Liebe in den Lüften
2017 waren von julia kulewatz, die in erfurt und berlin lebt, phantasievolle kurzgeschichten unterm titel »Vom lustvollen Seufzen des Sudankäfers« und 2019 »Jenseits BlassBlau« erschienen, in denen man traumundmärchenhafte zwischenwelten findet, die auch abgründiges enthalten. novalis schrieb: »Das Denken ist nur ein Traum des Fühlens, ein erstorbenes Fühlen, ein blassgraues, schwaches Leben.«, friedrich nietzsche: »Gedanken sind die Schatten unsrer Empfindungen.« es war für mein verständnis ihrer gedichte nicht ungünstig, daß ich ihre prosa vor ihrer lyrik las, weil ich dadurch ihre motivwelt kannte.
der schriftsteller bernhard hennen erklärt im geleitwort zu »Jenseits BlassBlau«: »Die hier versammelten Kurzgeschichten sprechen mit der Weisheit siebenjähriger Kinder, lassen die Liebe durchsichtig werden und erwecken zartgrüne Jungfrauen aus den Leibern uralter Drachen, die über die Menschen wachen.« autoren der deutschen romantik, die praktisch alle kunstmärchen schrieben, e.t.a. hoffmann, joseph von eichendorff, clemens brentano, achim von arnim, adelbert von chamisso, ludwig tieck, wilhelm hauff oder wilhelm wackenroder, ließen aus hexen wieder feen werden. manche texte der kulewatz spielen in urzeiten. sie sagt, daß sie ihre geschichten meist unter einem baum sitzend schreibt, womöglich unterm weltenbaum, der das höchste und tiefste, himmel und unterwelt, mit der erdigen irdischen mitte verbindet.
hennen meint: »Für mich ist Kulewatz die Poetin der deutschen Phantastik.« bei worten, die man als marketingbegriffe auffassen und benutzen kann, bleibt vorsicht geboten. ich ordne ihre kurzprosa keiner genrehaften, oder gar modischen, literatur zu, sondern sehe mehr die prähistorischen und mythischen ursprünge sowie phänomenologischen dimensionen darin, die man auch in ihrer lyrik findet. freilich lassen sich erzählungen von edgar allan poe, franz kafka, julio cortázar oder jorge luis borges zur literarischen phantastik zählen, aber nicht im sinne eines schemas, einer schablone. phantasie ist mehr als phantastik, gesteigerte realität, wie der mythos erhöhte naturwahrnehmung und kreativität potenzierte gestaltung. die prosatexte sind erzählerisch bündig und abgerundet. die gedichte wirken stärker experimentell und manchmal kantig. mit ihrer lyrik, bei der mitunter stachel aus den texten ragen, benennt und poetisiert sie konflikte und seelische verletzungen direkter.
der lyrikband enthält 30 gedichte. der leser begegnet einer jungen sprachundsymbolkundigen dichterin mit eigener poetischer stimme, die sie zugleich immer wieder variiert. denn julia kulewatz ist wandelbar. bereits der name ihrer verlags, »kulja! publishing« und der »kulibri«, das wappentier des verlags, ein kolibri mit buch auf dem rücken, lateinisch libri = bücher, libertās = göttin der freiheit, zeigen ihr sprachspiel als teil der sinnlichkeit ihrer lyrik. der kolibri, deutsch auch hummelvogel, französisch fliegenvogel, erscheint plötzlich, geheimnisvoll und zauberhaft wie göttinnen und götter. der kleinste kolibri heißt bienenelfe.
buchstaben sind wie wimmelnde ameisen, die wir zu einem volk, oder wenigstens einer gruppe, aus sätzen zusammensetzen. und in den worten, lebendigen wesen, klingen sie dann gemeinsam und lassen die sprache durch anklänge und anspielungen metaphern und gedanken bilden, und darin bedeutungen und sinn. julia kulewatz ist ebenfalls ein sprachklangname. mit dem klang der worte nutzt sie, hellhörig nach innen und außen, also auch sich selbst gegenüber, die musikalität der sprache, wobei sie oft, assoziativ wahrnehmend, phonetischen ähnlichkeiten folgt. manchmal greift sie auf wortwurzeln zurück.
