Grenzgängerin
Heute, mit zu vollem Kopf und Herz auf der Suche nach einem Thema für diese Kolumne, wurde ich ganz real zur Grenzgängerin. Ich spazierte von Triesen nach Werdenberg, die ersten paar Kilometer auf der Liechtensteiner Seite, die nächsten dann auf der Schweizer Seite. In dem Moment, in dem ich auf den Auslöser für das Foto zu dieser Kolumne drückte, hatte ich mein Thema: Grenzen.
Meine waren offen heute. Nachbarn links und rechts des Rheins, die sich verstehen und nichts Böses wollen. Ich brauchte weder Pass noch ID noch ein Zertifikat noch ein Visum. Der Rhein war türkis, die Luft klar, die Bergspitzen strahlend weiss, über allem hing ein stiller Friede. Mir fiel die ukrainische Frau ein, die am Samstag eigentlich Tulpen pflanzen wollte und stattdessen mit einem schweren Gewehr in den Kampf zog. Mir fielen all die Familien auf der Flucht ein. Und mir fiel der Post einer Autorenkollegin ein, in dem sie schilderte, wie Jugendliche beim Hören oder Schauen der Nachrichten aus dem Krieg bitterlich weinen, um danach zur Schule zu gehen, wo sie Tests schreiben müssen.
Während meine Grenzen offen waren und sind, wurden die Grenzen in der Ukraine gewaltsam überrollt. Erst einmal hat mich dieser Angriff total aus der Bahn geworfen. Ich las alles über diesen Krieg, das ich finden konnte, frass mich sozusagen in Echtzeit durch die Online-Newsportale. Fassungslosigkeit überall. Und dann machte ich den Fehler, am Tag der Invasion Instagram einen Besuch abzustatten. Dort war alles so bunt, so normal. Ich starrte auf diese seltsame und fremde Social Media Welt und entschied, sie besser wieder zu verlassen, weil ich mit so vielen Farben nicht klarkam.
Ich komme auch jetzt, Tage danach, immer noch nicht wirklich klar damit. Natürlich verstehe ich, dass der Alltag weitergeht. Ich verstehe, dass Autorenkolleg*innen ihre neuen Bücher vorstellen möchten, sich an ihren Erfolgen freuen möchten, Schönes aus ihrem Leben teilen möchten. Ich kann das nicht. Noch nicht. Meine Autorenkollegin Mirjam Wicki ist in einem Blogpost der Frage nachgegangen, ob man als Autorin über den Krieg posten soll, kann, darf oder gar muss. Sie hat sehr lesenswerte Antworten gefunden.
Ich kann nicht anders: Ich blogge und poste im Moment zum Krieg. Auch jetzt, in dieser Kolumne. Weil mir alles andere banal erscheint. Dabei masse ich mir nicht an, irgendwas zu analysieren, ich beschreibe, wie es mir geht. Und gewöhne mich so langsam wieder an das Bunte und Alltägliche. Ich erledige den Haushalt, ich arbeite.
Das bedeutet: Ich lektoriere Geschichten für unseren da bux Verlag, einmal mehr hammerstarke Texte mit den verschiedensten Themen. Dabei habe ich das Glück, mit Vollprofis zu arbeiten, die sich mit mir zusammen auf ein Schleifen und Feilen ihres Textes einlassen.
Und ich schreibe. Beim Schreiben von meinen zwei aktuellen Projekten bin ich ganz Grenzgängerin. Ich betrete Welten, die ich nicht aus persönlicher Erfahrung kenne, tauche ein in Leben von jungen Frauen. Ich fühle mit und bin sicher, dass ich die Leben dieser Frauen nachvollziehbar zeichnen resp. schildern kann. Dabei gibt es für mich keine Grenzen. Die Grenzen liegen eher anderswo und sind für mich nicht beeinflussbar: Sie liegen in der neuen Wokeness, die im Extremfall fordert, dass man selbst erlebt haben muss, was man schreibt.
In meinen Büchern habe ich viele aktuelle Themen aufgenommen. Nur über den Krieg habe ich nie geschrieben, weil mich die Grausamkeit des Krieges überfordert, mich über meine Grenzen des Erträglichen schleudert. Ich bin aber froh, tun andere das. Es gibt extrem gute Kinder- und Jugendbücher zum Thema Krieg. Fragen Sie die Bibliothekarin oder Buchhändlerin Ihrer Wahl. Sie können Ihnen Tipps geben. Und falls ihr Kind lieber in andere (Buch)Welten fliehen wird, gilt derselbe Tipp.
PS: Wenn Sie den Eindruck haben, der Text heute flattere in alle Richtungen aus, habe keinen Fokus: Ich finde es gerade sehr schwierig, diesen Fokus zu finden. Ich bringe die ukrainische Tulpenfrau nicht aus meinem Kopf. Sie war eine wie ich, bevor der Angriff sie von jetzt auf sofort in ein neues Leben katapultierte, in dem der Tod allgegenwärtig ist. Diese Frau und mit ihr zusammen das ganze ukrainische Volk mit seinem Mut haben in mir etwas ausgelöst und Grenzen in mir verschoben. Wohin mich das führt und wie ich damit umgehen kann und soll, weiss ich noch nicht.