jener Woche war, zu Abend zu essen. Sie hatte mittlerweile einen stattlichen Wortschatz erworben. Denn beide Grossmütter liessen Jianmin jeden Tag Kinderfilme und Videos sehen
Jianmin kannte Tiernamen von Känguru bis Zebra und wusste auch, wie diese Tiere aussahen. Auch Zemin spürte einen mächtigen Stolz auf seine Tochter.
Unter den Nachbarn waren alleine das Ehepaar Yao und Mu mit den jungen Eltern befreundet. Manchmal lud Herr Mu oder Frau Yao Zemin und Sisi spontan zum Abendessen ein. Dann konnte die jeweilige Grossmutter einen Abend ganz nach ihren persönlichen Wünschen gestalten und völlig abschalten. Kleinkinder verbinden chinesische Eltern mit allen Erwachsenen, denn jeder liebt Nachwuchs, und nicht ganz zu Unrecht werden Kinder «kleine Kaiser und Kaiserinnen» genannt. Grosseltern wollen die Eltern an Grosszügigkeit bei Geschenken für ihre Enkel überbieten. Die kleinen Kaiser und Kaiserinnen gewöhnen sich auch daran, von völlig fremden Menschen gut behandelt und tüchtig verwöhnt zu werden. Jianmin bekam von Frau Yao schon bald einen Teddybären, der grösser war als sie selber. Die zwei Großmütter bescherten sie fast täglich mit Naschereien. Zemin und Sisi hatten bereits ein Fernsehgerät eigens für ihre Tochter angeschafft. Oft schaute Jianmin fern, während ihre Mutter auf ihrem Mobiltelefon ganz andere Bilder beschaute.
«Was für ein herzliches Paar», bemerkte Frau Yao zu ihrem Mann. «Eine bessere Familie gibt es nicht.» Herr Mu erinnerte seine Frau daran, dass sie vor weniger als zwei Jahren noch ganz andere Töne über Zemin und Sisi angeschlagen hatte. «Das war damals, bevor sie ihr Kind bekamen. Jetzt siehst du, wie ein Kind die Eltern liebend macht.»
Immer öfter kam das Aussehen Jianmins im Kreise der Familie zur Sprache. Mal war es der Vater Sisis, mal Zemins Mutter, die sich wunderte, wann die Kleine endlich eine Ähnlichkeit zu ihrem Vater entwickeln würde. Für Zemin und Sisi waren diese Gespräche äusserst beunruhigend.
Eines Abends, als beider Eltern zu Besuch waren, entspann sich ein Gespräch über Kinder mit Geschwistern. Die ganze Nation hatte eine Generation von jungem und verwöhntem Nachwuchs hervorgebracht. Keine Familie, die nicht doch ein wenig stolz darauf war, wenn jemand ihr Kind als «kleiner Kaiser» oder «kleine Kaiserin» betitelte. Zwar war China kein Kaiserreich mehr, sondern eine Republik, aber seit es mit dem Land so steil aufwärts ging, hatten Eltern immer zuerst ihre Kinder mit Geld und anderen Gaben reichlich bedacht. Manche Lehrer und Erzieher sahen darin den Beginn einer Dekadenz. Und neuerdings wurden Kinder dazu befragt, ob sie sich einen Bruder oder eine Schwester wünschten. Zur Überraschung vieler Fachleute hatten die meisten Kleinen geantwortet, nein. Denn dann muss ich ja mein eigenes Fernsehgerät und Computer mit ihm oder ihr teilen, und dann werde ich sehr unglücklich sein.»
«Aber wir verwöhnen Jianmin ja nicht gerade so wie andere Eltern», fand Zemins Vater. «Und da Jianmin ein Mädchen ist, haben wir ohnehin das Recht, ein zweites Kind grosszuziehen.» Er sprach von Jianmin als ob sie sein Kind war. Wieder wurde es Zemin sehr mulmig zumute. Doch konnte er das Unvermeidliche nicht aufhalten. Die beiden Elternpaare steigerten sich in einen Eifer über Kinderaufzucht.