ich dachte beim lesen an sprachklang und wortspiel bei jean paul, barthold heinrich brockes und arno schmidt sowie françois rabelais und dessen übersetzer ins deutsche johann fischart. vor allem gibt es beziehungen zur lyrik der moderne. sicher kennt julia kulewatz die sprachexperimentellen texte von hugo ball, hans arp, kurt schwitters, ernst jandl, friederike mayröcker, daniil charms und welimir chlebnikow, dichter, die zu klangursprüngen der sprache zurückkehrten, eventuell auch des wortmalers julian tuwin und der translingualen lyrikerin uljana wolf.
ingeborg bachmann fragte, ob sie die »Libido eines Vokals« und »die Liebhaberwerte unserer Konsonanten« ermitteln solle. auf jeden fall, selbst wenn man weiß, daß poetisches spiel und liebesspiel verwandt, aber nicht dasselbe sind. bei arthur schopenhauer heißt es, die konsonanten seien das skelett und die vokale das fleisch der wörter. karl kraus erkannte: »Die Sprache tastet wie die Liebe im Dunkeln der Welt einem verlorenen Urbild nach. Man macht nicht, man ahnt ein Gedicht.«
das lyrische ich der julia kulewatz tanzt spielerisch, wie im wind, mit und zwischen sprachklang und wortsinn, so in »Orkanide«: »Des Nachts verseuchst du lüstern flüsternd Menschenträume, / Saust seufzend weh-mir-wehend empor, / Keuschheit keuchend an mein Ohr«, oder in »Hyperborea«, dem sagenhaften paradiesischen land im norden, aus dem zyklus »Anemoi«, was griechische windgötter bezeichnet, darunter geflügelte menschen: »Alterslos umtost / Umspielen Menschenmünder / Muscheltöne wehender / Mähnenmänner / Geschwind / Galoppierender / Gegenwind«.
spielerisches und experimentelles schreiben ist ausdruck poetischen, sprachlichen, seelischen und geistigen jungseins. johann gottfried herder wußte: »Je lebendiger eine Sprache, je näher sie ihrem Ursprunge und also noch in den Zeiten der Jugend und des Wachstums ist: desto veränderlicher.« und diese ursprüngliche sprache sei eine sammlung von elementen der poesie, nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden natur. »Je dunkler nun die Sinne sind, desto mehr fließen sie ineinander.« julia kulewatz nimmt synästhetisch wahr sowie empfindet und denkt in metamorphosen und synthesen.
herder betonte, daß die sprache tönt, indem sie laute in worte übergehen läßt, die »aus wilden Tönen freier Organe« entstanden. »So viel Gattungen von Fühlbarkeit in unsrer Natur schlummern, so viel auch Tonarten.« viele tiernamen sind nachahmungen von tierlauten, nicht allein in der kindersprache und bei vögeln. da der mensch tierlaute zu tiernamen machte, klingt es heute, als würden tiere, vermenschlicht, ihren namen rufen. manche vögel singen lautpoesie, besonders jene, die stimmen, gesänge, laute und geräusche nachahmen können, wie stare, grasmücken, gelbspötter, amseln, leierschwänze, laubenvögel, häher, raben, krähen, elstern, dohlen oder papageien. das größte nachahmungsvermögen hat wohl der afrikanische graupapagei.
mitunter ähneln metaphern der lyrikerin kolibris oder eisvögeln, die metallisch schillernd im licht leuchten. der eisvogel, dessen existenz heute bedroht ist, wurde deutsch fliegender diamant oder pfeifender edelstein genannt. oder sie wirken wie wetterleuchten und blitzzucken, je nachdem ob fern oder nahe, oder gleichen den farben funkelnder und glänzender steine. es soll diamantplaneten geben. wir leben in einer welt von funkelnden splittern, die auch als verstreute funken gedacht werden können.
