Innenansichten eines vertrauten Landes
Ja, das ist die Türkei. Vermeintlich vertraut durch starke Präsenz in westlichen Medien, Touristenhochburgen an der Südküste und den weit verbreiteten, allseits beliebten Speisen wie Kebap, Pide und Co. Die Türkei ist voller Gegensätze und mixt Ost und West wild durcheinander. Mal fühlt es sich an wie (Mittel-) Europa, mal könnte es fremder nicht sein. Dieses Land haben wir sechs Wochen mit dem Fahrrad bereist und dabei viel gelernt. Zum Beispiel, dass das was ein Land für uns ausmacht, nicht der Staat ist, sondern die Menschen, die dort leben. Und das kann etwas komplett Verschiedenes sein.
Ein Motor dröhnt, Reifen knirschen auf dem Kies, Scheinwerfer blenden auf. Es ist ein emsiges Treiben. Der Abendhimmel färbt sich rosa. Wir sitzen am Boden vor unserem Zelt, das wir heute auf einem Lastwagenparkplatz unweit des Grenzpostens aufgeschlagen haben. Die Fahrräder lehnen hinter uns am Maschendrahtzaun. Wir sind müde, zum Schlafen aber zu aufgekratzt.
Ein langer Tag liegt hinter uns. Erst am späten Nachmittag sind wir an der Grenze in Kapikule angekommen, ein viel frequentierter Grenzübergang zwischen Bulgarien und der Türkei. Mit dem Fahrrad Grenzen zu überqueren ist für uns immer etwas Besonderes. Etwas ist abgeschlossen, etwas Neues beginnt. Aufregende Neugierde auf ein weiteres Land kommt auf. Nie fühlt es sich so gut an, mit dem Fahrrad zu reisen, wie an Grenzübergängen. Komisch eigentlich, denn was sind Landesgrenzen schon anderes, als von Menschen gezogene Linien auf der Landkarte? Und trotzdem haben sie für uns etwas Abenteuerliches, das unser Entdeckungsgeist kitzelt, etwas das sich für uns nach «Ferne» anfühlt.
Der Gesang des Muezzins setzt ein. Wir lächeln uns zu. Schweigend lauschen wir den Klängen. Es wird noch einige Stunden dauern, bis an diesem Abend Ruhe eingekehrt. Das gilt gleichermassen für das Geschehen um uns herum wie für uns selbst. Ob das wohl auch am Kaffee liegt, auf den uns der Parkplatzwächter abends noch eingeladen hat? Das gibt uns ein Vorgeschmack auf die türkische Gastfreundschaft. Später sollten es vor allem Einladungen zu Chai und Lebensmittelgeschenke wie Brot, Obst und Süssigkeiten sein, die diese täglich zum Ausdruck bringen.
Die nächsten Tage radeln wir durch Ostthrakien (europäischer Teil der Türkei) Istanbul entgegen. Das bedeutet viel Schnellstrasse durch relativ unspektakuläre landwirtschaftlich genutzte Fläche. Tankstellen werden zu unserer Anlaufstelle für Snacks, Toilettenstopps, Schattenpausen und manchmal sogar zum Schlafen. Wir trinken Chai mit den Tankstellenwarten und wenden in holprigen Gesprächen unsere ersten erlernten türkischen Vokabeln an. Kurze, willkommene Abstecher in die Orte entlang der Schnellstrasse lassen uns einen Blick in etwas mehr türkisches Alltagsleben erhaschen. Auf Grund des strengen Lockdowns ist das momentan aber sehr eingeschränkt.
Die Polizei kontrolliert die Einhaltung der faktischen Ausgangssperre akribisch. Auch wir werden mehrfach kontrolliert. Dabei aber jeweils freundlich behandelt und in der Türkei willkommen geheissen. Die Lockdownregeln gelten für Touristen nicht. Aus egoistischer Sicht ist das gut, weil es uns das reisen in der Türkei ermöglicht. Objektiv und aus ethischer Perspektive finden wir das aber mehr als fragwürdig. War es in den bisher besuchten Ländern so, dass durch Covid-19 das Gefühl des «Wir sind alle gleich» sehr präsent war, ist das in der Türkei plötzlich anders. Hier sind nicht alle gleich. Es wird mit zweierlei Mass gemessen. Touristen dürfen an den Strand, sie dürfen baden, sie dürfen sich draussen frei bewegen und an Touristenhotspots sind sogar die Restaurants geöffnet. Es fühlt sich schlicht falsch an. Obwohl es uns gegenüber nie direkt gezeigt wird, ist auch die türkische Bevölkerung mit dieser Ungleichbehandlung nicht einverstanden.
