Bild/Illu/Video: Mario Beck & Livia Amstutz

Einsichten - der Versuch einer Radreise durch Ägypten

Wie die Arme eines hungrigen Kraken greift sich das Ungeheuer «Bazar» alles und Jeden. Auch wir wurden vom Pulk aus Menschen, Waren, Tuk Tuks und Eseln verschluckt, als wir in die für uns namenlose Stadt 200 Kilometer südlich von Kairo hinein radelten. Jetzt stehen wir hier und Marios Schere zerschneidet gnadenlos mein Papier. Lieber wäre ich barfuss auf den Mount Everest gelaufen als jetzt Tomaten, Gurken, Orangen und Brot zu besorgen. Gefühlt haben sich alle 102 Millionen Einwohner*innen Ägyptens hier auf dem Marktplatz versammelt. Mich überfordern der Trubel und die Menschenmassen überall. Mario merkt das. Er geht. Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.


Mario stürzt sich in das Getümmel des Marktes und findet Spass daran. Er interagiert und kommuniziert - auch ohne gemeinsame Sprache - viel hemmungsloser und ungezwungener mit den Menschen als ich. Schade, kann ich die Situation gerade nicht geniessen. Sind es doch genau solche Erlebnisse, die mich immer wieder in die Ferne ziehen. Durch den Markt schlendern, in fremde Gerüche und Farben eintauchen, hier und da etwas Unbekanntes kosten, einen kurzen Schwatz mit den Marktfrauen und -männer halten. Klingt wunderbar. Ist es auch oft. Aber halt nicht immer. Reisen fordert. Nicht zu verwechseln mit Ferien.


Ferien hatten wir zuletzt vor gut 5 Wochen. Nach 6 Monaten Radreise hatten wir uns auf Zypern einige Tage in einem Ferienhäuschen verkrochen. Dann waren wir mit frischer Energie durch Jordanien geradelt und mit der Fähre nach Ägypten übergesetzt. Seit zwei Wochen sind wir nun hier. Was ist also passiert, dass ich schon wieder so fertig bin?


Eine ganze Menge, doch im Vergleich dazu, was noch Folgen sollte, eigentlich noch gar nicht viel. Aber eins nach dem anderen.

Die Fähre legt in Taba Heights, einem Ferienort auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel, an. Naja, Ort ist wohl etwas zu viel gesagt. Es ist eine Ansammlung von Hotelanlagen mitten im Nichts der Geröllwüste. Die anderen Passagiere verlassen, beeindruckende Gepäcksmassen schleppend, das Schiff und eilen ihrem Urlaub entgegen. Hassan und Amira winken uns kurz zu und verschwinden ebenfalls. Auf dem Boot waren wir mit ihnen ins Gespräch gekommen. Sie leben in Amman und feiern ihren Hochzeitstag mit Ferien am Roten Meer. Die Familie ist auch dabei. So sind sie ein bescheidenes Grüppchen von 42 Personen.


Bis wir die Velos wieder vollständig beladen haben, ist es ruhig und leer auf dem Bootssteg. Vier Männer mit strengem Blick kommen auf uns zu. Drei in zivil, einer in weisser Polizeiuniform, die uns noch sehr vertraut werden sollte.

«Passport», fordert einer der vier. Lächelnd zücken wir unsere Pässe. Schweigend werden sie reihum studiert. Dann entflammt eine lebhafte Diskussion auf Arabisch, deren Inhalt sich uns nicht erschliesst. Der Kapitän des Bootes kommt hinzu. Er spricht Englisch und ist so freundlich für uns zu übersetzen.

«In welchem Hotel habt ihr reserviert?» - «In keinem. Wir fahren mit dem Fahrrad nach Kairo.»

«Wo habt ihr das Visum her?» - «Die ägyptischen Botschaft in Akaba, Jordanien hat es uns ausgestellt.»

«Wieso habt ihr als Fahrradfahrende ein Visum bekommen?» - «Wieso nicht?»

«Habt ihr eine Sondergenehmigung?» - «Nein, wozu?»

«Wo werdet ihr übernachten?» - «Im Sakratah Camp», flunkern wir. Das ist ein Campingplatz ganz in der Nähe. Den haben wir rausgesucht, um genau diese Frage beantworten zu können. Insgeheim planen wir aber, wild zu campen. Die Männer verschwinden ohne weitere Erklärung mit unseren Pässen im Gebäude. Der Bootskapitän klärt uns auf, dass wir eben einem Mann von der Einwanderungsbehörde, einem vom Nachrichtendienst, einem Detektiv und einem Polizeioffizier gegenüberstanden waren. Wow, ein ziemliches Aufgebot.


Die vier Männer kehren zurück.

«Ihr dürft mit den Fahrrädern nicht einreisen. Wieso habt ihr in der Botschaft in Akaba nichts von den Fahrrädern gesagt? Ihr hättet kein Visum bekommen dürfen», erklärt uns der Mann vom Nachrichtendienst, der offenbar mit der Botschaft in Akaba telefoniert hat.

Nun ist das Visum aber im Pass und wir würden ja soo gerne die Pyramiden in Kairo sehen, schmeicheln wir.

Es folgt eine weitere Diskussion. Unser Übersetzer musste zwischenzeitlich wieder nach Jordanien zurück schippern. Irgendwann dürfen wir mit ins Gebäude hinein. Wir sind froh aus der Sonne zu kommen.


Drinnen müssen wir die Fahrräder abladen, das gesamte Gepäck wird gescannt und durchsucht. Aber immerhin, irgendetwas passiert. In einem engen Gang sitzen wir auf Plastikstühlen. Die inzwischen wieder beladenen Velos versperren fast den ganzen Durchgang. Wir warten. Worauf genau, wissen wir nicht. Immer wieder kommen andere Männer und fragen uns nach den Pässen. «Irgendeiner deiner Kollegen hat sie», machen wir mehr mit Gesten denn mit Worten verständlich.

