Von Pragg nach Paraguay ausgewandert
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Von Pragg nach Paraguay ausgewandert

Immer wieder wurde ich in den vergangenen Jahren von Musikern angehauen, ob ich wisse, wie es Hans Conzett denn gehe. Sein Neffe Nando Däscher vermittelte mir seine Handynummer und nach ein paar Nachrichten hin und her, fanden wir dann endlich einen gemeinsamen Termin, was sich noch als anspruchsvoll herausstellte, denn das südamerikanische Land Paraguay ist von der Zeitverschiebung her sechs Stunden hinterher. Gute zehn Jahre habe ich ihn nicht mehr gesehen, meinen ehemaligen Schlagzeuglehrer. Dementsprechend gross war meine Freude, als ich über Skype mit ihm telefonierte. Er sei inzwischen fast schon unter die Selbstversorger gegangen und sei schon nahe am Frutarier, sagte Conzett, der flankiert von seinen drei Hunden auf der Veranda seines Anwesens sass. Ein wenig Überredungskunst brauchte es schon, um ihn für ein Porträt zu gewinnen, denn seine Auswanderungsgeschichte ist nicht eine freiwillige, wie sie im TV bei Sendungen wie «Auf und davon» vorgezeigt wird, sondern eher eine bei der stets ein melancholischer Unterton mitschwingt.


Ein Unfall und zehn Jahre Kampf
Um genauer zu verstehen, wieso der langhaarige Pragger inzwischen praktisch in der Wildnis lebt, muss man einige Jahre zurückgehen. Nämlich ins Jahr 2008, als er in der Ganda einen schweren Autounfall hatte. «Ich war unterwegs von Chur nach Jenaz, um dort Schlagzeugunterricht zu geben und wurde auf dem Weg unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt. Was damals genau passiert ist, weiss ich eigentlich heute noch nicht. Zuerst hiess es, der Unfallverursacher, ein Diabetiker, habe einen ‘Zuckerschock’ gehabt. Weil sich das aber im Nachhinein nicht bestätigt hat, ist man umgeschwenkt auf eine ‘heftige Hustenattacke mit anschliessender Sehunschärfe’. Auf jeden Fall ist der Mann in den Gegenverkehr geraten, hat dort ein anderes Fahrzeug touchiert und dieses ist dann frontal in mich reingeknallt.» Verletzt habe er sich unter Anderem am Knie und an den Hüften. Nichts Schlimmes.« Gravierender waren aber sicher das Schleudertrauma und, was man fast ein Jahr nicht gemerkt hatte, eine Fraktur der Halswirbelsäule. Ich hatte brutale Schmerzen und man wusste nicht so genau, woher die kommen. Ich war naiv und somit  ein gefundenes Fressen für die Versicherungen. Die haben einfach soviel sie konnten abgestritten und mich als Simulant hingestellt. Sie hatten wirklich alle Ausreden auf Lager.» Nach gut zehn Jahren kämpfen, habe es dann aber doch noch zu einem einigermassen versönlichen Ende geführt. Doch auf die Zeit bis dahin, schaut Conzett inzwischen mit gemischten Gefühlen zurück. «Mit dem Unfall selber habe ich nie gehadert. Wieso es unbedingt mich treffen musste, habe ich mich nie gefragt. Solche Sachen können jedes Mal passieren, wenn man ins Auto steigt. Ich war und bin mir das bewusst. Welche Schwierigkeiten ich aber meistern musste, bis man meine Probleme, Schmerzen und bleibenden Einschränkungen endlich in Form einer kleinen Rente anerkannte, ist traurig und niederschmetternd zugleich.» Das habe ihn eindeutig am meisten belastet. «Man wollte mir aber schlicht nicht glauben, obwohl ich einen Unfall mit schlimmen Folgen hatte. Man versuchte immer wieder den Zusammenhang zwischen Fraktur der Halswirbelsäule und dem Unfall zu leugnen. Zum Beispiel wäre das bestimmt eine angeborene Fehlbildung, ich hätte auch ohne Unfall früher oder später Probleme bekommen. Solches und ähnliches musste ich mir immer wieder anhören. Ich habe durchaus Verständnis, dass man nicht jedem eine Rente hinterherwerfen kann. Was ich anprangere ist, dass man aus Prinzip versucht, den Patienten hinzuhalten bis der nicht mehr kann und schliesslich aufgibt.» Wenn es nur mehr um Gewinnmaximierung ginge, hätten solche Versicherungen für ihn ihre Daseinsberechtigung verloren. «Meine Ideale und mein Gerechtigeitsempfinden wurden damals jedenfalls ordentlich mit Füssen getreten. Denn man darf eines nicht vergessen: Ein solcher Unfall kann dein Leben in Sekunden radikal verändern. Man befindet sich dann sowieso