man bemerkt schnell, daß sie einen natürlichen zugang zum mythischen, magischen, märchenhaften findet, was wohl auf urgründe, grunderfahrungen und frühe schöpfungen ihrer seele zurückgeht, die sie verinnerlicht hat. novalis spürte: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich durchdringen, ist er in jedem Punkt der Durchdringung.« sie verpflanzt in ihren texten momente, personen, figuren und gegenstände verschiedener zeiten und orte, setzt sie neu zusammen und schiebt sie ineinander. man spürt beim lesen ihre neugier aufs überraschende, ungewöhnliche, geheimnisvolle und seltsame, zu dem auch sehr kleine dinge und tiere gehören. es fällt überhaupt auf, daß sich kreative menschen oft zum subtilen und filigranen winzigen, mikroskopischen hingezogen fühlen.
die dichterin wurde im sturmmonat oktober geboren. eine bauernregel sagt: »Bringt Oktober Frost und Wind, wird der Januar gelind.« der januar ist sozusagen der türöffner des jahres, benannt nach janus, dem römischen gott der einundausgänge. der buchtitel »Orkaniden«, das wort stammt von ihr, bezieht sich auf windundsturmgedichte insgesamt, die meist auch liebesgedichte sind. »Orkanide«, ein zentrales gedicht, beschreibt den wind oder sturm vor allem als lüstern, enthemmt und ungestüm: »Umkreist jähzornig jauchzend / Sturmschlosses Zinnen, / Wütest, Windkind, An mir / Und meinen schwindelnden Sinnen, / Atme Angst.« gaston bachelard sprach von »Tierstimmen des Orkans«. bei ingeborg bachmann gibts einen windwolf. bei christian morgenstern knattern und rattern die winde.
emile m. cioran äußerte: »Wenn Du niemals bedauert hast, keine Flügel zu haben, um die Natur nicht mit den grausamen Schritten der Menschen zu schänden, hast Du diese Erde nie geliebt.« mircea eliade sah im magischen flug die durchbrechung der welt der täglichen erfahrung und erläuterte, dieser übergang, oder überflug, ins freie und transzendente sei nicht »durch die Geschwindigkeit des Fluges, die dramatische Intensität der Luftreise gekennzeichnet, sondern durch die Tatsache, daß die Schwere aufgehoben ist.«
elias canetti wies darauf hin, daß die winde zu den ältesten gestalten des mythos gehörten. früher bat man götter um guten wind. in mythen waren windundsturmgötter fast immer männlich.
ausnahmen, bleiben wir im europäischen und orientalischen kulturraum, sind die ägyptische göttin amaunet, die gottesmutter der urzeit, die man »Mutter, die Vater war.« nannte, in ptolemäischer zeit verkörperte sie die luft und den belebenden nordwind, die sumerischen, akkadischen, babylonischen und assyrischen windundsturmgöttinnen nimlil und lilitu, deren name windgeist bedeutet und die herrin der luft und der winde hieß, und die jüdische windgöttin lilith, bekannter als erste frau adams, die später zur dämonin verdammt wurde und modern rehabilitiert werden sollte, aura, die griechische göttin der morgenbrise, und die aurai, nymphen der sanften brise, dogoda, die polnische göttin des sturms und westwinds, der liebe und der sanftmut, sowie die finnischen windgöttinnen tuuletar und tuulikki, die wohl vom ural nach finnland geweht wurden.
annelie freese schreibt im vorwort: »Der Wind säuselt, wispert, haucht, weht, bebt, saust, tost und stürmt. Zugleich kann in ihm geflogen, getanzt und geschwebt werden.« mit dem wind läßt sich über vorhandenes nicht nur hinausgehen, sondern hinausfliegen. jean paul kannte kinder mit geflügelter phantasie. fliegen ist freiheit, die kein pathos braucht. denn pathos verfliegt sich oft. viele götter konnten fliegen, so hermes, der götterbote, schelm und gott der träume. hans arp schrieb: »sendet sofort die schnellsten boten zu den traumwolken«, »schwarze winde hängen wie ketten von den sternen.« und »die engel landen in körben aus luft.« jean paul nannte musik poesie der luft.
