Einblicke in Europas dunkle Seele
In den nächsten Tagen wartet eine besondere Aufgabe auf uns. Wir werden uns einer kleinen NGO anschliessen, die hier Direkthilfe an Menschen auf der Flucht leistet. Wir haben nur eine sehr vage Vorstellung davon, was uns erwarten wird. Das ist vielleicht auch besser so.
Gespannt und aufgeregt radeln wir also nach Bihać hinein. Die Stadt liegt malerisch am Ufer des Flusses Una. Doch die Idylle trügt. Wegen ihrer Grenznähe zu Kroatien und somit zur EU ist Bihać zu einem Hotspot für Menschen auf der Flucht geworden. In einer Wohngegend hat die NGO ein Haus gemietet. Als wir auf den Hof einbiegen, öffnet sich die Tür. Eine Schar Bewohner*innen strömt angeregt plaudernd aus, um ihren täglichen Aufgaben nach zu gehen. Nur Lukas bleibt. Seine Aufgabe für heute ist es, uns in Empfang zu nehmen. Im zusammengewürfelt möblierten Wohnzimmer setzen wir uns auf ein abgewetztes Sofa. Es liegen Laptops, Unterlagen, Bücher, Taschen und Kleidungsstücke herum. Die dunkelbraune Wohnwand ist fein säuberlich beschriftet und beherbergt allerlei Sachen: Arbeitshandys, Büromaterial, Simkarten, Kabel, Spiele, Medikamente. Ja, hier wird gelebt und gearbeitet.
Lukas erzählt uns, was in Bihać momentan los ist.
Es sind fast ausschliesslich junge Männer, zum Teil fast noch Kinder, die sich hier aufhalten. Wie viele es sind, weiss niemand so genau. Mehrere hundert sind es sicher, vielleicht auch tausende. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, Pakistan oder Bangladesch. Sie wollen dorthin, wo wir herkommen: nach Europa, in die EU. Das offizielle Flüchtlingslager Lipa ist überfüllt und in schlechtem Zustand. Zudem befindet es sich 30 Kilometer ausserhalb der Stadt, mitten im nirgendwo. Zu weit ist der Weg von dort an die Grenze. Ein Weg, den sie zu Fuss zurücklegen. Über die Berge, abseits von Pfaden durch verminte Wälder. Deshalb kommen viele in die Stadt. Dort hausen sie in einem verlassenen Fabrikgebäude, an einem stillgelegten Bahnhof, in Zeltlagern am Stadtrand oder wo sie sonst Unterschlupf finden. Bis sie sich auf den beschwerlichen Weg in die EU machen, leben sie dort - ohne regelmässige Mahlzeiten, ohne Strom, ohne sanitäre Einrichtungen, ohne fliessendes Wasser, ohne medizinische Versorgung, ohne Heizung.
Die NGO versucht die Menschen auf der Flucht mit dem Nötigsten zu unterstützen: Kleidung, Decken, Schlafsäcke, Lebensmittel, Handys. Ausserdem leisten sie auch rudimentäre medizinische Hilfe. Diese ist auf Grund der katastrophalen hygienischen Zustände und den gewaltsamen «Pushbacks» der kroatischen Grenzpolizei bitter nötig. Diese sind nämlich nicht zimperlich, wenn es darum geht im Auftrag der EU deren Aussengrenze zu schützen. Menschen auf der Flucht werden geschlagen, von Hunden gejagt und ihr gesamtes Hab und Gut wird verbrannt. Ohne Schuhe, ohne warme Kleidung stehen sie dann im Wald und müssen zurück nach Bihac laufen. Dies, obwohl jeder Mensch ein Recht auf einen Asylantrag hat, sobald er EU-Boden berührt.
Die Erzählungen von Lukas machen uns betroffen und traurig. Doch was wir dann in den nächsten Tagen, in denen wir aktiv mitarbeiten, sehen und erleben, lässt uns an der Menschlichkeit der Welt zweifeln. Es ist eine humanitäre Katastrophe, die hier vor den Toren der EU, der Schweiz und Liechtenstein in deren Wissen passiert. Wie kann das sein?
Aus den vielen Begegnungen, Erzählungen, Einblicken und Erlebnissen, die wir in Bihać hatten, ist Hamids Geschichte entstanden. Sie ist fiktiv, könnte aber auch real sein.