in der grössten Krise seines Lebens und wird dann noch mit einem solchen, mir unmoralisch erscheinenden Prozedere konfrontiert. Das war zumindest meiner persönlichen Psychohygiene nicht förderlich.» Nach circa zehn Jahren Kampf, Leid, Angst, schrittweisem Verlust von sozialer Anerkennung und vielem mehr, griff dann das Kantonsgericht Graubünden korrigierend ein und danach wurde Conzett endlich eine kleine Teilrente zugesprochen. «Meiner Einschätzung nach bekommt man ab 40 Prozent Arbeitsunfähigkeit in der Schweiz eine vernünftige Rente. Wie tausende andere Schweizer hatte ich 39 Prozent Einschränkung. Das sind noch nicht mal gewürfelte, sondern gänzlich erfundene Zahlen von den Versicherungen. So läuft das. Ich hatte meine liebe Mühe damit, dass man es auch nur in Erwägung zieht, jemanden lieber noch ganz zu brechen, anstatt ihm die notwendige und versicherte Hilfe zu geben. Man muss schliesslich gut wirtschaften. Mit diesem ‘Zustupf’, die ich nach all den Jahren kämpfen nun bekomme, komme ich nicht sehr weit. Mit dem zahle ich hier gerade einmal meinen Hilfsarbeiter, der mir bei anstrengenden Arbeiten unter die Arme greift.»

Ein Paradies mit Schatten
Irgendwann sei klar gewesen, dass es auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance mehr für ihn geben würde und auch keine substanzielle Rente in Aussicht war. Somit sei der Gang zum Sozialamt vorprogrammiert gewesen. Da Conzett noch über Ersparnisse verfügte, sah er sich nach einer Alternative in einem Land um, wo er vom Angesparten leben könnte. Südamerika war nacheliegend weil er den Kontinent lange bereist hatte und anständig Spanisch spreche. Auch tue ihm die Wärme gut, denn wenn es kalt wird, sei alles noch zäher. Conzett wäre eigentlich sehr gerne in sein Traumland Kolumbien emigriert, was aus diversen Gründen unereichbar schien. «Dort wäre es sehr schwierig gewesen als Ausländer Ländereien zu kaufen. Das hätte man über eine kolumbianische Frau machen müssen. Und wenn du eines Tages dich mit ihr verkrachen würdest, gehört alles ihr, was mir einfach zu heiss gewesen ist. Weil ich nicht wusste, ob ich irgendwann eine Rente erhalte und ob ich wieder arbeiten können werde, bin ich davon ausgegangen, von nun an von meinem Ersparten leben zu müssen. Es war lange sehr unsicher, auf welchem Niveau ich überhaupt werde leben können. Bruchbude oder Villa, alles war möglich.» Kommt halt nur darauf an, wo man sich niederlässt.. Weil der Disput mit den Versicherungen sich hinzog, musste er irgendwann eine Entscheidung treffen. «Ich entschied mich für die finanziell sicherere Variante Paraguay.  Das war damals das einfachste Land zum Einwandern. Im Prinzip kann jeder, der 5000 Franken im Sack hat, hier ansässig werden.» Es gebe hier sehr viele Deutschsprachige, was nicht immer nur positiv sei. «Die meisten folgen radikalen Ideologien und sind beispielsweise während der Pandemie aus Deutschland abgehauen, weil sie sich nicht impfen lassen wollten und glaubten in Paraguay das Paradies und die gesuchte Freiheit vorzufinden. Doch viele von denen sind wieder zurück in der alten Heimat, da man hier in der Regel nur die alten Probleme gegen neue eintauscht.» Paraguay sei jetzt nie sein Traumland gewesen, sagt Conzett, der schon oft durch Südamerika gereist ist. Zu zweit, oft alleine und auch mal auf Tour mit seiner damaligen Band AndaRojo. «Ich dachte am Anfang, dass die Latinos sich überall ähnlich sind, die ländliche Bevölkerung hier ist aber ein brutal eigener Schlag. Das zu erklären würde Bücher füllen, also lassen wir das.» Er habe sich aber auf jeden Fall für Paraguay entschieden und dann bemerkt, dass es ein sehr spezielles lateinamerikanisches Land sei. «Die Leute sind sehr eigen, was mir immer noch ein wenig Mühe bereitet. Doch ich bin mir bewusst, dass ich der Ausländer bin und mich anpassen muss, was mir hin und wieder aber noch immer schwerfällt. Was mir am meisten fehlt, sind nicht Maggi, Aromat oder Käse, sondern eher Dinge wie Verlässlichkeit, Erziehung, Empathie, die gute Kinderstube eben. Wenn du in einer behüteten Umgebung im Prättigau aufgewachsen bist, kommst du in Paraguay schon brutal auf die Welt.» 