nach traditioneller vorstellung empfing das weibliche passiv, bis hin zur windbefruchtung. bei julia kulewatz sind sturmfiguren weiblich, sinnlich, mutig und aktiv. es dürfte kein zufall sein, daß die selbstbefreiung und emanzipation der frauen und des weiblichen und jene der sinne und der lust, oder zumindest deren beginn, nach 8000 jahren patriarchat zeitlich etwa zusammenfallen. das nachwort von bianca katharina mohr resümiert: »Ein Sturm verheißt Veränderungen, die zunächst bedrohlich wirken, jedoch ebenso reinigend und heilsam sein können.«
wirklich fliegend lieben sich libellen, oder beginnen zumindest im flug damit, bevor sie sich zur fortsetzung niedersetzen, siehe das gedicht »Une Libellule«, das den band beendet. so beginnt die paarung der blutroten heidelibelle fliegend und endet sitzend. bei der blaugrünen mosaikjungfer fängts am wasser an und endet oft in baumkronen. lateinisch libella, libellula = libelle ist abgeleitet von libella = (bleioderwasser)waage, das auf lībra = (wasser)waage, gleichgewicht, sternbild waage zurückgeht. libellen fliegen waagerecht. hier sind die elemente luft und wasser in der liebe verbunden.
neben dem wind, sturm, orkan erscheint das ebenfalls intensive wasser als symbol unbändiger freiheit und der sehnsucht danach. wasser belebt, berauscht, reißt mit und ist zudem ein element der wandlung und des eintauchens ins imiginäre, gegenweltliche, untergründige. in der tiefe der meere existieren die sonderbarsten wesen, und wohl auch die ältesten. morgenstern erklärte: »Wir leben doch alle auf dem Meeresgrund (dem Grund des Luftmeeres) – Vineta.« in der frühen erzählung »Dissoziation« von julia kulewatz heißts: »Im Wasser lösen sich Ängste, dort müssen sie sterben, ertrinken, dort, im kalten Nass, durch kühle kleine kindliche Hände, die berühren wollen, berühren müssen: zaghaft, gefühlvoll, endlos.« bewahrtes kindliches empfinden, ja urempfinden, findet man bei ihr öfter. vitalität und zartheit kommen zusammen. novalis empfand: »Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken.«
in »Tausendarmige Göttin«, das einem gebet gleicht, wird aus »Oh tausendarmige Göttin, / Sag, wo werden wir liegen?«, was das liegen im grab assoziiert, zum schluß »Oh tausendarmige Göttin, / Sag, wo werden wir lieben?« die tausendarmige göttin ist als universelle göttin vom typ der großen mutter nicht nur barmherzig, helfend und erlösend, sondern auch herrisch, schrecklich und grausam. alle strophen dieses gedichts enthalten, zwischen platanen und tigerlotus, todessymbolische bilder sowie solche seelischer und körperlicher gewalt und verletzung aus verschiedenen kulturen. das bild von jantien sturm, passender name, im buch vor diesem gedicht zeigt die fesselung einer jungen frau.