Die Fahrt in die 15 Millionen-Metropole Istanbul ist wegen des Lockdowns tatsächlich erträglich. Mit dem Velo in eine Grosstadt zu fahren, ist selten ein Vergnügen (für uns). Doch können wir auf dem knapp 50 Kilometer langen Weg ins Zentrum das Ausmass der Stadt richtig erfassen. Wir sind beeindruckt. Noch nie waren wir in einer so grossen Stadt.
Die ersten Tage in Istanbul sind extrem ruhig, da der Lockdown noch andauert. Wir teilen uns die leeren Strassen nur mit den 200’000 Strassenhunden und wohl ebenso vielen Katzen, die hier leben. Danach wird es dann deutlich lebendiger - schön. Wir probieren allerlei einheimische Leckereien, machen etwas Sightseeing, spazieren in den Parks, am Meer und durch die Gassen und Strassen der verschiedenen Stadtviertel, die alle eine eigene Atmosphäre haben. Zudem gibt es auf einer Radreise immer auch das Eine oder Andere zu erledigen: Fahrrad- und Materialpflege, Website und Social Media-Kanäle füttern, Filme schneiden, Berichte schreiben, Fotos und Filme verwalten, Weiterreise planen und so weiter. So ist schnell einmal eine Woche vorbei.
Wir verlassen Istanbul gen Norden. Erstaunlich schnell finden wir uns in behaglichen Wohnvierteln wieder. Mit jedem Kilometer wird es ruhiger, grüner und ländlicher. Wir fahren an etlichen für uns etwas seltsam wirkenden offiziellen, kostenpflichtigen Picknick-Plätzen vorbei. Es sind Park ähnliche Anlagen, in denen die Picknick-Tische dicht an dicht nebeneinander stehen. Picknicken ist eine grosse Sache in der Türkei und wird oft und gerne mit der ganzen Familie gemacht. Oft auch an für uns etwas seltsamen Orten, wie direkt neben viel befahrenen Schnellstrassen.
Am Schwarzen Meer machen wir ein paar Tage Strandferien. Die Steilküste wird immer wieder von sandigen Buchten unterbrochen. Auf den Campingplätzen treffen wir auf viele freundliche Menschen. Sie verwöhnen uns mit türkischem Frühstück, Kaffee, Keksen, gegrilltem Fleisch und immer wieder Chai. Teilen ist eine Selbstverständlichkeit für viele Türk_innen. Die Unterhaltungen gestalten sich ganz unterschiedlich. Manchmal mit Händen, Füssen und unseren bescheidenen, aber stetig wachsenden, türkisch Kenntnissen. Manchmal auf Englisch und immer mal wieder sogar auf Deutsch. Viele haben Verwandtschaft im deutschsprachigen Raum oder haben selbst dort gelebt und gearbeitet. Nicht selten passiert es, dass uns plötzlich ein Telefon gereicht wird, und am anderen Ende die Schwester aus der Schweiz, der Bruder aus Bayern oder der Sohn aus Salzburg dran ist. Manchmal dienen diese als Übersetzungshilfen, oft geht es aber einfach nur darum «Hallo» zu sagen. Die Leute teilen ihrer Verwandtschaft in der Ferne ungläubig und freudig mit, dass sie zwei Verrückte, die mit dem Fahrrad bis in die Türkei geradelt sind, getroffen haben.
Unsere Route führt uns auf mohnblumengesäumten Strassen ins Landesinnere. Die ersten Tage sind geprägt von dichtem Grün: Haselnussplantagen, Wälder, Tee- und Tabakfelder.
