Armenien, vergessenes Juwel zwischen Europa und Asien
Autos und Lastwagen kommen in einer Staubwolke daher, die sich als kratziger Film auf unserer Haut absetzt. Die Topografie lässt wildzelten kaum zu und eine Dusche klingt verlockend. Gegen Abend fahren wir also im Dorf Alaverdi das B&B Iris an. Als wir unsere Räder den steilen Hang zum Haus hinaufschieben, hören wir Stimmengewirr und für uns fremd klingende Töne von Kemence, Dhol und Saz: armenische Musik. Wir suchen den Eingang und kommen hinter das Haus in den Garten. Der Grill qualmt. Zwei Männer wenden gekonnt lange Fleischspiesse über der Glut. Am Tischtennistisch wird ein eifriges Match ausgetragen, im Nebenraum tanzen Frauen ausgelassen. Wir finden die Betreiberin des B&B. Irina lässt uns im Garten zelten. Es dauert nicht lange, bis wir mit den zahlreichen Menschen ins Gespräch kommen. Sie sind alle Lehrpersonen aus der Stadt Etschmiadsin nahe Eriwan. Sie befinden sich auf einem Ausflug um den Sommerferienstart zu feiern. Wir werden herzlich zu ihrem Festmahl eingeladen. Und schon am ersten Abend in diesem Land bekommen wir einen guten Eindruck von seinen Bewohner*innen.
Davon, was sie beschäftigt, was sie bewegt, was ihnen wichtig ist. Auf unserer weiteren Reise wird sich dieser Eindruck bestätigen.
Stolz wird uns erzählt, dass Armenien das erste christliche Land der Welt ist. (Was wir allerdings schon wussten. :-)) Bereits 301 n.Chr. wurde das Christentum Staatsreligion in Armenien. Religion hat noch heute einen hohen Stellenwert. Im ganzen Land finden sich Klöster und Kirchen als Ausflugsziele und Pilgerstätten. Fast in jedem Auto hängt ein Heiligenbild oder ein Kreuz.
Das schwierige Verhältnis zur Türkei ist ein weiteres Thema. Einige der Lehrpersonen reagieren verhalten, als wir erzählen, dass wir durch die Türkei geradelt sind. Bereits der sonst sehr freundliche Grenzbeamte hatte uns am Morgen etwas streng nach dem Grund unseres Aufenthalts in der Türkei gefragt. Das liegt zum einen am für die Armenier*innen heiligen Berg Ararat. Dass der Berg heute in der Türkei steht, schmerzt einige tatsächlich tief. Nach längeren Scharmüzeln über den Grenzverlauf, ging 1921 ein Teil Westarmeniens inklusive des Ararats endgültig an die Türkei über.
Zum anderen geht das auf den 1915/1916 begangenen Völkermord der Türken an Armeniern zurück. Während der Wirren des 1. Weltkrieges schenkte die Welt diesem Genozid kaum Beachtung. Dabei fiel ihm die unglaubliche Zahl von 1,5 Millionen der 2 Millionen in der Türkei lebenden Armeniern zum Opfer. Erst 2002 hat die Schweiz diese Tragödie als Völkermord anerkannt. Die offizielle Türkei tut dies bis heute nicht. Etwas, das nach wie vor zu politischen Auseinandersetzungen führt.
Dann kommt auch der jüngste Krieg, der 2020 in der Region Bergkarabach wütete, zur Sprache. Bei der Tischrede wird der vom Krieg betroffenen Kinder gedacht. Der Sohn eines anwesenden Lehrers wurde im Krieg schwer verwundet. Der Konflikt mit Aserbaidschan um die Region Bergkarabach schwielt schon Jahrzehnte lang. 1936 unter Sowjetherrschaft wurde das vor allem von Armeniern besiedelte Gebiet Aserbaidschan zugeteilt. 1988 unter der Regierung Gorbatschows flammte der Konflikt auf und es gab Massendemonstrationen mit vielen Toten. 1992-1994 kam es dann zu einem offenen Krieg. Beide Länder beanspruchen das Gebiet für sich.
Die Republik Bergkarabach hat sich bereits 1991 als unabhängig erklärt und wird von Armenien unterstütz. Kein Mitgliedstaat der UN erkennt diese Unabhängigkeit aber an. Im Juli 2020 kam es dann zum zweiten Mal zu einem offenen Krieg. Im November 2020 wurde mit Hilfe Russlands ein Waffenstillstand erreicht. Aserbaidschan ging quasi als «Sieger» hervor und erhält weite Teile von Bergkarabach. Der Status einiger Gebiete bleibt aber weiterhin ungeklärt, die Lage an der gesamten armenisch-aserbaidschanischen Grenze angespannt. Noch während wir in Armenien sind, kommt es im Grenzgebiet abseits Bergkarabachs zu Schiessereien. Dabei lassen drei armenische und zwei aserbaidschanische Soldaten ihr Leben: Söhne. Brüder. Ehemänner. Freunde. Onkel. Cousins. Göttis. Arbeitskollegen. Menschen.