Es endete damit, dass Zemins Vater dem jungen Paar ein Versprechen machte: «Wenn ihr ein zweites Kind in die Welt setzt, bin ich bereit, euch eine grössere Wohnung zu kaufen.» Die Eltern Sisis wollten da nicht wie schäbige Zaungäste dabeistehen. Sie boten an, für die Inneneinrichtung aufzukommen. «Ein neues Ehebett, zwei Betten für die Kinder, ein Grossbildfernsehgerät, alles, was in die Küche gehört...»
In jener Nacht blieb Sisis Mutter in der Wohnung des jungen Paars. Dieses Mal schlief Jianmin mit ihrer Grossmutter. Das war von allen Grosseltern augenzwinkernd vereinbart worden. «Zemin und Sisi haben schon lange nicht mehr ein normales Eheleben geführt», sagte Zemins Vater. Man hörte verhaltenes Kichern am Tisch.
Und so schliefen Zemin und Sisi zum ersten Mal im gleichen Bett, denn die Couch, auf dem Zemin früher zu schlafen pflegte, stand ja im Aufenthaltsraum, wo am Abend noch zusammen gegessen und geplaudert worden war.
Zemin und Sisi waren sich noch nie so nahe gekommen wie jetzt und doch behielt jeder von ihnen züchtigen Abstand zum Anderen. Ihre Liebe zueinander war mächtig, aber so ganz anders als jene zwischen den Männern und Frauen anderer Paare. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, waren zusammen erwachsen geworden und auf einen Weg in die Zukunft angeschoben worden, den sie nur zu zweit begehen konnten und dabei Geheimnisse zu wahren hatten. Das Geheimnis ihrer wahren Liebe – eine platonische Liebe ohne Erotik. Eine Schicksalsliebe, wie es sie in China zu Zehntausenden gibt. Liebe ist schön, aber sie kann auch schreckliche Ränder aufweisen.
Sie flüsterten zueinander und hielten sich an der Hand. Wie Millionen von chinesischen Ehepaaren der Vergangenheit, die durch ihre Eltern miteinander verehelicht wurden, lernten sie eine Liebe kennen, die auf Gehorchen und wechselseitigem Respekt gegründet war.
Bislang hatten sie ihren Eltern durch Dick und Dünn gehorcht und es nicht bereut. Jetzt aber regte sich Angst in ihren Herzen. Die drei Familien wuchsen zusammen statt selbständige Einheiten zu bilden. Die Eltern der zwei jungen Leute hatten sie miteinander verheiratet. Die Eltern des jungen Paars hatten sich ein Kind gewünscht. Jetzt sollten es zwei werden. Und die Wohnung gehörte dem Onkel. In Zukunft würden sie in ihrer eigenen Wohnung leben, die von den Eltern gekauft worden war.
«Sollen wir nochmal zur Klinik gehen? Aber können wir uns das denn leisten?», fragte Sisi. Zemin erinnerte sich, dass er vor knapp drei Jahren dreissigtausend Yuan bezahlt hatte. «Wenn es nicht masslos teurer geworden ist, sollte es reichen», flüsterte er zurück. Eigentlich hatte er über einhunderttausend Yuan gespart. Auch Sisi hatte Geld zur Seite gelegt. Mit den ersten zweihunderttausend Yuan wollten sie die Anzahlung für eine Eigentumswohnung machen. Leider rannten die Preise für Neuwohnungen den Sparerfolgen davon. Wenige Chinesen wurden über Nacht sehr reich, weil sie ihr Vermögen in Wohnungen anlegten und diese mit riesigem Gewinn weiterverkauften. Es gab Leute, die Dutzende von Wohnungen besassen, davon standen viele leer. Ihre Eigentümer warteten, bis willige Käufer verzweifelt genug waren, auch den doppelten Preis zu bezahlen.