Unterwegs schlagen wir uns in kleinen Strassenrestaurants für 5 Franken die Bäuche voll, fahren durch traditionelle Bergdörfer, beobachten die Menschen bei der Feldarbeit und trinken mit etlichen Leuten Tee. Ach ja, und wir werden fast täglich beschenkt. Hatte ich das erwähnt?
Die Landschaft ändert sich fast schlagartig als wir über den Aynalekaya Gecidi-Pass kommen. Es wird karger. Über rote, grüne und graue Fels- und Steinlandschaften erreichen wir die zentralanatolische Hochebene in der die Landschaft steppenähnliche Züge annimmt. Es ist eindrücklich und wunderschön.
Die Siedlungen werden kleiner und einfacher hier oben auf gut 1000 M.ü.M.. In Teehäusern oder kleinen Lokalen, die wir manchmal erst auf den zweiten Blick als solche erkennen, kehren wir gerne auf einen Chai ein. Ein warmes Getränk ist bei morgendlichen Temperaturen um die 8 Grad sehr willkommen. Moscheen finden sich fast überall.
Für uns sind sie wertvolle Wasserquellen, manchmal sogar in Trinkwasserqualität. Vor dem Gebet waschen Muslime Hände, Gesicht und Füsse. Das Ritual hat einen festen Ablauf und wird in der Türkei «Abdest» genannt. Im Aussenbereich von Moscheen befinden sich daher immer Brunnen mit Waschstationen. Mehrmals täglich hören wir den Gesang des Muezzins. Hatten wir das aus früheren Reisen in arabische Länder als stimmungsvoll in Erinnerung, ist dieser Zauber nach einem Monat in der Türkei fast gänzlich verschwunden. Wir empfinden es meist als zu laut, schrill und schäppernd. Sollte es für einmal keine Moschee in einem Dorf haben, werden kurzerhand Lautsprecher an Strassenlaternen oder Strommästen befestigt, so dass niemand auf die Beschallung verzichten muss.
Die wirtschaftliche Situation ist für viele Türk_innen schwierig. Dass der türkische Lira in den letzten Jahren massiv an Wert verloren hat, setzt den Menschen zu. Viele Leute im Hochland leben von ihren Kuh-, Schaf- und Ziegenherden. Sie ziehen teils noch als Hirten durch das hügelige Weideland. Wo Schafherden sind, sind auch Hirtenhunde - riesige anatolische Schäferhunde (Kangals), die bis zu 80 kg wiegen. Diese werden auch gerne als Wachhunde eingesetzt. Und wir müssen sagen, sie machen ihren Job gut. Sie jagen uns bellend, knurrend und Zähne fletschend hinterher, wenn wir auf der Strasse ihr Revier passieren. Das ist ja nicht ganz neu für uns. Schon seit Bosnien hatten wir immer mal wieder bellende Hunde hinter uns. Doch die Aggressivität und Hartnäckigkeit der Wach- und Hirtenhunde im zentralanatolischen Hochland überrascht uns doch.
Ein besonders ungemütlicher Zeitgenosse geht sogar soweit und beisst in Marios linke Hinterradtasche. Bisher hatten wir geglaubt, dass es bei Gebell und Drohgebärden bleiben würde… Damit, dass einer tatsächlich zubeisst, hätten wir nicht gerechnet. Ein Schreck, den wir verdauen müssen. Doch dafür bleibt kaum Zeit. Bereits am nächsten Morgen schrecken wir aus dem Schlaf auf. Es knurrt und bellt vor unserem Zelt. Hä? Haben wir noch Alpträume von gestern? Eine Schafherde mit ihrem engagierten Wächter hat sich unser Wildcampingplatz als Weide ausgesucht. Das dunkelgrüne fremde Etwas, in dem wir liegen, scheint ihm hörbar suspekt zu sein. Wir sitzen auf und spähen vorsichtige aus dem Zelt. Der Hund späht missmutig auf Augenhöhe zurück. Nein, da gehen wir nicht raus. Wir machen den Reissverschluss also sachte wieder zu und verhalten uns möglichst ruhig. Glücklicherweise stehen wir eher auf einem Geröllfeld als auf einer saftigen Wiese, was nach 45 Minuten auch die Schafe bemerkt haben und weiterziehen. Bello nehmen sie mit. Danke.
