Wie «Infest» mein Leben veränderte
Bevor ich mich tiefer dem Thema Papa Roach widme, muss ich wohl noch ein bisschen weiter ausholen. Meine allererste CD war das Album «Dangerous» von Michael Jackson. Gleichzeitig mit diesem Werk gab es auch erste Missbrauchsgerüchte um den King of Pop, was meine Mutter dazu veranlasste, mir seine Musik möglichst rasch wieder abzugewöhnen. Sie schenkte mir damals ein grosses Paket voller Poster, Sticker und CDs von David Hasselhoff, welches sie von meinem Cousin Armando erhalten hatte. Ich fand Hoff’s Musik damals nicht wirklich prickelnd, weshalb ich weiter, oft heimlich Jacko hörte und erst durch den Erwerb der ersten Mr. Big-CD «Lean into it», so langsam auf den Geschmack von richtiger, handgemachter Musik kam.
Unvergessliche Tonträger
Oft erinnere ich mich auch heute noch ganz genau daran, wo ich prägende Alben gekauft habe. Das oben genannte Überalbum von Mr. Big kaufte ich beispielsweise zum Aktionspreis im Exlibris in der Innerschweiz, welchen es inzwischen nicht einmal mehr gibt. Vor allem bei Mr. Big – Alben weiss ich es meist noch ziemlich genau: «Hey Man» ergatterte ich an einem Stand vor dem Ottos in Chur, «Get over it» wiederum gab es im Tolgga Chur, «Bump Ahead» fand ich in der Grossbrocki Chur, «Actual Size» importierte ich teuer aus Japan und so weiter und so fort. Dann gibt es aber auch CDs, an deren Kauf ich mich sonst auch sehr gut erinnere: Die Doppel-CD «Garage Inc.» von Metallica beispielsweise kaufte ich im Migros Montreux zum krassen Preis von 39.90 Franken auf der Sek-Abschlussreise… «Infest» von Papa Roach kaufte mir meine Tante Brigitte im Exlibris im Pizolpark. Ich erinnere mich noch als wäre es gestern gewesen, denn ich schwankte beim Auslesen der CD zwischen dem Album von Zlatko und eben dieser CD. Als 12-Jähriger hatte ich aber Gott sei Dank die Weitsicht, dass der Big Brother-Bewohner wohl doch nicht so prägend für meinen Musikgeschmack sein würde und ich entschied mich für die CD mit der Kakerlake vorne drauf. Damals kosteten Alben auch noch mächtig viel Geld und oft konnte ich mir nur eine pro Einkauf leisten. Doch genau durch diesen Umstand haben diese Tonträger auch heute noch für mich einen besonderen Stellenwert.
Die wundervollen 00er-Jahre
Ich denke, es behaupten viele über ihre Jugend, aber meine war schlicht wundervoll und ziemlich prägend, wenn es um die Musik geht. Papa Roach haben mit «Infest» mir persönlich das New-Metal-Ding schmackhaft gemacht und zugleich auch die Türe in meinem Kopf geöffnet für viele weitere Bands aus dem harten Segment. Es war diese Pionierarbeit der vier Herren aus Vacaville, die mich später Bands wie Metallica, P.O.D., Slipknot und sogar Nirvana entdecken liess. Ihre Songs, allen voran natürlich der Evergreen «Last Resort» waren im Jahr 2000 überall. In meiner Lieblingsserie Smallville gab es beispielsweise einen Insektenfreak, der beim Hegen und Pflegen seiner Viecher immer Papa Roach hörte, was mich sofort faszinierte. Ebenfalls wurden ihre Lieder in den Skater-Spielen von Tony Hawk verwendet und natürlich spielte MTV ihre Videos in Heavy Rotation. Ja, durch diese Präsenz auf allen möglichen Kanälen kam wirklich niemand mehr um dieses Album rum. Es war eine geile Zeit und ich bin so dankbar für diese Scheibe und die folgenden prägenden Werke, welche kurz darauf das Licht der Welt erblickten. «Satellite», «Iowa», «Hybrid Theory», «All Killer, No Filler», «Chocolate Starfish and the hot dog flavored water» und viele weitere aus dieser Post-«Infest»-Ära gehören auch heute noch zu den wichtigsten Alben meiner Jugend und haben meinen Musikgeschmack nachhaltig geformt.
Hit um Hit
«Infest» mit dem langsam anschwellenden Ride-Intro packte mich von der ersten Sekunde an. Das Album hat alles was ein rundes, stimmiges Meisterwerk braucht: Eine Hitdichte mit den Singles «Broken Home», «Between Angels and Insects» und «Last Resort», dem epischen Titeltrack, den beste Reggae-Song aller Zeiten «Tightrope», die nötige Aggressivität in Songs wie «Through away», «Revenge» und «Blood Brothers», die Sozialkritik des Songs «Dead Cell» und die Melancholie des Songs «Binge» und «Never enough» und den Fakt, dass hier alles wie aus einem Guss klingt. Der Band ist es gelungen, all meine jugendlichen Zweifel zu porträtieren, mich auf zu stellen und stärker zu machen. Es gibt wenige Alben von denen ich das nach 20 Jahren behaupten kann, aber «Infest» war und ist für mich nach wie vor eine Offenbarung.
