«Solo»
Bild/Illu/Video: zVg.

«Solo»

Die Bühne ist beinah komplett leer. Und dunkel. Der grosse Theatersaal ist leer. Morgen sollen dort 700 Menschen sitzen. Und sie schauen mich an, während ich meine erste Hauptrolle spiele, tanze und singe.

                                                           

Es ist Mitte des zweiten Aktes. Es ist die einzige Szene, wo ich allein auf der Bühne stehe. Ganz allein. Nur zwei Stühle befinden sich relativ weit vorne, nahe am Zuschauerraum. Ein Tanz ist nicht vorgesehen. Dafür ist das Lied, dass ich gleich singen soll zu langsam. Aber es ist wichtig. Für das Stück. Für mich. Ich habe hundertmal geprobt. Zuhause, im Theater, bei meinem Gesangslehrer. Den Text kann ich im Schlaf. Aber im Schlaf bin ich nicht nervös. Aufgeregt. Und morgen ist der Saal auch voll. Ausverkauft, seit Wochen.  

                                                 

Es ist die Generalprobe. Das heisst, alles ist so, wie es für morgen auch geplant ist. Der Zuschauerraum dunkel. Die Bühne dunkel. Ein einziger Scheinwerfer, der als dünner Strahl über die Bühne schleicht und mich einfängt. Eintaucht in grelles Licht. Selbst wenn ich wollte, ich könnte jetzt niemanden mehr im Publikum erkennen.  Meine Mutter nicht – und auch nicht die Klassenkameraden. Die sollten davon eigentlich gar nichts erfahren. Meine Mutter meinte, da würden vielleicht einige die Nase rümpfen und glauben, ich würde mich als etwas Besseres fühlen. Außerdem gab es, so sagte sie, einige Szenen, die Kinder anfangs der Pubertät vielleicht nicht verstehen würden. Zum Beispiel, wenn ich mir Frauenkleider anziehen müsste, was für die Rolle ganz normal sei. Aber dann musste ich ziemlich oft früher aus dem Unterricht weg. Wegen der Proben. Und da hab ich es ihnen gesagt. Die meisten waren begeistert.


«Ron, was ist?», hallt es durch den Raum. Regisseur und Choreograph waren beide von Unruhe gepackt. Aus dem Rückraum betrete ich langsam die Bühne. Das Licht hat mich. Gefühlvoll, souffliert in mir die leise Stimme meines Gesangslehrers.


I can´t really explain it - Ich kann´s wirklich nicht erklären

I haven´t got the words - Hab keine Worte dafür

It´s a feeling, that you can’t control - Ein Gefühl, nicht zu kontrollieren

I suppose it´s like forgetting, - Ich vermute, es wie vergessen              

losing who you are - vergessen, wer du bist


Von Elton John hatte ich vorher nichts gehört. Hab mich aber schnell seine Musik gewöhnt. Inzwischen höre ich ihn ausserhalb des Theaters. Aber davon weiss nur meine Mutter.              

                                                                                                                                     

Schritt für Schritt erobere ich mir die Bühne, die nur erhellt wird, wo ich gehe. Aus Mutter ist es fast herausgeplatzt, als sie mitbekam, dass das ein Musical über Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und das erstmalige Erleben der Freiheit ist. Erst war sie sprachlos – und dann sie erzählen. Wie ein Wasserfall. Hörte gar nicht mehr auf. Ich wollte das alles gar nicht wissen. Doch als es raus war, ließ es mich nicht mehr los. Wie der Lichtstrahl. Sie hatte ihre Bühne gefunden und mich zum Zuschauer degradier. Als sie dann noch erfuhr, dass ich die Rolle des Billy spielen würde, da ... Ich konnte weder gehen noch weghören. Es betraf mich. Nur mich.

«Dein Vater … hiess Wilhelm. Doch in den Kreisen, in denen er verkehrte, kannten ihn alle nur als Billy.»


Sie beschrieb mir sein Aussehen, seine Statur, seine Hände. Vor allem seine Hände. Und sein Wesen. Zärtlich, grosszügig – aber auch brutal und rücksichtslos. Wenn es sein musste. Und es musste oft sein.


And at the same time, - Und zur selben Zeit

something makes you whole, - etwas verwirrt dich ganz

Its like that there's a music,-  Es ist, als wenn Musik

playing in your ear, - in deinen Ohren spielt

And I'm listening, and I'm listening - Und ich höre, und ich lausche

and then I dissapear  -Und dann verschwinde ich


Den Text habe ich im Kopf. Aber die Geschichte, wabert auch hindurch. Schiebt sich in den Vordergrund. Der Text wird automatisch abgespult. Die Gefühle sind woanders. Habe die beiden Stühle erreicht. Möchte mich setzen, aber die Choreografie sagt etwas anderes. Umrunde die Stühle. Intensiviere den Gesang.