egon friedell bekannte: »nur die Dinge, an denen wir am tiefsten leiden − nur die gehören zu uns.« das nachwort von bianca katharina mohr vermerkt, analyse und einfühlung verbindend: »Es kristallisiert sich heraus, dass all der Schmerz, der aus den Zeilen spricht, nicht beendet werden kann, indem man ihn sprichwörtlich zur letzten Ruhe im Grab bettet. Stattdessen besteht die Aufgabe eines jeden Einzelnen darin, den Schmerz zu integrieren und dadurch zu transformieren. Das lyrische Ich könnte als jemand verstanden werden, der den Schmerz und das Wissen vieler Leben in sich trägt, oder aber als viele Personen, die gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven zu der Göttin sprechen.«
liebe nimmt jenen schmerz auf, den man als das eigenste und fremdeste zugleich empfindet, macht frei davon und wird, wenn die schmerzarbeit gelingt, stärker, paradox wie vieles wesentliche. allüberall ambivalenzen. wo an der einen kreuzung des lebensweges liebe entflammt, beginnt an der andern der tod, oder beides an der gleichen kreuzung. novalis formulierte: »Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt.« arp sah: »die luft ist voller wunden / und in den wunden nisten schatten« und: »die brust des lichtes stürzt ein / aber im sommer wachsen den toten wieder flügel.«
das gedicht »Männer mit Namen Hans« verweist auf ingeborg bachmanns erzählung »Undine geht«, die beginnt mit: »Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit dem Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann.« die bachmann rechnete hier mit männern ab. in ihrem gedicht »Bruderschaft« lesen wir: »Alles ist Wundenschlagen, / und keiner hat keinem verziehn. / Verletzt wie du und verletzend, / lebte ich auf dich hin. // Die reine, die Geistberührung, / um jede Berührung vermehrt, / wir erfahren sie alternd, / ins kälteste Schweigen gekehrt.« da war sie, knapp über 30, schon desillusioniert.
julia kulewatz ruft in ihrem hans-gedicht märchenwelten auf, von »Hänschenklein« über »Hans guck in die Luft« und »Hans, mein Igel« bis zu »Hans im Glück« und »Eisenhans«, dem wilden mann. der text enthält subtile anspielungen, die, zumal wenn sie komische momente enthalten, entspannen können. und er endet mit: »Fürchte dich, Hans! / Vor Wiederholung, / Vor Auflösung / Und vor Ohne-Namen-Sein, / Auf der Lichtung liebend, / Und in Wassern, / Undine kommt.« das lyrische ich verkleinert hans erst märchenhaft, ehe es ihm wild, frech, verführerisch und liebend begegnet, um ihn, vom märchenschicksal befreit, anders groß zu machen. »Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen.«, bemerkte theodor w. adorno.
zum schluß des gedichts wird das wasser, aphrodite kommt aus dem meer, und adonis verliebt sich in sie, als wasser seine lippen berührt, zum element der liebe, ähnlich wie bei novalis: »Wie wenige haben sich noch in die Geheimnisse des Flüssigen vertieft, und manchem ist diese Ahnung des höchsten Genusses und Lebens wohl nie in der trunkenen Seele aufgegangen.« »Die Berauschten fühlen nur zu gut diese überirdische Wonne des Flüssigen, und am Ende sind alle angenehme Empfindungen in uns mannigfache Zerfließungen, Regungen jener Urgewässer in uns.«
die gedichte der kulewatz beschreiben und reflektieren gefühlslagen vom begehrenden versinken und versinkenden begehren bis zu ironischer distanz und distanzierter ironie. der chorus in »Social Plastic« lautet: »Merke: Filament, Filament, / und der Algorithmus spricht. / Mensch ärgere dich nicht!« lateinisch filamentum bedeutet fadenwerk, filum faden, lebensfaden. klingt hier der lebensfaden der parzen an, also etwas schicksalhaftes? das spiel »Mensch ärgere dich nicht!« wird mit würfeln gespielt, die einst zu orakeln gehörten. übernehmen heute algorithmen diese funktion? das nachwort erklärt: »Der Chorus fasst zusammen, was im gesamten Gedicht an Kritik mitschwingt: Eine Gesellschaft, die zunehmend alles Natürliche zerstört und sprichwörtlich abschafft, um es durch künstlich erzeugte Produkte und berechnende Algorithen zu ersetzen.« die sprache dieses gedichts ist nüchterner, härter und begrifflicher als die anderer gedichte. damit bildet julia kulewatz, die von einer »Plastizierenden Gesellschaft« spricht, sprachlich einen zustand der realität ab. vielleicht werden spätere archäologen und historiker, wenn sie unsere überreste finden und kommentieren, von der »Plastikzeit« reden.