Wir hören an diesem Abend oft: «Wir sind gute Leute. Wir wollen Frieden.» Dasselbe sagen die Menschen in Aserbaidschan gewiss auch.
Trotzdem, dass, das alles in den Gesprächen mitschwingt, wird danach ausgelassen getanzt. Trotzdem? Oder gerade deswegen? Die (kleinen) Freuden des Lebens werden wohl besonders in unsicheren Zeiten bedeutsam.
Die nächsten Tage bestechen durch landschaftliche Schönheiten. In der Region Tawusch, die im Volksmund auch «Armenische Schweiz» genannt wird, können wir die angepriesenen Bergen, Wäldern und Almen wegen des schlechten Wetters allerdings kaum sehen. Dann gelangen wir zum grössten See Armeniens, dem Sewansee. Von dort starten wir unser Projekt «Akna Lich».
Der Akna Lich ist ein Kratersee auf 3100 M.ü.M. der im Gegham Gebirge liegt. Wir haben 25 km unbefestigte Wege und 1200 hm vor uns. Unterwegs und auch oben gibt es keinerlei Versorgung. Wir rüsten uns also mit Essen und Wasser für 2,5 Tage aus, denn der Weg runter bis ins nächste Dorf ist nochmals 17 km lang.
Das Jahrmilliarden alte Vulkangebirge liegt wie mit sanften Pinselstrichen gezeichnet vor uns. Weiche, runde Linien in grün-beige Töne dominieren die Wiesenlandschaft. Bäume und selbst Büsche gibt es hier keine mehr. Die Sonne knallt unerbittlich auf uns nieder, während wir stundenlang über die naturbelassenen Pfade holpern. Auch Menschen gibt es hier oben kaum. Einige hartgesottene Hirtfenfamilien verbringen die Sommermonate mit ihren Kühen, Hunden und Pferden hier oben. Pferde sind auch das einzig vernünftige «Transportmittel» in dieser Gegend. Die wenigen motorisierten Vehikel, die uns begegnen, tun sich in diesem Gelände nur ungleich leichter als wir.
Wir schaffen es am ersten Tag nicht bis nach ganz oben. Als am Abend unsere Kräfte schwinden, befinden wir uns in der Nähe zweier Hirtenhütten. Wir bleiben, trotz Hunden und dass sich die Hoffnung auf Einsamkeit diese Nacht noch nicht erfüllen wird. Wir können keinen Schritt mehr weiter. Ja, Schritt, denn wir müssen immer wieder schieben. Ein Hirte mit seinem Enkel besucht uns als wir Znacht kochen. Er schenkt uns Brot, das wir nur schwer annehmen. Er könnte es wohl besser brauchen als wir. Später kommt ein Wassertanklastwagen vorbei. Er versorgt die Menschen - Hirtenfamilien und Fahrradfahrende - mit Trinkwasser. Obwohl wir uns im Gebirge befinden, ist Wasser hier ein spärliches Gut. Alle kleine Bachläufe, die wir sehen, sind ausgetrocknet.
Mit neuer Energie und Motivation sind die letzten Kilometer am nächsten Morgen bald geschafft. Friedlich und ahnungslos, welche Strapazen Menschen auf sich nehmen um ihn zu besuchen, liegt der See in einer Senke. Es ist auch auf 3100 m.ü.M. noch so warm, dass wir sogar ein kurzes Bad im Akna Lich nehmen können.
Ruhe. Einsamkeit. Stille.
Der Berg. Der See. Und wir.
Guter Dinge starten wir am nächsten Morgen die Abfahrt. 17 km abwärts, das kann ja nicht so arg werden. Doch, kann es. Schon nach wenigen hundert Metern verliert sich der Weg in den grasigen Hügeln. Die auf unserer Karte eingezeichneten Pfade sind nicht vorhanden. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als blindlings dem Pfeil auf dem Navi zu folgen. Es führt uns wortwörlich über Stock und Stein. Die von weitem befahrbar wirkenden Grasflächen verwandeln sich beim Näherkommen in schlaglöchrige und mit Steinen übersähte Ebenen. Folglich sind wir meist zu Fuss unterwegs.