Aber sie hatten ja die Zusage Zemins Eltern, ihnen eine neue Wohnung zu beschaffen. Wenn das zweite Kind gross genug sein würde, kämen sie doch zu etwas mehr Unabhängigkeit von ihren Eltern. Dreijährige konnte man morgens in einem Kindergarten abgeben und sie abends wieder abholen. «Wir müssen es wohl tun», flüsterte Zemin zurück. «Frag du doch morgen einmal, ob Nanfang immer noch In-vitro-Verpflanzungen durchführt, und was es kostet.»
Nur zwei Dinge waren anders bei der zweiten Operation: Sisi und Zemin mussten keine Untersuchungen über sich ergehen lassen, um zu sehen, ob sie zeugungsfähig waren. Die Klinik besass ja ihre medizinischen Untersuchungsbefunde. Zemin war sehr erleichtert. Die zweite Änderung war, dass die Kosten nach oben geschnellt waren. Es kostete nun fünfunddreissigtausend Yuan.
Es gab nur noch eine Hürde zu nehmen: Wie konnten sie sich Auszeit nehmen, um drei Tage im Krankenhaus zu verbringen, ohne dass die Eltern davon erfuhren? Was sollten sie ihnen vorflunkern? Denn eines konnten sie auf keinen Fall tun: Ihren Eltern die Wahrheit sagen. Die Täuschung hatte bereits viel zu lange angedauert. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Eltern eine Notlüge anzudienen.
Es war Sisi, die den Eltern per Telefon mitteilte, dass sie ein grossartiges Reiseangebot bekommen hätte, das sie und Zemin unbedingt ergreifen wollten. Drei Tage, zwei Nächte in einem Ferienort mit Heisswasserquellen. Ob Jianmin bei ihren Großeltern bleiben konnte? Kein Problem. Beide Grosselternpaare rissen sich darum, die Kleine hüten zu dürfen. So einigten sich alle, dass Sisis Eltern Jianmin in der ersten Nacht haben durften, und Zemins in der Nacht darauf. Und am Montag Abend würde sie dem jungen Ehepaar zurückgebracht werden. Sisis Kindergarten gab ihr am Samstag und Montag frei, und auch Zemin nahm sich den Montag arbeitsfrei. Sie packten zwei Reisetaschen voll, während Sisis Eltern die kleine Jianmin für die Autofahrt in ein anderes Wohnviertel der Stadt ankleideten. Der Abschied war kurz aber herzlich. Danach nahmen Zemin und Sisi ein Taxi zur Nanfang-Klinik. Zemin verbrachte die Nächte im gleichen Zimmer wie Sisi, und nach der Verpflanzung der befruchteten Zelle hielt er ihre Hand sehr lange fest.
Seltsam war, dass niemand die beiden jungen Eltern über ihren Ausflug ausfragte. Alle Grosseltern hatten immer nur Jianmins Namen im Mund. Ob Zemin und Sisi sie nicht vermisst hätten? Ja, doch. Und schon holte alle die Routine des Alltags ein.
Als es so weit war, bestanden Sisis Eltern darauf, dass ihre Tochter in einer privaten Klinik entbunden werden sollte. Zemins Eltern pflichteten ihnen bei, und beide Elternpaare versprachen Sisi und Zemin, für die Kosten aufzukommen. Zum Glück wussten die älteren Ehepaare nichts von der Existenz des Nanfang Krankenhauses. Sie fanden gleichwohl eine gute Klinik in der Stadt.
Die Geburt verlief ohne Schwierigkeiten. Das Neugeborene war wieder ein Mädchen. Sie wog fast vier Kilogramm. «Sieht fast wie Zemin nach seiner Geburt aus», befand Zemins Mutter. «Bist du sicher? In meiner Erinnerung sah Zemin ganz anders aus», antwortete Herr Nie. Es klang aber gutmütig, frei von Zweifeln. Alle vier Grosseltern waren glücklich. Auch die kleine Jianmin zeigte Interesse an ihrer neuen Schwester. Diese erhielt den Namen «Jinmin». Jin bedeutete Gold.
