Geschlechterrollen - wie wir früh Weichen stellen
Dass ich aktuell schwanger bin, haben auch Google und Co. längst mitbekommen. Und so werde ich täglich mit Baby- und Schwangerschafts-Content digital bombardiert. Gefühlt ist aktuell darum jedes 5. Reel, das ich mir ansehe ein «Gender Reveal». Hinzu kommen immer mehr Fragen vom Umfeld oder auch Wildfremden, die wissen wollen, ob ich denn schon weiss «was es gibt». Es ist offenbar unendlich wichtig, das Geschlecht eines Babys zu kennen und zu feiern. Im Gegensatz zu früher passiert dies heute auch im Rahmen von Gender Reveal Parties und dazu passender Social Media Zelebrierung. Ein Trend, der mich nachdenklich macht.
So unschuldig Parties und Torten mit rosa oder hellblauen Überraschungskernen, Konfettibomben, Ballonkisten oder Rauchwolken in den Geschlechterklischee-Farben auf den ersten Blick auch scheinen mögen - Wir müssen uns fragen, was wir damit bewirken. Wieso ist es uns überhaupt so wichtig, welches Geschlecht ein Kind hat? Und was für Folgen hat die feierliche Verkündung? Was erwarten wir - sowohl von den Eltern, als auch von dem ungeborenen Kind? Was geht den Eltern durch den Kopf, während sie mit zig Handykameras auf sich gerichtet die Verkündungs-Torte anschneiden? Erwartungsgemäss müssen beide in Jubel ausbrechen, sobald sie die ersten rosa oder hellblauen Krümel sehen. So will es quasi die Gender-Reveal-Tradition. Denn trotz dem ganzen Tamtam ist es gleichzeitig auch ganz wichtig, dass das Geschlecht eigentlich unwichtig ist. Aber was geht wirklich in ihnen vor? Und was in ihrem Umfeld? Und mal ganz generell: Sind wir auch 2022 ernsthaft noch so in der Blau-Rosa-Falle gefangen? Müssten wir nicht längst begriffen haben, dass Farben für alle da sind? Und erhöhen solche medial gepushten Trends nicht auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns mit all diesen Fragen nie auseinandersetzen?
Ein Gang durch die Babybekleidungs-Abteilung reicht, um die Geschlechterklischees unserer Zeit auch heute noch plakativ präsentiert zu bekommen. Allein die Farbwelten zeigen schon von weitem, welches Geschlechtsteil wie eingepackt werden soll.
Viel zu oft habe ich mir auch mit unserer Tochter schon anhören müssen, dass sie heute aber gar nicht wie ein Mädchen aussieht, wenn sie mal weder rosa noch Glitzer, noch Rock getragen hat. Dabei sollte es uns doch völlig egal sein, was ein Kind trägt, solange es nicht frieren muss. Auch wenn Mädchen kurze oder Jungs lange Haare tragen, können wir mit Sicherheit damit rechnen, dass sowohl Kind, als auch Eltern regelmässig mit negativen Kommentaren konfrontiert werden. Und all das und noch viel mehr beginnt nunmal oft schon in der Schwangerschaft, sobald das Geschlecht eines Kindes verkündet wird. Tante Elsa freut sich, dass sie «Mädchenkleider» oder «Bubenkleider» nähen darf, Onkel Markus sucht schon den ersten Trettraktor für den Neffen aus und endlich kann das Kinderzimmer in den passenden Farben gestrichen und dekoriert werden. Auch die Babygeschenke fallen oft schon entsprechend der typischen Geschlechterrollen aus. Schon bei Neugeborenen werden Blumenmotive, Glitzer und Prinzessinen für Mädchen gewählt und Autos, Raketen und Dinos für Jungs. Sogar süsse Tierbilder scheinen Geschlechtern zugeordnet zu werden. Für Jungs sind offenbar Elefanten, Giraffen, Löwen, Füchse, Dinos und Co. passend, während für Mädchen süsse Katzen, Rehe, Häschen, Küken, Ponies und Co. ausgewählt werden. Aber wieso? Was verbinden wir mit diesen Tieren, Farben, Symbolen und Gegenständen? Wieso sind es vor allem die Tiere, die für Stärke und Schlauheit bekannt sind, die mit Jungs assoziiert werden, während die Tiere für Mädchen hauptsächlich süss und kuschelig sein sollen? Wieso werden Geschlechterrollen bereits als Motive auf Babykleidung gedruckt? Wieso können wir uns so schlecht von diesen Klischees lösen? Wieso dürfen Jungs kein Rosa und Glitzer mögen? Und wieso Mädchen kein Schwarz und Blau? Wieso müssen Kinder immer so angezogen und eingerichtet werden, dass ihr Geschlecht auch gleich für alle erkennbar ist? Wieso um alles in der Welt ist das wichtig? Und was macht uns so Angst an allem was «zu weich» für einen Jungen und «zu hart» für ein Mädchen sein könnte? Wieso ist es so entscheidend, ob in der Windel ein Penis oder eine Vulva eingepackt ist?