Ganz klein fühlen wir uns, hier in diesen schier endlosen Weiten, mitten im nirgendwo. In zwei Stunden haben wir erst knapp 6 km geschafft. Irgendwann treffen wir auf einen Hirten zu Pferd. An der übertriebenen Freude, die das bei uns auslöst, merken wir, dass uns die Situation doch langsam etwas beunruhigt. Erstaunlich, wie ungemein tröstend der Anblick eines völlig fremden Menschens sein kann. Dabei sind wir ja hier oben, da wir menschenlose Abgeschiedenheit suchten. So deplatziert wir uns mit unseren Rädern hier fühlen, so gelassen und regungslos reagiert der Hirte auf uns. Fast könnte man meinen, hier kämen noch öfter Fahrradfahrende vorbei. Er deutet in die Richtung, in die wir eh unterwegs sind, als wir nach einer Strasse fragen. Um auch noch zu erfahren wie weit diese Strasse weg ist, reichen unserer Kommunikationsskills nicht aus. Aber immerhin, irgendwann sollte eine kommen. Und das tut sie auch. Die letzten 8 km können wir fast durchgehend fahren. Auf einem miserablen, holprigen Weg zwar, aber unsere Ansprüche an Strassen sind in den letzten Stunden derart gesunken, dass diese uns wie ein frisch geteerter Highway erscheint.
Zwei Tage später finden wir mit dem Crossway Camping in Getap einen richtigen Wohlfühlort. Wir sind müde. Reisemüde? Zudem wissen wir noch nicht, wie es nach Armenien weitergehen soll, kann. Wir recherchieren und tüfteln an möglichen weiteren Routen. Viele Länder im Osten haben ihre Grenzen covidbedingt zu. Andere erlauben nur die Einreise per Luft, nicht aber über Land. Wir nehmen uns Zeit, um zu spüren, was sich richtig anfühlt. Und wir merken wieder: ein Flug ist es nicht. Zu schnell, zu weit, zu einfach, zu unökologisch. Es stimmt einfach nicht - noch nicht. Wir schöpfen also die letzte Überland- beziehungsweise Überwasser-Variante, die wir nach stundenlangem Weltkarte anstarren als halbwegs sinnvoll und eventuell machbar erachtet haben, noch aus. Es geht per ÖV via Georgien zurück in die Türkei. Von dort versuchen wir per Schiff/Fähre über Zypern nach Ägypten (oder sonst wohin) zu kommen. Wir sind gespannt, ob das klappen wird.:-)
In zwei Tagen radeln wir die letzten 120 km nach Eriwan, die Hauptstadt. Unterwegs machen wir Halt in Khor Virap, einem Kloster und wichtigen Pilgerstätte. Nirgends in Armenien ist man dem Berg Ararat so nah wie hier. Wir finden ein wunderbares Wildcampingplätzchen mit Blick auf den heiligen Berg. Hier soll die Arche Noah aufgelaufen sein.
Eriwan überrascht mit modernen Flaniermeilen, Cafés, Restaurants und ausladenden sowjetischen Protzbauten. Wir bleiben ein paar Tage, geniessen das Stadtleben und buchen ein Zugticket nach Batumi.
Die Zugfahrt im russichen Zug ist selbst in der 3. Klasse recht angenehm. Wir haben viel Platz. Das mag aber daran liegen, dass wir wegen der Velos 4 Tickets kaufen mussten, diese aber dann doch in den Gang stellen konnten. Wir erfreuen uns am Blick aus dem Fenster. Die Landschaft zieht an uns vorbei und wir können uns langsam von diesem schönen Land verabschieden.
Mit Armenien haben wir ein Land kennengelernt, von dem wir vorher so gut wie nichts wussten.
Jetzt wissen wir, dass es hier köstliche, frische Aprikosen, Mirabellen, Zwetschgen und Melonen in Hülle und Fülle gibt. Wir wissen, dass abseits der grösseren Städte (von denen gibt es etwa drei :-) ) absolut nichts los ist. Kein Wunder, denn die armenische Diaspora, vor allem in Georgien, Iran, Libanon, Frankreich und den USA, ist riesig. Es gibt ca. 10 Millionen Armenier*innen auf der Welt, nur gerade drei davon leben in Armenien selbst. Davon lebt 1 Million in Eriwan, der Hauptstadt.
Wir wissen, dass die Menschen stolz sind auf all die berühmten Leute armenischer Abstammung, wie zum Beispiel Cher, André Agassi, Charles Aznavour und nicht zu vergessen die Metal Band System of a Down.
Wir wissen, dass sich hinter dem ominösen Wort «Zhingyalov hat» ein mit absurd vielen Kräutern gefülltes Brot verbirgt.
Wir wissen um die uns entgegengebrachte Herzlichkeit und das ehrliche Interesse der Menschen an uns.
Wir wissen, dass sich Armenien oft von der Welt vergessen fühlt.