Irgendwann wechseln wir auf Plastikstühle im Freien. Auf der anderen Seite des Gebäudes. Wurde uns die Einreise jetzt also gewährt? Einige Zeit und zwei Gläser Tee später, bekommen wir die Antwort: Ja! Juhui! Das fette «Aber» folgt sogleich: Fahrradverbot auf dem Sinai. Wir müssen mit dem Bus nach Kairo reisen. Als wir nicht einmal die 6 km bis zum Campingplatz fahren dürfen, wird uns klar, dass das wörtlich gemeint ist.


Per Minibus und Polizeieskorte - eine vor und eine hinter uns - werden wir nun ins Sakratah Camp gebracht. Den Minibusfahrer müssen wir bezahlen: 28 US-Dollar, ein guter Stundensatz.

Ahmed, seine Freundin Basant und deren Mutter Shereen, sind drei engagierte und herzliche Menschen, die das Camp führen. Wir geniessen das Meer, die Ruhe und die karge Umgebung. Spazieren gehen ist erlaubt - aber nur am Strand. Langsam beginnen wir zu realisieren, wo wir sind. Eine «critical area» so nennt es Ahmed. Was genau er damit meint, führt er nicht aus. Mittlerweile meinen wir zu wissen, dass er damit den stetig wachsenden Einfluss des IS und seine Aktivitäten auf dem Sinai umschreibt. Doch so direkt spricht das hier keiner aus. Der IS hat Ausbildungscamps auf der Halbinsel und gewinnt Teile der lokalen Bevölkerung für sich. Nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern weil die wirtschaftliche Lage der Menschen einfach katastrophal ist. Der IS bringt Jobs, Geld, Versprechungen. So kommt es schon mal vor, dass der nette Hirte von nebenan, ein Mitglied des IS ist. Israel und Ägypten versuchen gemeinsam dem Einhalt zu gebieten und die Lage unter Kontrolle zu halten. Das gelingt mehr schlecht als recht.


Riesige, wunderschöne Geisterhotels liegen brach an der Küste. Wir streunen durch das benachbarte Anwesen. Die Zimmer sind teils noch eingerichtet, in der Spa-Boutique warten Beautyprodukte geduldig auf Kund*innen. Unerwartet treffen wir auf ein paar Männer, die plaudernd bei Tee zusammensitzen. Seit 6 Jahren ist es deren Job, das langsam zerfallende Hotel vor Eindringlingen - wie uns - zu schützen.


Wir hatten die etwas naive Vorstellung von herkömmlichem Tourismusgeschehen mit Restaurants, Flaniermeilen und Ferienorten, als wir auf den Sinai kamen. Gilt das Rote Meer ja als Tauchparadies und auf der Karte sind jede Menge Hotels eingezeichnet. Dass es hier nicht üblich ist, sich aus der Hotelanlage zu entfernen und dass 3/4 der Hotels leer stehen, sieht man auf der Karte nicht. Um das Sakratah Camp zu verlassen, arrangiert Basant, dass der Bus nach Sharm el Sheik an der Hauptstrasse beim Camp wartet und uns auflädt. Es sind 300 m vom Camp zu Hauptstrasse. Wir müssen laufen und die Räder stossen. Ahmed fährt zu unserer Sicherheit mit dem Auto hinterher.


Spätestens, als wir mit dem Bus nach Sharm El Sheik hineinfahren, ist klar, dass die ägyptischen Behörden alles versuchen, um die Scheinwelt des unbeschwerten Tourismus aufrecht zu erhalten. Die Stadt ist weiträumig mit einer Betonmauer abgeriegelt, mit Panzern und schwerstem Geschütz bewacht. Drinnen findet sich dann «Tourismus Bling-Bling» vom Feinsten. Es könnte überall auf der Welt sein. Mit dem Flugzeug anreisende all-inclusive Touristen verbringen unbeschwerte Tag am Meer, erstehen überteuerte Gewürze und Pharao-Figürchen auf dem Bazar und bleiben im Unwissen darüber, wie gut Vater Staat sie bewacht.


Für uns hat das den Vorteil, dass wir uns in Sharm El Sheik ganz unbehelligt mit dem Fahrrad fortbewegen können. Wir bleiben aber nicht länger als nötig. Wir wollen nach Kairo und das «richtige» Ägypten sehen. Beim Versuch, klare Infos zu Abfahrtszeit und -ort von Bussen nach Kairo zu bekommen, scheitern wir. So radeln wir nach einer Nacht in Sharm El Sheik früh am Morgen los und fragen uns zur richtigen Busstation durch. Das klappt erstaunlich gut. Ein Bus steht mit laufendem Motor einsam auf einem Kiesplatz.

«Kairo» fragen wir einen der Herumstehenden.

«Naem», antwortet ein mit Leuchtweste bekleideter drahtiger Mann. Also ja.

«When», frage ich und deute auf mein Handgelenk um eine Uhr zu symbolisieren.

«Alan – now», sagt er, der sich als Gepäcksverantwortlicher herausstellt.


Wir zeigen auf die Velos, er nickt. Ich renne in die überraschend moderne, aber leere Schalterhalle, um Tickets zu kaufen. Mario lädt währenddessen in Windeseile die Velos ab und verstaut sie mit Hilfe des Drahtigen möglichst schonend im Gepäcksraum des Busses.

Der Fahrer wirkt schon leicht gestresst. Tatsächlich fährt der Bus sofort ab, sobald wir und unsere sieben Sachen drinnen sind. Oje, nicht dass der Fahrplan wegen uns noch durcheinandergeraten ist?

Stunden später kriecht unser Bus durch dichten Verkehr. Wir sind hier: Kairo. Wie verheissungsvoll das klingt: Pyramiden, Pharaos, der Nil, eine Stadt für Abenteurer und Entdeckerinnen. Doch der schillernde Name vermag nicht über die harte Realität hinweg zu täuschen. Die Stadt bröckelt vor sich hin und platzt aus allen Nähten. Marode, graue Gebäude, wild gezogene Leitungen, Menschen, Warenstände, Mopeds und Autos, Dreck und Lärm, soweit das Auge und Ohr reicht. Jährlich wächst die Stadt um 2,5 Millionen Menschen. Das wäre selbst für einen funktionierenden Staat nicht zu bewältigen. Wie weit Ägypten von einem funktionierenden Staat weg ist, wird uns erst im Verlaufe dieser Reise klar.  


