Quer durch das vielschichtige Land Georgien
Es liegt eine bewegte Geschichte hinter diesem kleinen Land im Kaukasusgebirge - auch jüngst. Und es ist noch nicht vorbei. Georgien befindet sich nach wie vor im Umbruch. Als 1990 die Sowjetunion zerfiel, folgten Jahre der politischen Instabilität und der Identitätsfindung. Es gab immer wieder Unruhen und in manchen Landesteilen auch Krieg. Bis heute sind die Regionen Abchasien und Südossetien von Georgien abgespalten und sehen sich selbst als unabhängig.
Momentan wird in Georgien westlicher Standard angestrebt und viel in Tourismus und Infrastruktur investiert. Bis 2024 soll eine Bewerbung für die EU-Mitgliedschaft möglich sein. Dieser Weg ist noch weit und er gefällt nicht allen. Manche Menschen wollen sich eher an Russland orientieren oder wünschen sich die Sowjetunion zurück. Zudem treffen liberale, linke Gruppierungen auf eine teils streng orthodoxe, homophobe Kirche. So kam es dann auch zu gewaltsamen Ausschreitungen bei LGBTQ-Kundgebungen in Tiflis. Wir waren an diesem Abend mit Micheil, ein in Berlin lebender Georgier, unterwegs. Wir sassen am Fluss, in sicherem Abstand zum Geschehen. Die in Richtung Parlamentsgebäude ausrückenden Sicherheitskräfte rasten an uns vorbei. Versonnen blickte Micheil ihnen nach. Als das Sirenengeheul langsam abklang, versuchte er mit einem leicht gequälten Lächeln zu scherzen: «Die Georgier*innen wollen nicht in Frieden leben, sie sind es einfach nicht gewohnt.» Doch in seine Augen sahen wir Besorgnis und Trauer.
Unsere Georgiengeschichte beginnt aber in der Hafenstadt Batumi, gleich hinter der türkischen Grenze. Aufgekratzt und freudig schlängeln wir uns mit den Velos durch die einfachen und chaotischen Vororte. In der Innenstadt erwarten uns dann futuristische, moderne Hochhäuser und eine fein säuberliche Strandpromenade mit riesiger Parkanlage. Nett, aber irgendwie seelenlos.
Nach einem Tag in Batumi radeln wir ins kleine Kaukasusgebirge. Unser Ziel: der Goderdzi Pass (2025 m.ü.M.). Wir freuen uns auf Berge und Natur. Auf ganz passabler Teerstrasse radeln wir in ein saftig grünes, dicht bewaldetes, enges Flusstal. Meterlange Palmblätter lugen zwischen Laubbäumen hervor. Zwischenzeitlich wähnen wir uns fast im Dschungel. Mit jedem geschafften Höhenmeter wird es aber alpiner und wir fühlen uns bald wie Zuhause. Fast. Als ernsthafte Konkurrenz für unser zauberhaft schönes, bergiges Heimatland erscheint uns die Gegend aber nicht. Okey, wir sind da vielleicht nicht ganz objektiv.
Es dröhnt, knattert und hupt um uns herum. Alte Ladas, staubaufwirbelnde Lastwagen, Busse und Kleintransporter tummeln sich auf der Strasse. Manch ein Gefährt lässt uns dank deutscher Firmenaufschrift einen Blick in seine Vergangenheit werfen. Gänzlich unbeeindruckt von diesem Gewirr flanieren Kühe und Schweine durch das Dorf. Dazwischen Menschen zu Fuss und auf Mofas. Wo kommen jetzt plötzlich all die Leute her? Ein georgisches Bergdorf hätten wir uns etwas gemächlicher vorgestellt.
Wie bunte Farbtupfer finden sich viele kleine Obst- und Gemüseläden am staubigen Strassenrand. Während Mario bei den Fahrrädern wartet und sich mit den Leuten unterhält, suche ich den grössten der zahlreichen Minimärkte auf. Ich hoffe auf Bohnen oder etwas woraus sich eine nicht-tomatenpüree-basierte Pastasauce zaubern lässt. Die Minimärkte führen alle exakt das gleiche Angebot hier: Fisch- und Fleischkonserven, Tomatenpüree, Nudeln, Reis, Milch, diverse Kekse und Waffeln im Offenverkauf und Getränke - darunter einen beachtlichen Anteil an Bier und Schnaps. So ist es dann auch im gossen Minimarkt nicht anders - einfach in grösseren Masseinheiten. 5kg Reis, 5 Liter Öl? 2 Liter Bier? Kein Problem!
Die Menschen hier müssen mit sehr wenig auskommen. Viele leben vom Weinanbau, haben ein paar Kühe oder Schweine und einen Gemüsegarten. Ausladende Wohnhäuser, Schulanlagen, Gemeindebauten und öffentliche Toilettenhäuschen erzählen mit ihren aufwändig verzierten, ornamentreichen Geländern, Türen und Fensterrahmen von einer besseren Zeit, als Georgien eine der reichsten Sowjetrepubliken war. Der abblätternde Putz, die kaputten Fensterscheiben, die schrägen Balken und der allgemeine Zerfall halten dagegen und berichten von der neueren Geschichte voller Unruhen und wirtschaftlichem Niedergang.