Die gebellte Ladung Vierbeiner steckt uns in den Knochen. Die nächsten Tage sind wir angespannt und halten ständig nach Hunden Ausschau. Wir können die schöne Gegend nicht mehr entspannt geniessen. Es kommt auch tatsächlich zu weiteren Hundebegegnungen, die aber relativ glimpflich ablaufen. In Kulu, einer gemütlichen 50’000 Einwohner Stadt, machen wir ein paar Tage Pause. Wir tanken neue Energie und nehmen dann die nächsten 200 km bis nach Kappadokien in Angriff.
Kappadokien ist landschaftlich ein absolutes Highlight. Erosion und Vulkantätigkeit haben hier eine surreal wirkende Gegend erschaffen. Hier finden sich eine Vielzahl an in das weiche Tuffgestein geschlagenen Kirchen und Wohnungen. Bereits 7500 v. Chr. war dieses Gebiet besiedelt. Später entwickelte sich Kappadokien zu einem wichtigen frühchristlichen Zentrum. Das Gebiet blickt auf eine bewegte Geschichte zurück, so dass die Höhlenwohnung- und kirchen den Menschen immer wieder Schutz vor Krieg und Verfolgung boten.
Wir tauchten ganz in diese märchenhafte Welt ein und verbringen drei Nächte in einer Höhle. Der Weg dahin ist mit unseren schwer beladenen Fahrrädern allerdings alles andere als märchenhaft. Die Wege hier draussen sind sandige Trampelpfade, die auf Grund der Topografie selten flach sind. Immer wieder haben wir mit kurzen, aber steilen Steigungen zu kämpfen. Zu zweit schieben wir die Räder die Hügel hinauf und rutschen dabei immer wieder auf dem heissen Sand aus. Nun ja, vielleicht sind Flipflops nicht das geeignete Schuhwerk für solch ein Unterfangen. Nach einer Stunde und acht zurückgelegten Kilometern, kommen wir an «unserer» Höhle an. Einfach zauberhaft. Wenn früh morgens die Heissluftballone in die Höhe steigen, bewegt sich auch das Kitschlevel der Szenerie auf nicht minder hohem Niveau.
Nach Kappadokien zieht es uns trotz aller türkischen Schönheit weiter. Der Osten ruft: Georgien und Armenien haben ihre Landgrenzen wieder geöffnet. Juhui! Wir steigen nach vier Monaten Reisen zum ersten Mal in einen Bus. In nur einer Nacht legten wir so 600 km zurück und befinden uns plötzlich wieder am Schwarzen Meer. Die letzten 200 km bis zur georgischen Grenze radelten wir aber wieder. So haben wir Zeit, uns von der lieb gewonnenen Türkei zu verabschieden.
Wir sind Menschen begegnet, die uns in allen möglichen Situationen völlig vorbehaltlos weiterhalfen. Menschen, die uns trotz unserer fehlenden Türkischkenntnissen und unserer fremd anmutenden Art immer mit Respekt und auf Augenhöhe begegneten. Menschen nahmen sich Zeit uns den Weg zu einem Hotel zu zeigen, in dem sie uns gleich dorthin eskortierten, sie zapften ihre Kontakte an und telefonieren mit der halben Stadt, wenn wir in ihrem Geschäft das gesuchte Produkt nicht fanden, sie schenkten uns Trinkwasser, wenn wir nur nach Brauchwasser fragten und luden uns zum Dessert ein, wenn wir in ihrem Restaurant assen. Wir durften auf ihren Feldern, Plantagen und auf ihren Vorplätzen unser Zelt aufschlagen.
Ist es die Religiosität, die den Menschen diese Gastfreundschaft auferlegt? Nicht unbedingt. Wir hatten den Eindruck, dass viele Menschen in der Türkei nicht (streng) gläubig sind. Oftmals scheint der Islam mehr als Qultur wahrgenommen und gelebt zu werden, weniger als Religion.
Die Türkei hat uns überrascht. Dass es uns hier so gut gefällt, hätten wir vorher nicht gedacht.
Mehr Informationen zum Projekt von Livia Amstutz und ihrem Mann Mario Beck findet ihr hier.