Wir hatten uns nicht speziell auf Ägypten vorbereitet. Warum auch? 10 Millionen Touristen besuchen das Land jährlich. Die meisten davon kommen begeistert zurück. Auch unter Radreisenden ist die «Kairo to Cape Town»-Route durchaus eine beliebte Herausforderung, die vor uns schon zig-fach gefahren wurde. So hatten wir zwar von den berüchtigten Polizeieskorten und den langwierigen Einreiseprozedere gelesen, doch sahen wir diesen gelassen entgegen. Wir sind ja schliesslich nicht zum ersten Mal mit dem Fahrrad in Afrika unterwegs, dachten wir uns. Wir freuten uns sogar auf etwas mehr Chaos, auf dieses «Ich verstehe absolut nicht, was abgeht»-Gefühl.  Macht es doch ein Teil des sich weit weg Fühlens aus. Oh, hüte dich vor deinen Wünschen – sie könnten in Erfüllung gehen.

Nebst den Touristenattraktionen war uns über Ägypten bekannt, was man halt so mitbekommt: arabischer Frühling 2011, Terroranschläge einige Jahre später, Tourismuskrise seit Covid-19.


Dann merkten wir, wie prekär die Lage tatsächlich ist. Ägypten hat keine nennenswerte Industrie. Landwirtschaft wird nur von Kleinstbetrieben und Selbstversorgern betrieben. Der Tourismussektor ist die wichtigste und einzige Einnahmequelle für ganz viele Menschen. Hotelbesitzer, Tourguides, Marktfrauen - sie alle sind verzweifelt. Von einem Tag auf den anderen haben sie ihre Lebensgrundlage verloren. 2020 kamen nur 3,5 Millionen Besuchende ins Land. Der Staat hilft nicht. Wie auch. Die Staatskassen sind leer. Ägypten kann sich nur dank Hilfszahlungen aus Europa und dubioser Geschäfte mit China und Indien mehr schlecht als recht über Wasser halten.

Apropos: Die Wasserleitungen lecken überall. Die enorme Wasserknappheit wird dadurch unnötig verschärft. Seitenkanäle des Nils werden als Müllhalde und Abwasserkanäle genutzt - aus Mangel an Alternativen.


Politisch sieht die Lage kaum erfreulicher aus. Der arabische Frühling gilt als gescheitert. Der demokratisch gewählte Präsident Mursi war nur ein Jahr im Amt. 2013 putschte sich General Abdel Fatah El-Sisi mit Hilfe des Militärs gewaltsam an die Macht. Diese hat er noch heute inne. Er regiert repressiv und autokratisch. Die demokratischen Werte waren selbst unter Präsident Mubarak - vor dem Arabischen Frühling - noch höher. Die Medien werden vom Staat kontrolliert. Das Militär und die Polizei geniessen ein hohes Ansehen. Oder haben die Menschen einfach nur Angst? Das ist manchmal schwer zu unterscheiden. Die Angst wäre jedenfalls berechtigt. Ägypten hält Schätzungen zu Folge 60’000 politische Gefangene: Journalistinnen, Menschenrechtler, politisch Aktive. Ein trauriger zweiter Platz in der Weltrangliste, denn nur China vermag das noch zu überbieten.

Das alles ist mitverantwortlich, dass unsere Ägyptenreise so war, wie sie war. Sie war herausfordernd und hat uns an unsere Grenzen gebracht. Natürlich auch, weil wir sind, wie wir sind. Obwohl wir Begegnungen mit Menschen sehr schätzen, ist uns ständig im Mittelpunkt zu stehen, kaum Privatsphäre zu haben, die Aufmerksam der Leute ständig auf uns zu ziehen, durchaus auch einmal zu viel. Je älter wir werden, desto mehr können wir Ruhe, Natur und Einsamkeit abgewinnen.


Die Menschen reagierten sehr heftig auf uns. An den wenigen Tagen, an denen wir tatsächlich mit dem Fahrrad unterwegs sein konnten, war es besonders intensiv. Unaufhörlich wurde gehupt, gegrüsst, geschrien - manchmal freundlich, manchmal nicht. Mir als Frau wurden zusätzlich obszöne Gesten und unangenehme Blicke zuteil. Ein Mann fasste mir gar an den Hintern, als er mich auf dem Fahrrad mit seinem Motorrad überholte. Lachend und winkend fuhr er davon, als ich erschrocken und empört aufschrie. Nie war ich mir meines Frauseins so bewusst wie in Ägypten. Und das ist leider nicht positiv gemeint. Mir war nicht klar wie anstrengend und irritierend es ist, immer «Frau» zu sein. Gleichzeitig begreife ich, wie privilegiert ich bin, dass ich diese Erfahrung erst mit 34 Jahren mache. Ich habe schon einige arabische Länder bereist. Bisher habe ich mich dabei im Grossen und Ganzen immer sehr wohl und respektiert gefühlt. In Ägypten bin ich mir da plötzlich nicht mehr so sicher.

Doch wie so oft auf so einer Reise liegen Freud und Leid dicht beieinander. Die schönen Begegnungen, die es zweifelsohne auch gab, bleiben so noch viel präsenter in Erinnerung.

Eine davon ist der «Ananas-Junge».