Hamid
Hamid ist 19 Jahre alt. Heute ist sein Geburtstag. Es ist sein zweiter Geburtstag seit er Kabul verlassen hat. Es ist ein sonniger Tag. Er sitzt am Ufer der Una auf einer Bank und telefoniert mit seiner Mutter. Zu fünft teilen sie sich ein Handy. Heute darf er es benutzen. Er hat sich so positioniert, dass die schöne Brücke und das Restaurant mit Terrasse im Hintergrund zu sehen ist. «Alles in Ordnung, es geht mir gut», versichert er seiner Mutter. Das Gespräch ist kurz. Es ist teuer und die Akkuladung muss noch eine ganze Weile reichen. Ausserdem, was soll er schon erzählen? Die Wahrheit? Nein, sicher nicht. Sein Blick fällt auf das mehrstöckige, zerfallene Fabrikgebäude vor ihm - sein derzeitiges Zuhause. Er teilt es mit 200 anderen jungen Männern. Manche kommen auch aus Afghanistan, wie er. Mit den Pakistanis versteht er sich sehr gut. Dann hat es noch welche aus Syrien. Ein paar wenige kommen aus Bangladesh, sie bilden die Minderheit und gelten als Aussenseiter. Woher jemand kommt ist ihm egal, Hauptsache er hat ein paar Freunde, auf die er sich verlassen kann. Rauch qualmt aus den scheibenlosen Fenstern. Abfall und zerschlissene, durchgetragene Klamotten und Schuhe liegen überall herum. Ein paar der Anderen sind auch schon wach. Sie waschen sich am Fluss oder verrichten ihre Notdurft hinter Büschen.
Die Sonnenstrahlen tun Hamid gut. Es war eine kalte Nacht. Das Feuerholz ist ausgegangen. Sie haben daher heute Nacht Abfall und Kleidung verbrannt. Der Qualm war unerträglich, atmen kaum mehr möglich. Wie auf Kommando wird er von einem heftigen Hustenanfall durchgeschüttelt. Hie und da kommt eine Frau vorbei, die ihnen Holz bringt. Jetzt war sie schon eine Weile nicht mehr da. Sie ist Bosnierin und spricht Englisch mit hartem Akzent. Er versteht sie nur schwer. Die Leute, von denen er manchmal Essen und Kleidung bekommt, sprechen ganz anders. Langsamer, runder, höher. Das klingt ziemlich lustig. Sie kommen dorther, wo er hinwill: Mitteleuropa. Für ihn sehen sie irgendwie alle gleich aus. Nein, nicht alle. Da ist eine junge Frau mit himmelblauen Augen, die ihn und einem sanften, komplizenhaften Lächeln, das ihn jedes Mal auch zum Lächeln zwingt.
Zu fünft werden sie heute Abend zu Grenze aufbrechen. Er ist aufgeregt. Europa ist zum Greifen nah. Endlich. Vielleicht ist es bald geschafft? Doch dann beschleicht ihn wieder die Angst. Wie ein eiserner Klumpen setzt sie sich in seinem Bauch fest. Fast wird ihm übel. Für ihn ist es das erste Mal. Für Ahmed auch. Aber Sami, Rashid und Yaqub haben schon Erfahrung mit dem «Game». So werden die Versuche, über die Grenze zu kommen, genannt. Eine verzweifelte Bemühung, dem gefährlichen Vorhaben das Grauen zu nehmen, ihm etwas Scherzhaftes zu verleihen. Sami und Rashid haben es im Herbst schon 4xl versucht. Was sie erzählen, hat Hamid erschreckt. Sie wurden geschlagen, von Hunden gejagt, ihre Sachen wurden gestohlen und verbrannt, als sie von der kroatischen Grenzpolizei aufgegriffen wurden. Sami hat beim letzten Mal eine schlimme Wunde am Bein davongetragen. Sie ist nur schlecht verheilt. Doch er sei fit genug für einen weiteren Versuch, sagt er. Aufgeben ist keine Option.
Yaqub hatte es schon einmal bis nach Triest in Italien geschafft. Dann haben sie ihn bis nach Bihać zurückgefahren. Doch auch er verliert die Hoffnung nicht. «Das nächste Mal schaffe ich es bis nach Österreich oder in die Schweiz», sagte er kämpferisch.
Hamid kennt die Angst. Als seine Schule in Kabul beschossen wurde, als der Kugelhagel in seinen Ohren dröhnte und pfiff, als er Ava blutend am Boden liegen sah, da war der eiserne Klumpen im Bauch noch viel grösser. Er atmet durch. «Für dich Ava, kleine Schwester, werde ich mutig sein.»
Nach den Tagen in Bihać fahren wir ratlos, traurig und wütend weiter. Die Mitarbeit bei der NGO war eine Erfahrung, die uns viel gelehrt und uns nachhaltig geprägt hat. Noch Wochen und Monate später sind unsere Gedanken immer wieder bei den Menschen auf der Flucht. Hilflosigkeit und der Wunsch sinnvolle Hilfe leisten zu wollen, ist sehr präsent. Doch wie sieht Nachhaltigkeit in einer so komplexen, verfahrenen Situation aus? Wir haben keine Ahnung. Vielleicht werden wir im Verlaufe der Zeit und unserer Reise noch schlauer.