Am zweiten Tag erreichen wir etwas stolz die Passhöhe. Mit über 2000 M.ü.M ist das der höchste Punkt an dem wir mit den Fahrrädern bisher waren. Problemlos haben wir die 2025 Höhenmeter geschafft. Kaum zu glauben, dass wir vor 1,5 Tagen und gut 110 km in Batumi noch auf Meereshöhe waren. Die letzten 25 km bis zum Pass hat uns eine üble Schotterpiste noch etwas Geduld gekostet. 20 solche Kilometer stehen uns auf der Abfahrt noch einmal bevor. Diese Rüttelpartie sparen wir uns lieber auf Morgen auf. So beschliessen wir eine Nacht auf dem Pass zu verbringen. Wir dürfen unser Zelt neben dem Gipfelbeizli «Edelweiss» (ja, so heisst es tatsächlich) aufstellen.
In besagtem Beizli treffen wir auf ein sehr angenehmes Wirtepaar und eine feiernde Ausflugsgesellschaft aus Batumi. Die Feiernden laden uns zu Burano - eine georgische Fondue-Variante - ein. Und natürlich darf auch Chacha und Bier nicht fehlen. Beim Bier machen wir gerne mit, doch nach einem Höflichkeitschacha haben wir genug. Die Georgier*innen trinken diesen Schnaps zu jeder Gelegenheit und sind stolz darauf. Wir müssen uns in Zukunft noch öfter ziemlich vehement gegen diese ständige Alkoholtrinkerei wehren. Doch an diesen Nachmittag geniessen wir es und feiern mit unseren neuen lustigen Bekannten mit.
Einmal mehr sind es die Menschen, die uns das Land ans Herz wachsen lassen. Oft erst etwas zurückhaltend, zeigt sich ihre Herzlichkeit erst auf den zweiten Blick.
Zum Beispiel als wir ein paar Tage später an einem Brunnen am Strassenrand unsere Räder und uns waschen. Unser eben befahrener Feldweg hatte sich über einige Meter in ein einziges Schlammloch verwandelt. Weich quoll der klebrige Dreck zwischen unseren Zehen hervor, als wir die Räder durch den Matsch schoben. Der Untergrund gab immer mehr nach, bis wir irgendwann bis zu den Knien einsanken. So blieb auch die ein oder andere Sandale auf der Strecke, die wir dann mühsam aus dem lehmigen Schwamm bergen mussten. Es waren keine 100 Meter, doch bis wir diese überwunden hatten, waren wir alle vier von oben bis unten völlig verdreckt. Entsprechend war unsere Laune nicht mehr ganz so sonnige, wie das strahlend schöne Wetter.
Wir sind also mit der Reinigung unserer selbst und den Rädern beschäftigt, als wir bemerken, dass die Frau aus dem Dorfladen nebenan interessiert aus dem Schaufenster späht. Eine weitere ältere Dame in geblümter Schürze gesellt sich uns skeptisch beäugend zu ihr. Ein Mann setzt sich auf die Bank vor dem Laden, verschliesst seine Hände auf seinem stattlichen, nackten Bauch und schaut uns ungehemmt zu. Grüssen tut er uns nicht. Bald steht er auf und holt einen Gartenschlauch. Er legt gleich selbst Hand an, hilft beim Putzen der Räder und spritz schliesslich auch uns nass. Das Eis ist gebrochen. Die Frauen kommen aus dem Laden. Sie scherzen mit und amüsieren sich köstlich. Es kommen noch zwei drei weiter Leute dazu und wir beantworten die üblichen Fragen nach Herkunft, Vorhaben, Zivilstand und Familie. Wenn wir bejahen, dass wir verheiratet sind, ist der Reaktion der Menschen ganz klar anzumerken, dass dies ausnahmslos als etwas sehr Positives gewertet wird. Wenn dann die Frage nach den Kindern kommt, nach dem wir erzählt haben, dass wir auf einer mehrmonatigen Fahrradreise sind, sind wir manchmal etwas erstaunt. Wo sollen denn diese Kinder sein, während wir frisch-fröhlich monatelang per Rad die Welt erkunden? Dies zeigt einmal mehr, dass wir die Lebensrealität des Gegenübers nicht wirklich erfassen - und sie unsere auch nicht. Wir erhalten zwar durch unsere Art zu reisen viele Einblicke und geben diese auch in unser Leben, doch für wirkliches Verständnis bräuchte es wohl noch mehr. Oder liegt es einfach daran, dass wir in ihren Augen schon alt genug für bereits erwachsene Kinder sind?
Wir verlassen das Dorf mit sauberen Velos, frischem Trinkwasser, einer Handvoll geschenkter Aprikosen und um eine schöne Begegnung mit den humorvollen Menschen Georgiens reicher. Denn ja, die Georgier*innen haben durchaus Humor. So kommt es immer mal wieder zu unterhaltsamen Begegnungen unterwegs. Einmal treffen wir auf eine Gruppe Bahnarbeiter, die mit einem handbetriebenen Gefährt auf den Gleisen unterwegs sind. Sie lachen und winken als sie uns kommen sehen. Per Handzeichen fordern sie uns zum Rennen heraus, das wir gerne annehmen - und gewinnen.