Es ist Mittagspausezeit. Wir liegen auf spärlich grünem Gras vor einer Moschee im Schatten eines Baumes. Begonnen hat alles ganz normal: wir sind von der Hauptstrasse abgebogen und haben einen Mann bei der Moschee, gefragt, ob wir hier Pause machen dürfen. Er bejahte. Mit der Zeit sammelte sich eine ganze Schar Kinder in einigen Metern Entfernung zu uns. «What’s your name?», «How are you?», rief es laut und ununterbrochen. Der Moschee-Mann beschimpft die Kinder und wirft Steine nach ihnen. Einerseits sind wir froh, ist der Mann da. Denn einen Tag zuvor waren wir während unserer Mittagspause von über 30 Kindern massiv bedrängt worden. Da hatte es dann «Fuck you» statt «How are you» getönt und es waren Steine geflogen. Vorbeikommende Passanten hatten uns nahegelegt, weiter zu fahren, bevor die Situation eskaliere. Andererseits wollen wir auf keinen Fall, dass der Mann die Kinder unseretwegen - oder überhaupt - mit Steinen bewirft. Wir versuchen dem Mann zu zeigen, dass er die Kinder nicht auf diese Art zu verscheuchen brauche. Gleichzeitig wollen wir ihm gegenüber nicht unhöflich sein oder seine Autorität untergraben, stehen wir ja quasi unter seiner Obhut. Maximal unangenehm das Ganze. Ein etwa 8-jähriger Jungen löst sich aus der Gruppe. Mit einer Tüte in der Hand kommt er näher. Der Mann fuchtelte mit den Armen und schnauzt ihn an. Tapfer läuft der Junge weiter. Er sagt etwas zu dem Mann, worauf er ihn passieren lässt. Der Junge lächelt uns schüchtern an und streckt uns die Tüte entgegen. Er schenkt uns zwei kühle Dosen Ananas-Schweppes. Sprachlos vor Überwältigung stottern wir ein «Shokran ketir» und legen zu Untermalung unseres Dankes die Hand aufs Herz.


Dann eines frühen Nachmittags, ist er plötzlich da, «unser» Eskortepolizist. Am Strassenrand verzehren wir gerade Orangen, die Mario unter Einsatz seines Lebens früher an diesem Tag auf dem Bazar erstanden hat, als der Polizist ganz in weiss sein Motorrad vor uns parkt. Wie schaffen die es bloss, ihre Uniform immer so strahlend weiss zu halten? Wir sind immer von oben bis unten mit Staub und Sand bedeckt. Der Polizist lächelt, winkt und sagt nicht viel. Als wir weiterfahren, fährt er gemächlich hinter uns her. Nach 15 km verabschiedet er sich und wendet. Sein Zuständigkeitsbereich endet wohl hier, denn wir sind kurz vor der nächsten grösseren Ortschaft. Bei der Stadteinfahrt ist wie immer die Polizei stationiert und führt Kontrollen durch.  


Wir müssen anhalten und unsere Pässe zücken. Diese verschwinden mit einem Mann in zivil im Gebäudeinneren. Auf einer Steinbank nehmen wir Platz, warten und bekommen Tee serviert. Mittels Übersetzungsapp versuchen wir uns zu unterhalten und unser Vorhaben - mit dem Fahrrad in den Sudan zu fahren - zu erklären. Die Männer sind freundlich, doch die Kommunikation sehr schwierig. Die non-verbale Kommunikation funktioniert kaum mehr. Zu unterschiedlich scheint das Mindset zu sein. Konnten wir in den bisher bereisten Ländern mit nur wenigen Worten und Gesten gefühlt richtige Gespräche führen, ist das in Ägypten vorbei. Selbst wenn die verbale Kommunikation möglich ist, haben wir oft das Gefühl, gegen eine Wand zu reden. Wir finden keinen gemeinsamen Nenner mit den meisten Ägyptern. Das *innen ist bewusst weggelassen. Mit Frauen kommen wir so gut wie gar nicht in Kontakt. Schade.


Trotz Kommunikationsschwierigkeiten begreifen wir, dass die Polizisten uns nicht weiterfahren lassen wollen. Zu gefährlich sei es. Wieso wir keinen Guide haben und mit welchem Reiseunternehmen wir unterwegs seien, wollen sie wissen. Ob wir eine Sondergenehmigung haben, um alleine zu reisen, fragen sie. Touristen dürfen nicht alleine reisen, heisst es immer wieder. Wir einigen uns, dass wir mit dem Zug nach Assuan, eine Stadt 700 km südlich von hier, weiterreisen dürfen. Angeblich hält hier aber kein Zug, wir müssen 60 km zurück. Die Polizei hält einen kleinen Getreidetransporter an, der uns die Strecke zurückfahren soll. Widerwillig stopfen wir die Velos und unser Gepäck zwischen die Säcke. Hinter uns bildet sich eine lange Autoschlange und die Leute hupen ungeduldig. Der Transporter hat mittendrin angehalten und blockiert die Strasse. Auch die Polizisten treiben uns zur Eile an, doch es dauert eben, bis wir unser gesamtes Hab und Gut, zu unserer Zufriedenheit festgebunden haben. Endlich fahren wir los. Wir kommen ganze 15 km weit. Dann wirft uns der Getreidemann wieder raus. Er fährt gar nicht weiter. Voll verarscht.