Ja, ich wälze hier ein Klischee nach dem anderen. Aber entsprechen sie denn nicht auch noch viel zu oft der Realität? Auch wenn wir uns für noch so reflektiert halten, das Gefühl haben absolut neutral gegenüber Geschlechterrollen zu sein und jedes Kind ohne Erwartungshaltung aufwachsen zu lassen: Sitzt die gesellschaftliche Prägung nicht auch in uns tief? Sehen wir einen Jungen mit einem rosa glitzernden Prinzessinnen-Pulli wirklich genau so, wie einen Jungen mit Dino-Pulli? Würden wir einem Mädchen zur Geburt einen hellblauen Strampler mit Traktoren schenken, ohne uns etwas dabei zu denken? Und beurteilen wir nicht auch das Verhalten von Jungs und Mädchen unbewusst anders?
«An dem Mädchen ist aber ein Junge verloren gegangen!»
«Oh, schau Mal das Mädchen an, wie es mit den Jungs Fussball spielt!»
«Jö, wie süss! Der Junge hat sogar eine Puppe im Kinderwagen!»
«Der ist aber feinfühlig, für einen Jungen!»
«Die ist aber ganz schön wild für ein Mädchen!»
Sind das wirklich Gedanken, die uns so fern sind? Mir ist es enorm wichtig, solchen Prägungen entgegenzuwirken. Und dennoch erwische auch ich mich regelmässig dabei, in solche Fallen zu tappen.
Versteht mich nicht falsch: Ich finde es völlig legitim, das Geschlecht seines ungeborenen Kindes kennen zu wollen. Ich bin sogar der Meinung, dass es super nachvollziehbare Gründe dafür gibt, sich besonders über ein bestimmtes Geschlecht zu freuen. Zum Beispiel, wenn einem die eigene Intuition ganz eindeutig vorhersagt, dass man einen Jungen oder ein Mädchen bekommen wird und man total überfordert damit wäre, dieses intuitive Gefühl neu zu ordnen, oder weil medizinische Vorbelastungen vorliegen, die für ein Geschlecht milder ausfallen. Es gibt bestimmt viele gute Gründe, sich ganz speziell über ein Geschlecht zu freuen. Aber nicht wegen einer bestimmten Einrichtungsfarbe, Kleiderauswahl, Spielzeug oder anderen Belanglosigkeiten. Ein Penis bestimmt nicht darüber, ob ein Kind mit seinem Vater gerne Auto fährt oder abenteuerliche Ausflüge unternimmt. Eine Vulva entscheidet nicht über das Interesse an Babys, Röcken oder Nagellack. Wenn wir eines als Eltern lernen müssen, dann dass der Lebensplan und die Persönlichkeit unserer Kinder nicht unseren Vorstellungen folgt. Viel mehr dürfen wir als Eltern diese neuen, reinen, puren Menschen kennen lernen, von ihnen lernen, mit Ihnen in Beziehung treten und sie durchs Leben begleiten.
Wir können an ihnen ziehen und sie brechen, sie unseren eigenen Erwartungen unterwerfen und zu Gehorsam erziehen. Aber wir gewinnen dadurch nichts und unsere Kinder noch viel weniger. Weder die Vorlieben, noch die Persönlichkeit, noch die Stärken und Schwächen unserer Kinder hängen von deren Geschlechtsteilen ab. Also lasst uns doch einfach diese wundervollen Menschen erwartungsfrei auf der Welt begrüssen und kennenlernen.
Denn während wir «wisst ihr schon was es wird?» als Standardfloskel für werdende Eltern benutzen, käme uns ein «wisst ihr schon, ob es einen Penis oder eine Vulva hat?» vermutlich kaum über die Lippen. Doch genau das fragen wir damit eigentlich. Denn das biologische Geschlecht sagt nicht mehr und nicht weniger über ein Kind aus, als welche Form dessen Geschlechtsteile haben.
Doch was, wenn auch nach der Geburt nicht klar ist, welchem Geschlecht ein Kind biologisch zugeordnet werden soll? In der ganzen Diskussion blenden wir viel zu oft aus, dass es auch Intergeschlechtlichkeit gibt. Die Dunkelziffern sind hoch und das Thema bis heute stark tabuisiert. Selbst in der Medizin wird es totgeschwiegen. Das führt auch dazu, dass Eltern in den meisten Fällen nach wie vor so überfordert sind, dass sie sich zu medizinisch unnötigen, frühen, geschlechtsangleichenden Eingriffen überreden lassen. Meist mit dem Argument, dass in unserer Gesellschaft ein Kind eben von Anfang an klar einem Geschlecht zugeordnet werden muss. Die seelischen und körperlichen Konsequenzen tragen die betroffenen Menschen oft ein Leben lang - in vielen Fällen, ohne je die Gründe dafür zu erfahren.