Gebunden im Nirgendwo
Nach einiger Recherche hätte er dann im Internet Leute gefunden, die  ihm bei seinen Auswanderungsplänen vor sieben Jahren Unterstützung angeboten hätten. Obwohl es unter den Auswanderungshelfern sehr viele schwarze Schafe gebe, die Neuankömmlinge abziehen wollen, hatte Hans Conzett Glück bei seiner Wahl. «Schlussendlich hatte ich eine Liste zusammen mit fast 50 Personen, die Anlaufstellen wären. Ich bin einfach hingesessen und habe die Leute mit der Google-Bildersuche angesehen und habe dann intuitiv Personen aussortiert. Am Schluss blieben drei Leute, die ich kontaktiert habe. Geworden ist es Rainer, Sohn eines deutschen Auswanderers und paraguayischer Mutter. Dieser war neben Spanisch und Deutsch auch noch der Indianersprache Guarani mächtig. Zudem war er ein junger Typ, geerdet. Nicht auf das schnelle Geld aus. Jemand, der sich wie ich stark für den Pflanzen-, Gemüse und Früchteanbau interessierte. Mit ihm habe ich mich dann auch getroffen. Er hat mir viel geholfen und viele Kontakte hergestellt. Rainer hat sich als Glücksgriff erwiesen, mit dem ich jetzt noch regelmässig Kontakt habe.» Seit sieben Jahren lebt Hans Conzett nun in der Nähe von Caacupe. Die Gegend ist stark ländlich geprägt, direkte Nachbarn gibt es keine. Hier auf meinem Grundstück kann ich machen was ich will. Es gibt fast keine Einschränkungen. Nur wenn ich in die Stadt gehe, muss ich mich etwas anpassen. In all den Jahren habe ich mit meinem Arbeiter bestimmt über 300 Bäume und nochmals soviele Sträucher gepflanzt. Da ich auf Bio Anbau bestehe, holen sich die Insekten und Vögel die meisten Früchte, aber für mich ist auch noch genug da. «Ich musste mir die ganze Infrastruktur selber aufbauen auf dem Land. Als ich ankam, war hier noch nichts. Inzwischen habe ich eine für paraguayische Verhältnisse anständige Strasse, einen eigenen Trinkwasserbrunnen und Stromanschluss angelegt.» Diese Abgeschiedenheit habe Vor- und Nachteile. «Auf der einen Seite ist es wunderschön, auf der anderen Seite bin ich dadurch selber für meine Sicherheit verantwortlich. Wenn ich jetzt hier ein Problem hätte, da kommt keine Polizei. Es heisst eher, dass man die Polizei nicht anrufen soll, wenn man ausgeraubt wird, sonst klauen sie dir noch den Rest. Am Anfang hielt ich es für einen Witz, inzwischen glaube ich dran.» Man müsse immer mit der Ungewissheit leben, ob man nicht eines Nachts plötzlich bewaffneten Besuch erhält und dass die nicht zimperlich sind. «Mit solchen Sachen muss man rechnen, weil ich als in den Augen der Einheimischen reicher Schweizer natürlich Begehrlichkeiten bei den Einheimischen wecke. Und in Paraguay sicherst du dich mit Hunden ab und nicht mit der Polizei.» Andererseits sei er  durch seine Hunde relativ stark an den Ort fernab der Zivilisation gebunden. Obwohl er in der Schweiz eher eine Katzen- als Hundeperson gewesen sei, habe er sich in das Thema Hundeerziehung eingearbeitet und ist nun stolzer Besitzer von den zwei Pitbulls Luna und Rambo sowie dem Dobermann Rocky. Ohne Hunde habe kein Krimineller Respekt vor einem, weshalb Hans seine gut ausgebildeten Tiere auch gerne zum Joggen mitnimmt. Auch wenn Luna beispielsweise sehr verschmust sei und auch gerne mal mit Kindern aus der Nachbarschaft spielen würde, eine solide Aussenwirkung