Ein paar Meter weiter der nächste Polizeiposten. Die Männer haben uns schon wahrgenommen. Wir fahren dahin und das ganze Frageritual fängt von vorne an. Nur dass die uns für komplett gaga halten, weil wir sagen, wir wollen nach Assuan beziehungsweise in den Sudan, aber in Richtung Kairo unterwegs sind. Zudem wissen wir grad selbst nicht mehr, was wir wollen. Mit dem Fahrrad weiterfahren oder doch lieber zum Bahnhof? Was wir aber wissen, ist, dass es bald dunkel wird, wir müde und hungrig sind und keine Ahnung haben, wo wir heute unser Zelt aufstellen können. Irgendwann kommt ein Officer, der etwas Englisch spricht. Er sagt, wir müssen zurück nach Kairo und eine Sondergenehmigung holen. Nein, auf keinen Fall, fahren wir in diese laute, riesige Stadt zurück. Mittlerweile ist es dunkel und wir fragen ihn, was er sich denkt, wo wir heute schlafen, wenn sie uns schon nicht weiter lassen? Er schlägt den Bahnhof vor. Aha, Fahrradfahren ist zu gefährlich, aber am Bahnhof schlafen ist okay? Nach zähen Verhandlungen einigen wir uns wieder darauf, dass er uns mit dem Zug nach Assuan fahren lässt. Mit einem feuerwehrroten Pickup werden wir in Begleitung von vier Männern an den Bahnhof gefahren. Der englischsprechende Officer kauft uns ein Ticket. Leider fahre von hier aus kein Zug nach Assuan, wir müssen umsteigen sagt er. In Gizeh. «Gizeh?! Kairo?» fauche ich ihn entgeistert an. «Ja.» Voll verarscht zum Zweiten. Wir kapitulieren. Wir merken, wir kommen aus dieser Situation nicht mehr raus, bevor wir nicht in diesem verdammten Zug zurück nach Kairo sitzen. Der Zug fährt ein und das eigentliche Kabarett beginnt. In den Hauptrollen zwei vollbepackte Reiseräder, deren Besitzer*innen, zwei Zugangestellte, ein Schaffner und ein Caféwagenverkäufer. Die Bühne: der schmale Gang zwischen zwei Zugwaggons. Mario und ich stehen zwischen den Rädern eingequetscht im Gang und überlegen, wie wir diese am besten verstauen, als die anderen vier Protagonisten auftauchen. Der Mann mit dem Caféwagen will hier durch. Wir bedeuten ihm, dass er sich leider etwas gedulden muss, wir machen aber gleich Platz. Der Schaffner meint, so können wir nicht stehen bleiben, der Caféwagen muss hier durch. Noch während wir antworten, dass uns das klar ist, beginnen die zwei anderen Zugangestellten, deren genaue Funktion im Dunkeln bleibt, an unseren Fahrrädern herumzudrücken und zu ziehen. Oje, das mögen wir gar nicht. Sie sind unser wertvollster Besitz und sollen auch so behandelt werden. Das ist den meisten Menschen - verständlicherweise - nicht klar. Es wird diskutiert, gefuchtelt und geschimpft. Lösungsvorschläge unsererseits wie, den Caféwagen über die Fahrräder zu hieven, damit der Cafémann wenigstens kurzfristig aus dem Weg ist und seinem Job nachgehen kann, werden abgelehnt. Vorschläge wie, die Fahrräder in einen schuhkartongrossen Wandschrank zu verstauen, lösen hingegen bei uns irritiertes Staunen aus. Das Stück dauert 45 Minuten und endet mit dem Vorschlag des Schaffners beim nächsten Halt in den letzten Waggon um zu steigen - da ist der Gang grösser und der Cafémann muss nicht durch. Alle sind einverstanden. Sind wir erst einmal umgestiegen, versöhnt sich das Ensemble bei gemeinsamem Tee.

Stunden später fährt der Zug im Bahnhof ein: Kairo zum Zweiten. Der verheissungsvolle Name hat für uns mittlerweile jeglichen Glanz verloren. Wir verbinden Kairo vor allem mit Lärm, Stress und mörderischem Verkehr. Mitternacht ist grad vorbei, als wir aus der Bahnhofshalle treten. Der Bahnhofsplatz ist rammelvoll. Wie ferngesteuert suchen wir uns den Weg des geringsten Widerstandes und gelangen auf die Strasse. Ein T-Shirt, Smartphone oder eine Motorsäge gefällig? Kein Problem, auf Kairos Strassen gibt es alles zu jeder Tages- und Nachtzeit zu kaufen. Wir brauchen jetzt aber vor allem ein erschwingliches Hotelzimmer. Autos drängen sich dicht an dicht auf der unübersichtlichen Kreuzung. Es hilft nichts, wir müssen auf die andere Seite. Also, Augen auf und durch. Beim ersten Hotel werden wir tatsächlich wieder weggeschickt als wir die Velos erwähnen. «Nein, keine Fahrräder erlaubt.» Wow, die ziehen das echt durch. Beim zweiten Hotel treffen wir auf das heitere Gesicht von Mohammed. Er will wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Obwohl seine Freundlichkeit eine Wohltat ist, überfordert uns sein Enthusiasmus gerade ziemlich. Auf dem obligaten Foto, das noch geschossen wird, Lächeln wir wohl ziemlich schief.

War ich je so müde? Ich falle ins Bett und will nur noch schlafen. Mario braucht noch etwas, um zur Ruhe zu kommen. Der Tag war lang: 100 km Fahrrad gefahren, bestimmt 1000 Menschen gegrüsst, mit gefühlt ebenso vielen Polizisten gezankt und 5 Stunden im Zuggang am Boden gesessen. Dabei haben wir die Tatsache, dass wir wieder in Kairo sind und keine Ahnung haben, wie wir die 1200 km bis in den Sudan hinter uns bringen sollen, noch gar nicht richtig realisiert, geschweige denn verarbeitet. Darum kümmern wir uns Morgen.


Wir verdauen das Erlebte. Kairo führen wir uns nur in kleinen Dosen zu. Wir lernen unser Quartier kennen und das Quartier uns. Die Frau vom Falafelstand um die Ecke erkennt uns schon beim zweiten Besuch und grüsst uns fortan, wenn wir vorbei spazieren. Wir schöpfen etwas Energie. Im Hotel verbringen wir viel Zeit mit recherchieren und planen. Wir tauschen uns mit Locals aus. Das Ergebnis ist eindeutig: sowas wie eine Sondergenehmigung für Individualreisende gibt es nicht. Die Polizisten handeln willkürlich und hoffen auf Bestechungsgelder. Das ist uns in unserer Naivität nicht einmal in den Sinn gekommen. Wir beschliessen, das Projekt «Backpacking mit Rad» zu starten und mit dem ÖV nach Abu Simbel zu fahren.