Der lange Weg ans erste Konzert
Mein erstes Papa Roach-Konzert liess trotz grosser Begeisterung und Fantum doch noch einige Jahre auf sich warten. Im Jahr 2010 war es dann endlich soweit. Die Band spielte am Openair Lumnezia, was ich mir auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Da ich zu dieser Zeit noch mit einer «teuren» Freundin liiert war und mein Lehrlingslohn nicht wirklich üppig war, entschied ich mich dafür, mich als Helfer einteilen zu lassen. Da P.-Roach am Freitag spielte, kam bei mir zuerst das Vergnügen und dann die Arbeit. Am Freitag in der ersten Reihe und bei strömenden Regen eine der besten Shows meines Lebens geniessen und dann am nächsten Tag an der Bar acht Stunden das Eintrittsticket abarbeiten. Der Plan war nicht mal so schlecht, nur hatte ich nicht mit einkalkuliert, dass ich jeden einzelnen Song lauthals mitschrie an ihrem Konzert. Am Samstag stellte sich deshalb eine gewisse Heiserkeit ein und ich verkaufte mit Händen und Füssen, aber definitiv ohne Stimme Bier an die Festivalbesucher. In den letzten zehn Jahren habe ich es leider auch nicht nochmals an ein Show der Band geschafft, da ich leider immer, wenn sie in der Schweiz gastieren, gerade in einem anderen Land in den Ferien bin… Aber irgendwann klappt es sicher wieder. Wenn ich das Gefühl ihrer Livewucht nochmals erleben will, schaue ich mir häufig die DVD «Live and Murderous in Chicago» an, welche mich drüber hinwegtröstet, dass das erste und leider auch letzte Konzert schon viel zu lange her ist.
Jugenderinnerungen en masse
Was mir am Livestream der Band besonders gefallen hat, ist der Fakt, dass sie den ehemaligen und für mich sehr prägenden Drummer Dave Buckner ebenfalls mitreden liessen. Er war derjenige, der am Anfang der Band viele Managementfunktionen übernommen hatte und sie so zur internationalen Grösse angetrieben hat. Es war wunderbar mitanzusehen, dass die Rockstars inzwischen wieder gut miteinander auskommen und das Kriegsbeil begraben haben. Sie erzählten Geschichten aus der Zeit vor dem grossen Durchbruch und ich musste oft schmunzeln, wie kreativ die Band ihren Sound unter die Leute brachten. In der Zeit vor Social Media war dies auch noch nicht wirklich einfach, erforderte Kreativität und ich fühlte mich bei den Anekdoten von Flyeraktionen stark an meine ersten Bands erinnert. Wir hatten doch alle irgendwann mal das Gefühl, wir könnten die Welt mit unserem Sound im Sturm erobern. Hier im Stream sassen Männer, die dies geschafft hatten und doch trotzdem wundervoll normal geblieben waren. Ich merkte schnell, dass nicht nur ich diesen Meilenstein als sehr wichtig erachtete. Es schalteten sich Chino Moreno von den Deftones und auch Brain «Head» Welch von Korn ein, welche spannende Erinnerungen mit der Band teilten. Zwischendurch wurden nicht nur Ausschnitte von Liveauftritten gezeigt, auch andere Persönlichkeiten wie Steve-O, Dave Basksh von Sum41 oder mein grosses Vorbild Sonny Sandoval von P.O.D. schickten ihre Glückwünsche und Geschichten in kurzen Videosequenzen, welche dann eingespielt wurden.
Ehre, wem Ehre gebührt
Ich schaute über zwei Stunden zu und es fühlte sich eher so an, als hätte ich erst eine Viertelstunde eingeschalten. Im Nachhinein habe ich gesehen, dass der Stream wohl noch recht lange weitergelaufen ist, da aber die Zeitverschiebung von mir eine Freinacht verlangt hätten, werde ich mir den Rest zu einem späteren Zeitpunkt zu Gemüte führen. Die wunderbaren Flashbacks, die meine Gedanken strömten, die zeitlose Musik, welche meinen Geschmack für immer geprägt haben und die witzigen Erzählungen machten den Stream zu einem einmaligen Event, der noch lange in meiner Erinnerung bleiben wird. Papa Roach hat hier keinen Schnellschuss veranstaltet, wie es sehr viele in der aktuellen Zeit tun. Sie haben mit viel Liebe zum Detail eine packende Retrospektive auf die Beine gestellt, die dem Meilenstein «Infest» würdig ist und von den Qualitätsansprüchen her auch gut als Dokumentation auf Netflix laufen könnte. Ich bin extrem dankbar über diesen Stream gestolpert zu sein und wie ich gelesen habe, seien noch weitere Festlichkeiten anlässlich dieses grossen Jubiläums geplant, was dieses Jahr sehr spannend gestalten könnte.