Zemin, Sisi, Jianmin und Jinmin bezogen die neue Wohnung. Sie hatten nun drei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine Küche und ein modernes Bad mit elektrischer Duschwassererhitzung. Der Arbeitsweg beider jungen Eltern war allerdings ein bisschen länger, weil die neue Wohnung etwas ausserhalb lag. In den nächsten sechs Monaten blieb Sisi allerdings zu Hause, denn sie erhielt ja wieder Mutterschaftsurlaub. Und weiterhin standen Sisis und Zemins Mutter zur Verfügung. Manchmal verbrachte Jianmin eine Woche bei Zemins Eltern, dann eine Woche bei Sisis. Zemin war mittlerweile von seinem Arbeitgeber befördert worden und stand einer ganzen Abteilung von Künstlern vor. Sein Gehalt war ebenso angeschwollen. Sisi und Zemin führten im Grunde wahrlich ein Traumleben: Vieles daran war unecht, aber nach aussen sah alles glänzend aus, sodass viele sie beneideten.
Die Apokalypse nahte auf leisen Sohlen.
Die Feier zum hundertsten Tag seit der Geburt Jianmin stand bevor. Die beiden Mädchen wurden vom Onkel Zemins frisiert. Bei Jianmin gab es da nicht viel zu schneiden, aber geschnitten wurde trotzdem. Die Haare kamen in zwei unterschiedliche Plastiktüten, die der Onkel mit den Namen der Mädchen versah.
Zum Fest luden die stolzen Eltern in ein Restaurant der Provinz Hunan in der Taojin-Straße. Das Essen schmeckte sehr scharf, weil viel roter frischer Pfeffer dazu gemengt worden war zu Tofu, zu Fisch, zu gedünstetem Kohl, in die Suppe, in der auch Rindfleisch schwamm. An die hundert Gäste waren gekommen, darunter viele Kollegen von Zemins Arbeitsplatz. Jeder Gast gab grosszügig zweihundert oder dreihundert Yuan in rotem Umschlag ab, auf dem «Wohlstand und Glück für alle Zukunft» oder etwas Ähnliches in goldenen Schriftzeichen geschrieben stand. Es gab viele freundliche Neckereien über die jungen Eltern, die nun zwei Töchter zu vermählen hatten. Als einige der männlichen Gäste zu viel Reisschnaps getrunken hatten, wurden die Andeutungen zum Teil etwas zu drastisch. Schließlich sollte ein «richtiger Mann» mindestens einen männlichen Nachfolger für die eigene Familie erzeugen können. Alles andere war unmännlich. Zemin wurde es ungemütlich. Sein Onkel sass ihm gegenüber und schaute ihn befremdet an. Etwas in seinem Blick war neu. Zemin fand diesen Blick als unangenehm. Aber es war zu laut in jenem Raum und Zemin musste immer wieder aufstehen, um mit jemandem auf die Zukunft anzustossen.
Eigentlich mochte er Reisschnaps nicht. Trotzdem war er etwas unvorsichtig geworden und hatte mehrere Gläser voll davon getrunken. Der erste Schluck aus einem frisch gefüllten Glas ging die Kehle hinunter wie Tee. Kein Brennen in der Kehle. Ein sanftes Gefühl von Benommenheit nach dem dritten Glas. Immerhin hat Reisschnaps über 50 Prozent Alkohol. Zemin entspannte sich. Die Lüge seines Lebens schien Geschichte geworden zu sein. Er spürte nur Positives. Er war ein stolzer Vater. Ein stolzer Vater hat eine Ehefrau. Er war auch stolz auf Sisi. Sie besassen eine geräumige Wohnung. Auch darauf war er stolz. Er war nun Abteilungsleiter in seiner Firma. Auch darauf war er stolz. Er und Sisi hatten tolle Eltern und Schwiegereltern. Noch mehr Grund, sich gut zu fühlen. Und so trank er nicht bloss zum Schein, sondern echt: Von den über hundert Gästen waren etwa fünfzig Männer, und mit jeden fünf oder sechs Männern trank er je ein Glas, ein kleines Likörglas von Reisschnaps.