Mit dem Nachtbus geht es nach Luxor. Dort steigen wir in den Zug nach Assuan. Das schreibt sich jetzt so einfach, doch die Reise war ziemlich beschwerlich. Es war ein nervenaufreibendes Hickhack bis wir Abfahrtsorte und -zeiten herausgefunden haben. Am Bahnhof in Luxor verzweifeln wir fast, als wir es nicht schaffen, ein Ticket zu kaufen. Der junge Mann am Schalter scheint verstanden zu haben, dass wir samt Fahrrädern nach Assuan wollen. Doch wenn es ums Bezahlen geht, sagt er einfach immer wieder «la – nein». Umherstehende mischen sich ein, doch wir verstehen nicht, warum wir kein Ticket kaufen können. Ich verfluche mich, dass ich es versäumt habe, besser arabisch zu lernen. Die Übersetzungsapp hilft kaum weiter. Drücken wir uns so unverständlich aus? Ein anderer Gedanke beschleicht uns. Können manche Leute etwa nicht lesen, was wir in die Übersetzungsapp schreiben? Tatsächlich erfahren wir später, dass die Analphabetenrate in Ägypten unglaubliche 39 Prozent beträgt. Ein beachtlicher Teil der Erwachsenen hat nie eine Schule besucht. Viele Kinder tun dies auch heute nicht. Das erklärt die herumstreunenden Kinderscharen an allen Ecken.


Der Zug fährt in wenigen Minuten ab, wir haben immer noch kein Ticket. Sollen wir einfach zusteigen und versuchen im Zug zu lösen? Plötzlich spricht uns eine Frau an. Auf Englisch - eine Wohltat in unseren Ohren. Ein violettes Kopftuch umrahmt ihr offenes, hübsches Gesicht. Sie ist vom Tourismusbüro und klärt uns auf: das Ticketsystem am Schalter funktioniert nicht, wir müssen unsere Billette direkt im Zug lösen. Wir bedanken uns hastig und eilen zum Gleis. Erst als wir neben unseren Velos im Zuggang sitzen - dieses Mal ohne den ganzen Durchgang zu blockieren - fragen wir uns, wo die nette Dame eigentlich so plötzlich herkam. Hat einer der Schalterjungs sie etwa extra unseretwegen hergeholt? Vielleicht. Jetzt haben wir ein schlechtes Gewissen, dass wir nicht nachgefragt und uns richtig bedankt haben.


In Assuan endet die Zugstrecke und die Zivilisation. Knapp 300 km sind es bis nach Abu Simbel, dem letzten Ort vor der Grenze. Dazwischen gibt es kaum etwas, ausser Sand und Steine. Wir scheitern beim Versuch, uns bezüglich Bussen nach Abu Simbel schlau zu machen. Es gibt mehrere Fernbusbahnhöfe am Stadtrand und ausserhalb Assuans. Tickets muss man aber in den Büros der Busunternehmen im Stadtzentrum kaufen. Die «Büros» sehen alle gleich aus: zwei, drei Männer sitzen auf Plastikstühlen in offenen, kleinen, leeren Ladenlokalen, die mit grellbunten Bildern von Bussen tapeziert sind. Keiner der Herren ist in der Lage uns zu erklären oder auf der Karte zu zeigen, von welchem Busbahnhof ihre Busse abfahren. «No Problem» ist die Antwort auf all unsere Fragen. Doch dass wir nicht wissen wo der Bus fährt, und dass das Ticket für ein Fahrrad dreimal so teuer ist, wie für eine Person, ist für uns durchaus ein Problem. Wie geben entnervt auf für heute. Obwohl es erst Nachmittag ist, erscheint uns der Tag endlos. Sind wir tatsächlich erst gestern Abend in Kairo in den Bus gestiegen?


Obwohl wir seit Kairo immer in Nilnähe sind, haben wir ihn noch nie richtig gesehen. Ein Versäumnis, das wir jetzt nachholen wollen. Wir suchen uns ein Hotel mit Nilblick. Wir landen in einer grossen, verwaisten Hotelanlage. Uns empfängt eine Desinfektionsdusche, ein gelangweilter Sicherheitsbeamter und ein schläfriger Rezeptionist. Auf dem Weg zum Zimmer blüht der Schläfrige kurz auf, als er uns begeistert auf die Terrasse mit Pool aufmerksam macht. Pool? Geil! Wir spähen hinaus und lachen laut auf: der Pool ist leer.

Wir sind nass und klebrig von Schweiss, Desinfektionsmittel und Sandstaub. Frisch geduscht, fallen wir ins Bett und lassen uns von der Klimaanlage in den Nachmittagsschlaf brummen.


Als wir aufwachen, neigt sich der Tag dem Ende zu. Die Klimaanlage ist verstummt und hat das Zimmer heiss und stickig werden lassen. Wir verziehen uns auf den Balkon. Nun kommen wir endlich dazu, den Nil zu würdigen. Majestätisch windet er sich durch die staubtrockene Landschaft. Ewig gleich. Mit der Dunkelheit kehrt Ruhe ein, auch in uns. Wir merken, dass wir mehr davon brauchen. Wir kochen Nudelsuppe, kuscheln uns in die Kissen und verbringen die Nacht auf dem winzigen Balkon unter einem riesigen Sternenhimmel.


Am nächsten Morgen machen wir uns auf, ein anderes Hotel zu suchen. In der riesigen leeren Anlage fühlen wir uns verloren. Etwas Gemütliches, kleines schwebt uns vor.  Im Wanas Kato Guesthouse finden wir genau das. Es ist eine Wohltat für Augen, Nase und Ohren: nubisch bunt eingerichtet mit wohlriechende Duftschalen bestückt und ruhig am Ende eines Weges direkt am Nilufer gelegen. Wir spannen einen Tag aus, bevor wir uns der Frage «Wie kommen wir nach Abu Simbel» widmen. Kurz hatten wir mit dem Gedanken gespielt, mit dem Fahrrad zu fahren. Wäre doch das Naheliegendste, wir befinden uns immerhin auf einer Fahrradweltreise. Doch auf dem Weg zum Guesthouse waren wir an der Strasse, die über den Staudamm führt, vorbeigekommen. Die dort wachenden, schwer bewaffneten Militärs gerieten sogleich in helle Aufruhr, als sie uns erblickten. Wir können nur raten, aber vermutlich lautete der uns entgegen geschmetterte Wortschwall in etwa: «Fahrräder?! Was soll das? Ihr dürft hier auf keinen Fall durch. Wir müssen den Staudamm sichern. Wer weiss, was ihr da in den Taschen habt. Und überhaupt, ihr könnt doch nicht alleine durch Ägypten reisen! Viel zu gefährlich! Und verboten!» Ja, ja, schon klar, wo kämen wir da auch hin, liessen wir Fahrradfahrende einfach so Staudämme überqueren, denken wir uns und sind froh, dass der Weg zum Guesthouse nicht über den Staudamm führt.