haben seine Tiere schon. Die und leider auch Waffen brauche es, weil das Leben vor Ort etwas mit dem wilden Westen verglichen werden könne. «Man muss sich bewusst sein, dass man als reicher Mann angesehen wird, deshalb kann man nie ausschliessen, dass ein paar Besoffene auf die Idee kommen, dich zu überfallen. Da musst du dich selber wehren.» Die drei Hunde helfen ihm dabei, andererseits sei es praktisch unmöglich mal spontan länger wegzugehen. Und ohne Hunde könne man sein Haus auch nicht über Tage alleinlassen, weil es sich sonst herumspreche und alles abgeschraubt werde, was gehe. «Da werden Häuser regelrecht geplündert. Toilette, Lavabo, alle Elektrodrähte, Klimaanlage, Wasserrohre, alles wird geklaut. Deshalb mache ich auch regelmässig Schiessübungen. Einerseits um meine Treffsicherheit zu verbessern, andererseits um potentielle Kriminelle abzuschrecken. Jedenfalls hört man in der Umgebung, dass ich bewaffnet und geübt bin» Die Magie des Kontinents ist laut dem ehemaligen Globetrotter immer noch da. Ernüchtert sei er, dass eine tiefgehende Freundschaft, wie er es kannte hier fast nicht möglich sei. «Dies macht es für mich recht schwierig, da ich immer eine Person war, die zwar wenige, aber tolle Menschen um mich herum hatte. Ich habe das leider als fast selbstverständlich wahrgenommen, was es aber definitiv nicht ist.» Darum gibt er auch Menschen, die mit dem Gedanken einer Auswanderung spielen den Tipp, sich das definitiv zwei Mal durch den Kopf gehen zu lassen.


Besuch aus dem Prättigau
Trotz allen Widrigkeiten hat sich Conzett gut eingelebt in seinem neuen Zuhause. Auch mit den körperlichen Problemen gehe es ihm inzwischen recht gut. «Dies einfach, weil ich meinen Körper inzwischen sehr gut kenne und weiss, was ich ihm zutrauen kann. Das heisst ich gehe nicht mehr, wie in der Schweiz, täglich an meine Grenzen und drüber hinaus, sondern schaue, was geht und den Rest mache ich morgen oder übermorgen. Mit dem kann ich inzwischen recht gut umgehen.» Da er selber nicht weg könne, käme glücklicherweise seine Pragger Familie immer mal wieder zu ihm. «Mein Neffe Nando Däscher war vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal hier. Es hat ihm so gut gefallen, dass er inzwischen schon vier Mal zu Besuch war. Meine Eltern waren auch schon drei Mal hier und auch meine Schwestern besuchten mich schon. So verbringen sie quasi die Familienferien hier bei mir. Es war schön, wieder mal alle zu sehen.» Man merkt es seiner Stimme sofort an, plötzlich ist er da, der unterschwellige melancholische Ton zwischen den Zeilen. Denn auch wenn Hans in der Schweiz ein geselliger Typ war, Freundschaften über diese Distanz zu erhalten, stellt sich selbst für ihn als komplex heraus. «Um mich hier zu integrieren, muss ich ein Stück weit meine Vergangenheit loslassen. Alles was in der Schweiz gewesen ist, ist wahnsinnig weit weg. Natürlich denke ich ab und zu an meine guten Leute und die vielen schönen Erinnerungen zurück und melde mich dann wieder bei den Freunden. Doch ich merke, dass es je länger je mehr einfach zu Geburtstagsgratulationen und Neujahrswünschen wird. Wöchentlicher Kontakt habe ich inzwischen nur noch mit der Familie. Es ist eben wie ein anderes Leben, dass ich damals hatte.»

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