Heimkehr – eine Geschichte
Monate waren vergangen seit er zuletzt zuhause gewesen war. Die Erinnerung an seine behagliche Wohnung in seinem Heimatdorf in den Alpen glühte in ihm, das Verlangen war gross nachzugeben und heimzukehren. Es war eine Spur von Heimweh, dass seine Gedanken nach Hause zog. Doch noch war es nicht so weit. Einige Tage blieben ihm noch im schönen Neapel. Die vergangenen Wochen würde er als die schönsten seiner bisherigen Existenz bezeichnen. Viele neue Orte durfte er kennenlernen und einige dieser Orte waren ihm wahrhaftig ans Herz gewachsen. Wie zuhause fühlte es sich nicht an hier in Neapel, eher wie eine Behaglichkeit, die stets zu vergehen drohte. Er kannte bereits jeden Winkel der Wohnung, die er nun seit sechs Wochen bewohnte. Die alte Küche mit den Herdplatten, die eine Ewigkeit brauchten, bis sie sich aufgeheizt hatten und warm genug waren um Tee oder eine Suppe aufzukochen. Das Bad, dessen Duschkabine so klein war, dass er mit den Füssen ausserhalb der Kabine stand, wenn er sich seine langen blonden Haare waschen wollte. Das Schlafzimmer mit dem Blick direkt aufs Meer, von dessen Fenster aus er auch die Anlegestelle der Segelboote beobachten konnte, waren ihm ebenso ans Herz gewachsen. Er fühlte sich durch und durch wohl an diesem Ort, der ihm nur wenige Wochen davor noch so fremdartig und neu erschienen war.
Doch die Zeit in Neapel nahm ein Ende. Unausweichlich kam der Tag der Abreise näher und mit jedem Tag der verstrich, wurde Neapel schöner und schöner. Bliebe er, so würde er vielleicht nie mehr von hier weggehen. Doch würde dann die Stadt mit jedem Tag weiterhin schöner? Wäre es nicht der Todesstoss, den er der Empfindung von Schönheit gäbe, wenn er bliebe, statt ginge? Und würde er jemals wiederkommen? Dessen war er sich nicht sicher, denn ihm war, als ob er nie mehr wiederkäme, würde er die Stadt verlassen, denn die Erinnerung an die Schönheit würde schliesslich über den Wunsch der Rückkehr siegen. Er sah sich schon, wie er sein gesamtes Leben an diese Wochen in Neapel zurückdachte, voll stiller Freude. Wäre da nicht auch ein Hauch von Wehmut? Die ungeklärte Frage liess ihn Hadern mit seiner Entscheidung um Heimkehr oder endgültiges sich Niederlassen in Neapel. Die Sonne neigte sich dem Horizont. Das Meer glühte in rotorangenem Glanz, der Himmel wurde ebenso vielfarbig. Wunderschön waren die Abende, wenn die Sonne über dem Meer im Westen unterging. Würde er das vermissen? Wollte er nicht hierbleiben und nie mehr nach Hause zurückkehren?
Er stellte sich vor, wie er voller Erwartung an seine behagliche Wohnung nahe des Waldes im hochgelegen Alpendorf dachte, während er mit Segelboot und Zug auf Meer und Schiene gen Heimat zurückreiste. Er malte sich aus, wie es wäre heimzukehren und den Duft der verlassenen Wohnung zu ergründen, die während seiner Abwesenheit niemand betreten hatte. Wie würde es riechen, an dem Ort an dem er seit Jahren zuhause war? Würde er überhaupt etwas riechen, denn schliesslich war es ja seine Wohnung, und den eigenen Geruch nahm man selten wahr. Der Tag der Abreise rückte unaufhaltsam näher und die Stadt und der Hafen von Neapel wurde mit jeder vergehenden Stunde immer schöner in seinen Augen. Die Kirchtürme der Altstadt erstrahlten unter der scheinbar immerblauen Himmelskuppel in verzaubertem Glanz. Wehmut überkam unseren jungen Protagonisten. Ganz zu schweigen von den wunderbaren Momenten, die er mit den wahllosen Bekanntschaften verbracht hatte, wie sehr er dies doch vermissen würde. Wollte er denn wirklich nicht für immer bleiben? Ebenso sehr wie die Stadt und das Meer ihn zum bleiben zwingen wollten, rief die Heimat von fernher in immer lauterem Heimweh nach ihm. Wann hatte er zum letzten Mal eine echte Rösti mit Spiegeleiern gegessen? Die Italiener kochten vorzüglich, hatte er nicht zu klagen, nur die Rösti mit Spiegeleiern schien jedem Einheimischen hier misslingen zu wollen. War das vielleicht ein Zeichen? Welcher Wunsch – zu bleiben oder heimzukehren, würde am Ende siegen? Und was für eine Rolle spielte die Vernunft in dieser Geschichte?
Der Tag der Abreise stand bevor. Er packte seine Sachen zusammen, in der Hoffung es vergebens zu tun. Doch er wollte auf Nummer sicher gehen, denn vielleicht siegte ja doch der Wunsch heimzukehren. Wieder ertappte er sich im Anblick des Sonnenuntergangs, seines vielleicht letzten Sonnenuntergangs hier in Neapel bei dem Gedanken an zuhause. Was würden seine Freunde dazu sagen, wenn er nicht mehr wiederkäme, nach Hause? Würden sie seinen Wunsch verstehen? Würden sie ihn besuchen, während er auf ewig in dieser Stadt verweilte? Es gab zu viele Fragen und zu wenige Antworten für seinen Geschmack. Als die Sonne den Horizont berührte, entschloss er sich für eine endgültige Antwort. Bis die Sonne verschwunden war, wollte er sich seines Wunsches sicher sein. Während die Sonne unaufhaltsam sank, besann er sich der Gründe, derer es viele gab, zu bleiben oder heimzukehren. Die Sonne war bereits zur Hälte untergegangen, als er meinte die Antwort gefunden zu haben. Er würde bleiben, und zwar für immer. Wieder kamen Zweifel in ihm auf an der Umsetzbarkeit seines Wunsches, wieder besann er sich der unzähligen Gründe dafür und dagegen. Als von der Abendsonne nur noch ein winziger Schein übrig war, zweifelte er nicht mehr an der Endgültigkeit seiner Entscheidung. Die Vernunft hatte gesiegt, seine Verantwortungen, die nur zuhause gab und die sich nicht ignorieren liessen, stimmten ihn trübe bei ihrem Gedanken. Die Sonne ging unter. Am Abend ging er nochmals durch die Stadt und sah sich alljene Orte an, die ihm über die Wochen so sehr ans Herz gewachsen waren und die er nun verlassen würde. Die Nacht brach herein über der Stadt und unser junger Protagonist verabschiedete sich zum letzten Mal von alljenen Seelen, die seinen Aufenthalt versüsst hatten. Dann ging er zurück in seine Wohnung, kontrollierte zum letzten Mal alle Schubladen und Schranktüren, ob er nicht doch etwas vergessen hatte einzupacken und legte sich schliesslich müde und etwas traurig aber dennoch mit sich selbst zufrieden zu Bett. Während er zum letzten Mal dem Meeresrauschen, das aus dem offenen Fenster zu ihm hereindrang, lauschte, glitt er ins Reich der Träume.