Wir haben keine Lust mehr auf dieses Theater. Noch weniger Lust haben wir, in Assuan auf Busssuche zu gehen. Ismail vom Guesthouse organisiert uns dankenswerterweise zu einem halbwegs verkraftbaren Preis ein Minibustaxi, das uns samt Räder nach Abu Simbel chauffiert. Luxusvariante also, man gönnt sich ja sonst nichts.

Entspannt und guter Dinge kommen wir gegen Mittag in Abu Simbel an. Klein und übersichtlich, aus nicht viel mehr als einer Kreuzung bestehend, liegt der Ort wunderschön auf Halbinseln des Nassersees. Es gibt ein Krankenhaus, viele Banken und eine weltberühmte Tempelanlage. Schnurstracks steuern wir das Spital an. Der PCR-Test steht an. So geht Sightseeing zu Pandemiezeiten. Ismail hatte gestern angerufen und sich nach Testmöglichkeiten für uns erkundigt. Es sollte also keine Probleme geben, oder?


Drei Stunden später sitze ich schluchzend auf der dunkelbraunen Ledercouch im Büro des Krankenhausdirektors. Mario tätschelt mir den Rücken. Der Direktor wendet verlegen den Blick ab. Sedat, ein englisch sprechender Arzt, der als Übersetzer fungiert, versucht tröstende Worte zu finden. «Das ist doch nicht so schlimm, nehmt einfach den Bus nach Assuan, macht dort den Test und kommt wieder - no Problem».

Als Kind habe ich gerne das Leiterlispiel gespielt. Jetzt wir mir die Grausamkeit dieses Spiels bewusst.


Dabei waren wir so nah dran gewesen. Die Frau am Schalter war sehr freundlich und aufgeschlossen. Sie erinnerte sich an das Telefongespräch mit Ismail. Wir bezahlten 5 Schweizer Franken und wurden gebeten zu warten. Dann: Unruhe, Diskussionen. Wir landen im Büro des Direktors: ausladende Couch, ausladender Schreibtisch, sonst nicht viel. Kein Computer, nicht einmal die sonst üblichen Papierstapel finden sich hier. Sedat kommt hinzu. Er erklärte uns, dass in Abu Simbel nur PCR-Tests bei Erkrankten durchgeführt werden. Als ich einen Hustenanfall vortäusche und sage, ich fühle mich nicht gut, bricht Sedat in wohlwollendes Gelächter aus: Nein, nein, nur einheimische Kranke. Das Krankenhaus sei nicht autorisiert, Touristen zu testen. Für den Grenzübertritt brauche es ein bestimmtes Formular, das sie hier nicht haben... etc. pp. Lange Rede kurzer Sinn: drei Tees, eine Passkontrolle durch die Polizei im Direktorenbüro, etliche Telefonate des Direktors mit Gott weiss wem später, verlassen wir geknickt und unverrichteter Dinge das Krankenhaus.


Am nächsten Morgen um 5:00 stehen wir auf und fahren in 4 Stunden mit dem Bus zurück. Assuan zum Zweiten. Wir reisen mit leichtem Gepäck. Die Fahrräder und unsere Taschen konnten wir im Hostel lassen. Nach dem Trauerspiel im Krankenhaus, mussten wir an drei Hoteltüren klopfen, bis wir ein Zimmer zu einem fairen Preis fanden. Aber noch viel wichtiger: ein freundliches Gesicht. Abduhl begrüsste uns strahlend, versorgte uns mit Tee und netten Gesprächen.


Im Krankenhaus in Assuan wimmelt es von Menschen. Wir fragen uns zu den Covid-Tests durch. Als wir im Hinterhof stehen, werden wir zurückgeschickt. Wir müssen erst im Büro des Gesundheitsamtes den Test bezahlen. Das befindet sich in einem anderen Gebäude, gleich um die Ecke. Dort empfängt uns ein circa 13-jähriger Junge und begleitet uns zum Zahlungsbüro im 3. Stockwerk. Im Zimmer sitzen drei Halbwüchsige hinter leeren Schreibtischen. Einer hat einen Quittungsblock vor sich. Wir bezahlen 120 Franken und das Geldbündel verschwindet in einer Pultschublade. Der Test selbst ist schnell, unkompliziert und kompetent erledigt.


Wir nehmen uns ein einfaches Hotel im Stadtzentrum. Dort merken wir, dass Marios Daunenjacke nicht im Rucksack ist. Moment mal, Daunenjacke? In Ägypten? Ja, sie dient Mario als Kissen im Bus.

Erstaunlicherweise haben wir die Busfahrpläne mittlerweile so gut durchschaut, dass wir zu wissen meinen, dass der selbe Bus, mit dem wir heute Morgen gekommen sind um 17:00 wieder in Assuan sein sollte. Mario macht sich also auf zur grossen Busstation. Und tatsächlich: der Bus ist da. Samt Daunenjacke. Genial.