Schliesslich kommen wir in Georgiens Hauptstadt an. Tiflis überrascht mit Charme und Internationalität. Auch hier ist die Vergangenheit noch greifbar. 28 Mal wurde die Stadt bereits zerstört - und immer wieder aufgebaut. Die Menschen hängen an ihrer Stadt und lassen sich nicht so leicht unterkriegen.
Fasziniert schlendern wir durch die Altstadt. Mit ihren maroden Häusern, die sich altersschwach aneinander abzustützen scheinen, versprüht sie einen ganz besonderen Charme. Was für uns interessant anzusehen ist, ist für die Bewohner*innen alles andere als angenehm. Denn die Menschen leben in diesen brüchigen, undichten Häuser, die teilweise tatsächlich mit Eisenträgern vor dem Einstürzen bewahrt werden müssen. In einigen Viertel ist ein Aufschwung spürbar, denn so mancher Verschlag verwandeln sich hier in ein modernes Wohnhaus. Ein dekorativ geschnitztes Holzgeländer darf nie fehlen - sei es nun bei der Bruchbude oder beim schicken Stadthaus.
Es ist eine angenehme Atmosphäre in der Stadt. Wir sind viel zu Fuss unterwegs und erkunden Kirchen, Parks, die Narikala Burg, das Bäderviertel, den Botanische Garten und treffen auf andere Fahrradreisende.
Ausserdem wollen wir hier das Visum für unsere Weiterreise nach Aserbaidschan beantragen. Das Botschaftsgebäude ist schon von weitem zu erkennen. Nicht etwa weil es durch sein Äusseres von den schäbigen Wohnhäusern in der Strasse abhebt. Nein, wegen der Menschenansammlung vor dem Eingang. Wir gesellen uns dazu und versuchen uns zu merken, wer schon alles vor uns da war. Das Prinzip des Schlangesstehens im europäischen Sinne, dass man sich tatsächlich hintereinander aufstellt ist hier nicht gebräuchlich.
Irgendwann merken wir, dass ein junger Mann mit einem Zettel umhergeht und die Namen der Leute der Reihe nach notiert. Aha, so läuft das also. Er schiebt uns irgendwo dazwischen und bald darf einer von uns rein. Ich muss Handy und Tasche abgeben und darf dann zum Schalter vor. Ich erkläre dem engagierten jungen Mann hinter der Glasscheibe, dass ich gerne für mich und meinen Mann ein Visum beantragen möchte. «Aber die Grenzen sind zu» antwortete er erstaunt. «Was!?» gebe ich nicht minder erstaunt zurück. «Aber auf der Website des Deutschen Auswärtigen Amtes habe ich was anderes gelesen», füge ich hinzu und merke sogleich, wie unnütz dies Aussage hier ist. Er bleibt dabei, die Grenzen sind zu. Selbst in Georgien lebende Aserbaidschaner*innen werden nur in Ausnahmefälle über die Grenze gelassen. Tja, da haben wir als Touristen wohl wirklich keine Chance.
Für uns heisst das: Umplanen. Über Land bleibt nur Armenien, das - coronabedingt - derzeit eine Sackgasse ist. Per Direktflug ab Tiflis käme Tashkent in Usbekistan oder Aktau in Kasachstan in Frage. Nach einem Besuch auf der kasachischen Botschaft wissen wir, dass für uns auch Kasachstan wegfällt. Die Grenzen sind wegen der Pandemie für uns aus Liechtenstein/Schweiz/Österreich geschlossen.
Wären wir beispielsweise Deutsche, dürften wir einreisen. Dass wir bereits seit Wochen nicht mehr zu Hause waren, scheint dabei niemanden zu interessieren. Was uns also jetzt, hier in Tiflis, von einem deutschen Fahrradreisenden unterscheidet, erschliesst sich uns nicht. Nun ja, es ist wohl schlicht nicht die Zeit um alle neuen Regeln zu verstehen...
So bleibt noch Usbekistan. Wir haben uns schon fast entschieden, der Usbekistanreiseführer ist heruntergeladen, Karton zum Verpacken der Räder für den Flug ist gesammelt, als wir merken: nein. Hatten wir uns nicht vorgenommen, nur als letzte Option zu fliegen? Doch. Und es gibt ja noch eine Überlandvariante: Armenien, die Sackgasse. Wir nehmen sie und freuen uns darauf. Nicht zu weit in die Zukunft blicken, sondern nehmen was möglich ist, lautet unser Credo.
Wir holen also unsere Fahrräder aus dem Hinterhof des Hostels und satteln auf. Es trennen uns nur noch gut 60 km von der Grenze - dann haben wir Georgien einmal von West nach Ost durchquert. Und irgendwann auf dieser Strecke hat es sich in unsere Herzen geschlichen.