The Freak, die Geschichte eines Films
Hallo Melanie. Kannst Du in Kürze für unsere jüngere
Leserschaft erklären, wer Charlie Chaplin eigentlich war?
Charlie Chaplin war ein britischer Schauspieler, Regisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Komiker. Er gilt als erster und einflussreichster Komiker der Filmgeschichte. Die von ihm erfundene Figur trägt ein Zweifingerschnurrbart und sowohl übergrosse Hosen als auch Schuhe. Der Bambusstock und seine ikonische Melone auf dem Kopf dürfen natürlich auch nicht fehlen. Sein amüsantes Auftreten brachte Millionen von Kindern und Erwachsenen zum Lachen.
Wie lange gibt es die «Chaplin's World Montreux» schon?
Das Museum eröffnete im Jahre 2016. Es befindet sich in der denkmalgeschützten
Villa Manoir de Ban in Montreux. In diesem Haus verbrachte Charlie Chaplin von
1953 bis zu seinem Tod in 1977 seine letzten Jahre. Heute ist sein damaliger
Wohnsitz das einzige Charlie Chaplin Museum der Welt. Es werden allerlei
Filmprojektionen, Zeichnungen, Dokumente und allgemein exklusives Material rund
um Chaplins Genie ausgestellt.
Ich weiss es zwar, aber für die Leserschaft: Was hat
Chaplin mit der Schweiz zu tun, insbesondere mit der Region um Montreux?
Nach seiner Zeit in Hollywood wurde Charlie Chaplin in der Schweiz sesshaft, da
ihm die Wiedereinreise in die USA verweigert wurde. Es wurde ihm vorgeworfen
eine gewisse kommunistische Ideologie zu vertreten. Nachdem er in der McCarthy
Ära jahrelang unter Beobachtung stand, hatte Chaplin in der Schweiz nun endlich
seine Freiheit gefunden. Gemäss seinem Sohn Eugene Chaplin, war der Künstler in
der Schweiz sehr glücklich. Fast täglich sei er hinunter zum See spazieren
gegangen.
Woher kommt diese anhaltende Begeisterung für Charlie
Chaplin nach so vielen Jahren?
Mit seinen Filmen hat Chaplin nicht nur die Film- sondern gleich die ganze die
Unterhaltungsbranche revolutioniert. Mit tiefgründigen Botschaften und einem
einzigartigen Humor war der Herr mit der Melone seiner Zeit voraus. Seine Werke
enthalten Geschichten mit gesellschaftlicher und politischer Tiefgründigkeit,
die zu seiner Zeit als äusserst «avant garde» galt und bis heute noch die
Menschen zum Nachdenken anregt.
Bei der neuen Ausstellung geht es um ein unvollendetes
Werk Chaplins. Kannst Du ein bisschen mehr dazu erklären, worum es geht? Eine
Vogelfrau?
Der Film «The Freak» war Chaplins letztes und nie realisiertes Filmprojekt.
Er starb, bevor seine Vorstellungen Realität werden konnten. Die Geschichte der
geflügelten Kreatur ist und bleibt eine Phantasie Chaplins aber genau diese
Tatsache macht es umso interessanter. Bei der Handlung geht es um eine
himmlische Kreatur, die für Aufruhr sorgt. Aber was ist sie? Ein Vogel? Ein
Engel? Ein Mutant? Abgesehen von den Fantasy-Elementen sollte «The Freak» die
Zuschauer in eine spielerische Satire auf die Macht des Geldes und des
Kommerzes, den Einfluss der Werbung und den Aufstieg des religiösen Fanatismus
sowie dessen mediale Ausbeutung aufmerksam machen.
Wann ist Chaplin eigentlich verstorben, wann begann die
Arbeit an diesem unvollendeten Film?
Während einer Mahlzeit in den 1960er Jahren erzählte Chaplin seiner Familie
die Geschichte eines seltsamen Wesens - einer Vogelfrau, die verletzt auf das
Dach des Hauses eines Professors in einer abgelegenen Gegend fällt. 1969 begann
Chaplin mit seinen Dreharbeiten für «The Freak». Der Film war nahezu
drehfertig. Drehbuch, konzeptuelle Notizen, Musik, Zeichnungen und sogar einige
gefilmte Proben waren bereits vorhanden. Doch bevor dieser Film es jemals auf
die Leinwand schaffen konnte, verstarb die Filmikone am 25. Dezember 1977.
Wer ist da beteiligt? Wie ich lese, auch ein Sohn
Chaplins?
Als Chaplin die Dreharbeiten für den Film begann, hatte er an seine Tochter
Victoria für die Hauptrolle gedacht. Sie sollte die geflügelte Kreatur spielen
und Chaplins Vision zur Realität machen. Victorias abrupte Heirat und Chaplins
bereits fortgeschrittenes Alter erwiesen sich jedoch als Hindernisse. Der Film
wurde dementsprechend nie gedreht. Nur im Dokumentarfilm über Charlie Chaplins
letzte Jahre - Les années Suisses - ist ein zwei Sekunden langer Clip von
Victoria in Engelsflügeln zu sehen.
Im Laufe seines Lebens wurden die Filme von und mit
Charlie Chaplin immer politischer, obwohl er anfänglich vor allem mit Slapstick
bekannt wurde. Kann man das so sagen?
Das kann man durchaus so sagen. Als Produzent griff Chaplin immer häufiger
politische Themen auf. In seinem Film «Der grosse Diktator» ahmte er Adolf
Hitler zur Zeit des Nationalsozialismus nach und machte sich über ihn lustig.
Auch für seine Komödien über die amerikanische Politik wurde er als Kriegsgegner
vom Geheimdienst FBI misstrauisch beobachtet. Bis in die Siebzigerjahre durfte
daher sein Stern auf dem berühmtem «Hollywood Walk of Fame» nicht gesetzt
werden.
Er prangerte zum Beispiel soziale Missstände, Krieg, Diktatoren und skrupellose Finanzeliten an. Unvergessen und gerade in letzter Zeit wieder in den sozialen Medien geteilt, seine «Rede an die Menschlichkeit» aus dem Film «The Great Dictator». Hat er diese Rede selbst geschrieben, oder einfach vorgetragen?
Die Rede hätte er laut einigen Quellen selbst geschrieben
und verursachte dadurch auch einen grossen Aufruhr unter den damaligen
Politikern und Kriegsbefürwortern. «Der grosse Diktator» erhielt fünf
Oscar-Nominierungen, aber keine Statue, wurde jedoch Chaplins größter
Kassenerfolg. Die Nazis montierten Aufnahmen von Chaplins Berlin Besuch in
ihrem schlimmsten Propagandafilm, «Der ewige Jude».
Was würde er wohl zur heutigen Situation sagen?
Es ist schwer einzuschätzen, was er von unserer heutigen Gesellschaft halten
würde, doch angesichts der konfliktreichen Situation, in der wir uns befinden,
wäre ein Gefühl von Enttäuschung durchaus denkbar. Die innewohnende Aktualität
seiner Botschaften beweist nur, dass wir als Kollektive von unseren Fehlern
selten lernen und gar zulassen, dass sich geschichtliche Ereignisse, wie
beispielsweise Krieg, wiederholen. Er würde sich höchst wahrscheinlich über das
Paradoxe unserer modernen Gesellschaft lustig machen. Einerseits haben wir uns
technologisch drastisch entwickelt und andererseits hat sich die Politik über
die Jahre kaum verändert.
Herzlichen Dank für das kompetente Interview.
Mehr Informationen finden Sie unter www.chaplinsworld.com/de