«Mutter, ich bin zwölf Jahre alt. Warum erzählst du mir das jetzt?»                  

«Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt dafür. Später beschwerst du dich, dass ich es nicht längst erzählt habe!»


Er war grob. Anfangs nicht zu ihr. Zu all den anderen Mädchen. Sie sollten, mussten ihre Grenzen kennen. All die anderen Mädchen? Wie viele Freundinnen hatte mein Vater denn?


Maries Eltern haben mal von einer Kommune erzählt, wo sie aus Protest so Schweinkram gemacht haben! Ich kenne meinen Vater nicht. Jetzt hebe ich die Stühle an ihren Lehnen hoch, breite die Arme aus und drehe mich mit ihnen. Es wird warm, in dem Strahl. Halte die Augen geschlossen, damit das Licht nicht so blendet. Ist nicht gut fürs Gleichgewicht. Stelle sie ab, als ich merke, dass es eng wird. Blicke Richtung Bühnenende. Ins Dunkel.                                                                                


«Irgendwann begann auch mich zu schlagen, wenn ich nicht tat, was er wollte. Wenn ich nicht gefügig war.»

«Wie alt warst du da?»

Meine Mutter zögerte mit der Antwort. Lange, als gehöre das nicht zur Geschichte. «Fast fünfzehn»


And then I feel a change  - Dann fühl ich die Veränderung

Like a fire deep inside - Wie ein Feuer tief in mir

Something bursting me wide open - Etwas, dass mich tief berührt

Impossible to hide  - unmöglich mich zu verstecken

In dem Augenblick habe ich nachgerechnet. Mutter war jetzt 28. Da wurde es mir fast klar. Langsam begriff ich, was sie mir erzählen wollte.                                                                        


Es wird Zeit sich wieder dem Publikum zuzuwenden. Ich gehe einen kleinen Halbkreis, während die Musik mir mit jedem Takt lauter vorkommt.                                              


«Ich konnte mit niemandem reden. Meine Eltern und alle die ihn kannten, hielten Wilhelm, hielten Billy, für das Beste, was mir passieren konnte. Auch, wenn er acht Jahre älter war. Er wurde immer wütender. Seine Schläge heftiger, die Tritte unvorsehbarer, die Männerkörper widerwärtiger.

                                                           

Die einzige Möglichkeit davonzukommen war - … schwanger zu werden.»                            


Ich hörte nicht mehr zu. Das wollte ich nicht wissen. Ich presste die Hände gegen die Ohren und trat die Tür mit dem Fuss zu.                                                                                                              

Noch fünf Schritte vor bis zum Bühnenrand. Ich soll erneut die Arme ausbreiten. Eine Mischung aus Strahlen und Melancholie ins Gesicht zaubern. Denn dieses Lied, dieses Solo, läutet die Wende im Leben des Protagonisten ein. Es macht ihm klar, in welche Richtung er von nun an weitergehen wird. Billy soll seiner Erkenntnis, seiner Freude Ausdruck verleihen.


Ich bin der Sohn eines Zuhälters. Vielleicht eines Vergewaltigers.                                                      Während ich die entscheidende Strophe singe, spüre ich, wie meinen Wangen feucht werden.


And suddenly I’m flying - Und plötzlich fliege ich

Flying like a bird - Fliege wie ein Vogel

Like electricity - wie elektrisiert

Electricity - Elektrisiert

Sparks inside of me -  sie sprüht Funken tief in mir

And i'm free, I'm free - Und ich bin frei, bin frei

                                                             

Mehr zum Autor Matthias Rische

Gedichte und Kurzgeschichten schreibe ich seit meiner Jugend.

Von kleinauf wollte ich Erzieher werden, um Kindern, die es schwer haben (mit sich selbst oder ihren Familien) ein Stück ins Leben zu begleiten. Daran arbeite ich seit 34 Jahren.


Mein erster Roman «Jakub» ist im Dezember 2010 – im Neubuchverlag erschienen.


Hierfür benutzte ich das Pseudonym MATT RIIS. Es geht um den Bewusstwerdungsprozess eines Jugendlichen, der seit frühester Kindheit sexuell missbraucht wird.


Mein zweiter Roman «ich und Ich» ist eine surreale Komödie und erschien ebenfalls unter dem Pseudonym MATT RIIS im März 2011– ebenfalls im Neubuchverlag..


Seit 2014 betreibe ich die Lesebühne FÜR_WORT – mit wechselnden Co-Moderatoren - in Berlin-Schöneberg.

Im September 2018 starteten zwei weitere Bühnen.

Gemeinsam mit Slavica Klimkowsky WortArt in Tempelhof und die LiterturTalkLesebühne Eselsohren in Friedenau.

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