Aber zehn Glas waren doch einige Glas zu viel. Er begann zu lallen und zu schwanken. Zuletzt kam er zurück an seinen Tisch, wo sein Onkel immer noch mit einem starren Blick saß. «Lass uns auch noch anstoßen», sagte Zemin mit schwerer Zunge. Sein Onkel zog schnell das leere Likörglas vor sich weg. Zemin stand links neben seinem Onkel am runden Tisch, in der rechten Hand die halbleere Schnapsflasche, in der linken sein Trinkglas haltend. Erstaunt, dass sein Onkel so reagierte, grummelte er, «na, komm schon. Deinem Neffen ein Glas Schnaps zu verweigern geht doch nicht...»
«Geht sehr wohl,” sagte der Onkel, so leise, dass Zemin es gerade noch hören konnte, nicht aber die Eltern von Sisi und ihm, die ausser Hörweite sassen.
Zemin war zu verblüfft, um mit seinem Onkel zu streiten. Auf so eine Herausforderung war er nicht vorbereitet worden. Im Leben eines jungen Manns geschah das Meiste nach Plan, und der Plan hatte Geschichte, die Jahrhunderte zurückging. Ein junger Mann durfte einem älteren Familienmitglied niemals wiedersprechen oder gegen ihn Zorn zeigen. Er stützte sich einen Augenblick lang auf der Stuhllehne, um das Gleichgewicht zu finden. Als er es gefunden hatte, ging er auf Sisis Vater zu. Der hatte die Szene zwischen Zemin und seinem Onkel nicht beobachtet und hielt Zemin höflich das Likörglas entgegen. Zemin füllte es mit zitternder Hand. Zwei Schritte weiter sass sein eigener Vater. Dieser stand auf und liess Zemin sein Glas füllen. Sisis Vater stand nun auch auf, und alle drei sagten laut, «Gan bei!»
Nur Sisi hatte bemerkt, dass Zemins Onkel sich geweigert hatte, von Zemin Schnaps eingeschenkt zu bekommen. Zwischen ihr und Zemins Onkel gab es nur einen Stuhl, den Zemins, und der war zurzeit unbesetzt. Als Zemin und die Väter von Sisi und Zemin ihre Gläser anstiessen, schaute der Onkel nach rechts und seine und Sisi Augen trafen sich. Sisi spürte ein Unwohlsein verursacht durch diesen stechenden, bohrenden Blick. «Komm mit mir. Ich habe dir was zu zeigen», sagte der Onkel mit leiser aber sicherer Stimme. Wortlos erhob sie sich und folgte ihm hinaus.
Zemin füllte das Glas seines Vaters neu mit Schnaps, doch seine Hand zitterte nun so stark, dass eine gewisse Menge auf die Tischplatte fiel. Wortlos nahm ihm sein Vater die Flasche aus der Hand und füllte das Glas von Sisis Vater. Die beiden Väter stiessen erneut an und sagten mit leicht krakeligen Stimmen «Gan bei!» Zemin ging unsicheren Schrittes um den Tisch zurück zu seinem Sitzplatz und bemerkte, dass Sisi und sein Onkel nicht mehr da sassen. Er schaute sich suchend um und stützte sich dabei schwer auf die Rücklehne seines Stuhls. Da trat sein Onkel in den Raum und setzte sich an seinen Platz. «Wo... wo... wo ist Sisi?» lallte Zemin. Der Onkel schaute kurz auf und zeigte mit der Hand in die Richtung des Korridors, der von jenem Raum wegführte. Zemin torkelte zur Tür, ging durch den Gang entlang mehrerer Türen zu anderen Essräumen und fand die Treppe, die hinunter zum Erdgeschoss führte. Da hörte er ein Schluchzen, das vom Ende des Korridors kam, wo die Toiletten waren. Er erkannte Sisis Weinen.