Verlässliche Statistiken gibt es keine. Die Fälle werden oft nicht erfasst und heimlich operiert, bevor jemand davon erfahren könnte. Laut BAG sind in der Schweiz jährlich rund 40 Neugeborene betroffen. Es gibt aber auch Schätzungen, die von bis zu 0.2 Prozent der Neugeborenen ausgehen. Das wäre dann jedes fünfhundertste Kind, also für die Schweiz ca. 17’000 Kinder jährlich. Ob 40 oder 17’000 Kinder jährlich: Was bedeutet die Wichtigkeit des Geschlechts eines Kindes in unserer Gesellschaft für diese Kinder? Sind wir uns überhaupt bewusst, dass diese Kinder existieren?
Ich bin in meinem Psychologie-Studium mit dieser Thematik in Berührung gekommen und habe auch mit betroffenen Menschen gesprochen. Deren Geschichten haben mich tief berührt und mein Bewusstsein für die Problematik geschärft. Schon in der ersten Schwangerschaft habe ich zum Geschlecht unseres Kindes deshalb oft hinzugefügt «aber selbst wenn es kein eindeutiges Geschlecht hätte, würde es für mich keinen Unterschied machen». Die verwirrten Blicke haben mir immer sehr deutlich gezeigt, dass den meisten Menschen überhaupt nicht bewusst ist, dass diese Möglichkeit existiert. Aber das tut sie. Und es ist wichtig, dass wir das wissen.
Puh, ganz schön viel auf einmal. Etwas möchte ich euch aber noch mitgeben. Denn die Prägung von Geschlechterrollen in der Schwangerschaft betrifft nicht nur die ungeborenen Kinder, sondern auch deren Eltern. Auch das fällt mir in letzter Zeit wieder besonders häufig auf. Denn während mir bereits des öfteren ungefragt in Gesprächen mitgeteilt wurde, dass ich mit zwei Kindern ja sowieso keine Zeit mehr zu Arbeiten hätte und mich spätestens dann voll und ganz auf die Kinder fokussieren müsse, wurde meinem Mann nie etwas in diese Richtung gesagt. Das geht nicht nur uns so. Während werdende Mütter regelmässig gefragt werden, ob sie denn trotz Kindern wieder arbeiten wollen, oder auf wieviel Prozent sie nach dem Mutterschutz reduzieren, führen werdende Väter generell nur selten bis nie solche Gespräche. Auch Arbeitgeber kommen selten auf die Idee, werdende Väter danach zu fragen, auf wie viel Prozent sie nach der Geburt reduzieren möchten. Für Frauen sieht die Realität in der Arbeitswelt leider auch heute noch oft sehr anders aus.
Das Problem bleibt in jedem Alter und in jeder Lebensphase dasselbe: Unsere gesellschaftliche Prägung lässt uns mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen auf Männer und Frauen zugehen. Ob wir wollen oder nicht, wir werden von unserer Gesellschaft geprägt und diese ist noch immer von vielen patriarchalen Strukturen gezeichnet. Glaubst du nicht? Betrifft dich nicht? Dachte ich auch lange. Bis ich die Zähne zusammengebissen und genauer hingeschaut habe. Denn, sich der eigenen Prägungen bewusst werden, kann schmerzhaft sein und es ist konstante Arbeit.
Ich erwische mich zum Beispiel nach wie vor dabei, von Müttern im Beruf zu hören und mich automatisch im Kopf sofort zu fragen, wie sie wohl die Kinderbetreuung für sich geregelt haben. Noch nie habe ich mich dasselbe bei einem arbeitenden Vater gefragt. Und ich bin mir sicher, es geht nicht nur mir so. Oder siehst du wirklich einen Vater, der einen Kuchen für den Kindergeburtstag backt und mit den Kindern alleine Einkaufen fährt mit den genau gleichen Augen wie eine Mutter? Oder hast du auch wie ich die Tendenz, den Vater dafür immer etwas mehr wertzuschätzen und dieselbe Arbeit der Mutter als selbstverständlich hin zu nehmen? Mir passieren diese und tausend andere Verzerrungen zumindest nach wie vor regelmässig und ich bin mir sicher, ich bin damit nicht allein.
Das heisst nicht, dass wir in Opferrollen verfallen und Anderen die Schuld für Ungleichheiten und Probleme geben sollen. Schlussendlich ist jeder selbst für sich und eine Zeit lang auch für seine Kinder verantwortlich. Aber sowohl für uns selbst, als auch für unsere Kinder, kann es extrem wertvoll sein, wenn wir ernsthaft reflektieren und uns mit diesen Themen und unseren eigenen Prägungen auseinandersetzen und sie vor allem ernst nehmen. Denn wir dürfen nicht vergessen: WIR sind die zukünftigen Prägungen unserer Kinder.
Also lasst uns an uns arbeiten und uns nicht damit zufrieden geben, dass sich in den letzten Jahrzehnten ja schon Einiges getan hat. Für uns. Aber auch für die nächsten Generationen.