Am nächsten Morgen hüpfen wir mit den negativen Testergebnissen im Gepäck in einen vollgestopften Minibus und fahren zur Busstation. Sie ist wunderbar wusselig afrikanisch. Aus den Minibussen dröhnt Musik, auf den Dächer türmen sich Waren, die Menschen schreien und lachen. Und wir mittendrin. Langsam beginnt es Spass zu machen. Wir laufen durch die Menge und fragen «Abu Simbel?» Als wir bei der richtigen Busschlange angekommen sind, winken die Minibusfahrer ab. «Trouble, Police, no Tourists – sorry» heisst es. Sie dürfen uns nicht mitnehmen. Der grosse Bus fährt erst am späten Nachmittag. So lange können wir nicht warten. Abduhla ist abends nicht im Hostel und wir haben keinen Schlüssel. «Wie kommen wir nach Abu Simbel», müssen wir uns erneut fragen. Dann entsteht diese ganz eigene Dynamik, die es so wohl nur in Afrika gibt, wenn irgendwo zwei Fremde stehen und ein Problem haben, das gelöst werden muss. So dauert es nicht lange, bis einer einen kennt, der Zeit hat und bereit ist, uns mit dem Auto zu fahren. Gegen eine schöne Stange Geld, versteht sich. Mohammed fährt vor. Wie es sich für ehrbare Männer gehört, feilschen er und Mario um den Preis. Sie treffen sich irgendwo zwischen Himmel und Hölle. Wir haben keine Ahnung, ob Mohammed nun den Rest des Monats frei machen kann oder wir ihn über den Tisch gezogen haben. Letzteres ist unwahrscheinlich, denn er wirkt zufrieden. Ist eine Polizeikontrolle in Sicht, ruft Mohammed «Sleep!» und wir stellen uns schlafend. Auch er könnte Schwierigkeiten bekommen, weil er uns fährt. Warum genau, das habe ich bis heute nicht verstanden. Es gibt keine Scherereien. Am Nachmittag sind wir zurück. Abu Simbel zum Zweiten.


Wir kehren ins Hostel zum strahlenden Abduhl und all unseren Sachen zurück. Morgen soll es nun endlich soweit sein: wir fahren in den Sudan. Es trennen uns nur noch eine Fährfahrt über den Nassersee und 36 km durch die Wüste von der sudanesischen Grenze. Dies letzten Kilometer werden wir ganz kühn selbst radeln. Am Abend merken wir, dass wir vergessen haben, in Assuan die Sache mit dem Geld zu regeln. Im Sudan ist es für Ausländer nicht möglich, Geld zu beziehen. Darum müssen wir das gesamte Bargeld für unseren Aufenthalt vorab besorgen. Sudanesische Pfund sind in Ägypten nicht erhältlich und ägyptische Pfund sind im Sudan schwer zu wechseln. Wir brauchen US-Dollar. Es hat ja viele Banken - und in normalen Jahren auch Touristen - hier, da müsste es kein Problem sein Geld zu wechseln, oder?


Doch Ägypten wäre nicht Ägypten, hätte es nicht noch eine Überraschung parat: Die Banken dürfen nur USD in ägyptische Pfund wechseln, nicht aber umgekehrt. Die Banken besitzen demnach USD, dürfen sie uns aber nicht aushändigen. «Geht doch auf den Schwarzmarkt beim Bazar vor dem Tempel», empfiehlt uns ein feinsäuberlich herausgeputzter Bankangestellter, als wäre es das normalste der Welt.


Der Bazar besteht aus modernen Marktständen und hohen Holzbalustraden als Schattenspender. Bilderbuch Ägypten. Es ist früh am Morgen und er Markt noch leer. Der erste Verkäufer stürzt sich mit einer Auswahl von Schals über dem Arm auf uns. Wir wehren ab und fragen nach US-Dollar. Misstrauisch kneift er die Augen zusammen, schaut sich um und fragt: «How much?»

Er kann uns 100 US-Dollar wechseln. Die nehmen wir, doch wir brauchen noch mehr. Der Verkäufer verweist uns zum nächsten Stand. Es dauert nicht lange, kommen aus allen Winkeln Männer und eine Frau, die ein paar US-Dollar aus der Tasche ziehen. Irgendwann sind wir im Besitz aller verfügbarer US-Dollar auf dem Bazar. «Wartet ein paar Stunden, dann kommen andere Touristen und mit ihnen auch wieder US-Dollars», meint einer der Bazarjungs. Doch mittlerweile haben wir genug gewechselt. Und das schöne: ausnahmslos zu einem fair verhandelten Kurs und ohne nervenaufreibenden Tumult um uns herum. Wir hatten zwischendurch sogar Zeit etwas zu plaudern. Über Corona, das in Afrika angeblich kein Problem ist, die deswegen ausbleibenden Touristen und über immer mal wieder vorbeikommende komische Vögel aus Europa, die mit dem Fahrrad durch die Wüste radeln. «Was ist so toll daran? Habt ihr etwa kein Auto? Dann nehmt doch wenigstens den Bus!» lachen die Männer. Oh nein, davon haben wir nun wirklich genug, denken wir und radeln winkend davon.


Wir fahren die Bootsanlegestelle an. Ein zahnloser Alter fuchtelt mit den Armen und schüttelt den Kopf, als wir «Qustul?» fragen. So heisst der Anleger auf der anderen Uferseite des Nassersees. Wir begreifen, dass wir an der falschen Stelle sind und dass wir offenbar spät dran sind, denn der Zahnlose treibt uns zur Eile an. Wir rasen die 2 km zum anderen Bootssteg. Und tatsächlich, ein mit Lastwagen beladenes kleines Fährboot will gerade ablegen. Jetzt fuchteln wir wie wildgeworden mit den Armen. Es wirkt, das Boot wartet und wir dürfen zusteigen. Bezahlen dürfen wir nicht. «No Problem, Bicycles for free» meint der Bootsführer im Blaumann lächelnd. Nach dem obligaten Selfie mit unseren Mitreisenden können wir endlich etwas durchatmen. Wir werden uns der wunderschönen Szenerie bewusst, durch die wir schippern. Türkisblaues Wasser umspielt schroffe sandfarbene Felsen. Soll es das nun wirklich gewesen sein? Auf den letzten Kilometern kann doch eigentlich nichts mehr schief gehen, oder?


Das Boot legt an, wir radeln los. Sand. Ruhe. Keine Menschenseele. Wir treten in die Pedale. Weite. Stille. Ein Mädchen, das mit seiner Ziege Gassi geht. Leere, Sand und Lautlosigkeit. Dann plötzlich lässt sich in der Ferne die Silhouette eines Tores über der Strasse ausmachen. Die Grenze. Der Sudan. Unglaublich, wir haben es geschafft.

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