Sehr viel später an diesem Abend sollte ein schockierter Lokomotivführer erzählen, wie er vom Führerstand seiner einhundertundfünfundzwanzig Tonnen schweren Diesellokomotive und mit einem dreitausend Tonnen schweren Güterzug zwei schwarze Schemen auf dem Gitterrost eines Fussgängerstegs sah. Im gleissenden Scheinwerferlicht seiner Lokomotive zeichneten sich sekundenschnell zwei menschliche Körper ab, die vom Fußgängersteg auf das Gleis vor den Zug fielen. Beide Personen hielten sich umschlungen wie ein Liebespaar. Der Lokomotivführer leitete eine Notbremsung ein. Der Zug kam zum Stillstand. Die beiden jungen Menschen lagen zermalmt hinter dem Drehgestell des siebten Güterwagens hinter der Lokomotive.
Zudem meldete sich ein Taxifahrter, der behauptete, ein schluchzendes Paar von der Taojin-Strasse zu dem Fußgängersteg gefahren zu haben. Die Frau habe ihn bezahlt. Der Mann sei betrunken gewesen wie ein Fisch in einem Aquarium voll Schnaps.
Der Onkel hatte die Essrunde bereits verlassen, als die Eltern Sisis und Zemins anfingen, sich zu wundern, wo das junge Elternpaar abgeblieben war. Gegen Mitternacht nahmen Herr Nie und seine Frau Jianmin, während Herr Lu und seine Frau Jinmin unter ihre Fittiche nahmen. Zuerst gingen die beiden Familien in die Wohnung des jungen Ehepaars und legten die beiden Mädchen schlafen. Die Eltern warteten und warteten, aber Zemin und Sisi kamen in jener Nacht nicht zurück.
Der Onkel sass vor dem Küchentisch in seiner kleinen Wohnung. Es war Mitternacht. Er war noch nicht zur Ruhe gekommen. Sie hatte alles bestritten. Sie schwor, Zemin nie betrogen zu haben. Er schaute sich die Aufnahmen in seinem Mobiltelefon an. Jianmin, jetzt zweieinhalb Jahre jung. Ein bisschen glich sie Sisi, das schon. Aber von Zemins Erbe war keine Spur. Dann Jinmin, hundert Tage alt, und nicht die geringste Ähnlichkeit mit Jianmin, Sisi oder Zemin. Sie war das erste Kind in der erweiterten Familie mit so deutlichen Backenknochen.
Der Laborbefund war unanfechtbar: «Aufgrund der Analyse der abgegebenen Kopfhaare kommen wir zum Schluss, dass die Mutter Lu Sisi ist. Der Vater ist auf genetischer Grundlage nicht feststellbar.» Zweimal – einmal für Jianmin, einmal für Jinmin.
Frau Yao empfing ihren Mann, als der von der Arbeit nach Hause zurückkehrte, mit einer schlechten Nachricht: «So etwas Grässliches! Zwei junge Menschen, offenbar ein Ehepaar, sind vor einen fahrenden Zug gesprungen... Ganz in der Nähe... Die beiden sprangen von der Fussgängerbrücke auf das Gleis. Letzte Nacht, als wir schliefen... Heute Morgen war die Reinigungsmannschaft da und wusch das Blut weg... Ich war unter den Zuschauern...»
«Hab´s bereits auf Weibo gelesen,» grummelte Herr Mu. «Was ist daran so sonderbar? Es gibt jeden Tag Fälle von Leuten, die den Freitod suchen. Sie springen von Wolkenkratzern auf Strassen hinunter... Meistens weil sie hoch verschuldet sind. Bei jungen Menschen ist es oft so, dass sie in Prüfungen an der Universität versagen.»
«Bist du immer so unempfindlich?» fragte Frau Yao, leicht erschrocken über die Gefühlskälte ihres Mannes. «Ich habe gehört, die beiden jungen Leute seien Eltern von zwei kleinen Kindern. Mir kam der Verdacht, dass es sich um das nette Ehepaar handelte, das gegenüber wohnte und dann wegzog, nachdem sie ihr erstes Kind bekamen...»
Roger Beaud
Aus Zürich, geboren 1951;
Globetrotter, Sprachlehrer, Tierfreund, Weingeniesser, hat in Frankreich, Israel, Afrika, und 25 Jahre in China gelebt.