es gibt einen schönen zusammenklang der vier am buch beteiligten frauen. kaum jemand, außer dem dichter, oder der dichterin, selbst, kennt gedichte so gut, wie ein nachdichter oder übersetzer, der möglichst, indem er sich einfühlt und hineindenkt, jedes wort genau verstehen und jede metapher richtig deuten muß. bianca katharina mohr übertrug die gedichte frei ins englische und nennt ihre übersetzungen adaption. beim vergleich zweier oder mehrerer nachdichtungen eines gedichts, etwa shakespeares, durch verschiedene übersetzer fällt auf, daß häufig jene die besten sind, die weniger wörtlich übersetzen, sondern die inhalte mit eigenen bildern und gedanken übertragen und so dem original nahe kommen.
die bilder mit feder und tusche von jantien sturm, urgroßnichte von karl may, über den kein geringerer als arno schmidt geschrieben hat, entsprechen der vitalen und sensiblen natur der gedichte. zugleich sind sie ebenfalls dem märchenundtraumhaften nahe und wirken urweiblich. und das urweibliche ist urpoetisch. auf seite 20 sehen wir einen frauenreigen, einen kreis mit drei frauen, die sich, eng beieinander, wie schwebend bewegen. dabei scheinen sie mit ihren körpern gemeinsam eine höhle zu bilden, die sie birgt.
betrachter, die das bild sahen, dachten an kreise bildende synchron fliegende fallschirmspringerinnen oder synchronschwimmerinnen, die dann offenbar durch die luft schwimmen. mit der deutung fallschirmspringerinnen könnte ich mich anfreunden. doch wenns als wettbewerb stattfindet, das heißt leistungsorientiert mit trophäen und konfetti, wärs wieder algorithmisch, und zudem trivial. »Haben Sie einen Erfolg erlitten?«, fragte c.g. jung. »Ja, im Fallschirmschwimmen.«
der kreis symbolisiert energien des weiblichen, ganzheit, vollkommenheit, umschließung, schutz, geborgenheit. männliche formen sind eher kantik, eckig, spitz und zackig. bachelard erläuterte: »die Bilder der vollen Rundungverhelfen uns dazu, uns um uns selbst zu versammeln, uns selbst eine ursprüngliche Verfassung zu geben, unser Dasein innerlich zu bestätigen, von drinnen aus.« und: »alles, was rund ist, ruft bekanntlich nach Liebkosung.« else lasker-schüler schrieb im gedicht »Gebet (Meinem teuren Halbbruder, dem blauen Reiter)«, für franz marc nach dessen tod im krieg: »O Gott, schließ' um mich deinen Mantel fest. / Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest; / Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt, / Du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt / Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.« tiefenpsychologisch ist der kreis symbol des selbst. wir kennen freilich auch den teufelskreis.
auf dem letzten bild des buches sieht man eine person mit blauen füßen, die denen des blaufußtölpels gleichen. das männchen präsentiert seine blauen füße, die nicht blassblau sind, beim paarungsundpaartanz dem weibchen. im gedicht »Käferkind« heißt es: »Im Schutze deines feuchten Schoßes sitzt frohlockend Fliegen-fressender-Feuerfrosch, wird Wächter unbetretener Pforten.« bei hugo ball gibts einen »Gesang der Seepferdchen und Flugfische«. flugfrösche existieren ebenfalls. julia kulewatz hat eine vorliebe für käfer und andere insekten, die sicher in ihren künftigen gedichten und erzählungen noch öfter vorkommen werden, ebenso wie vögel. beim lesen dachte ich an den französischen insektenforscher jean-henri fabre, laut victor hugo der »Homer der Insekten«. zugleich findet man bei ihr pflanzen, vor allem blumen, was sie unter anderem mit friederike mayröcker verbindet. wurzeln und wurzelgeflechte werden gehirn der pflanzen genannt. der denkende mensch wäre somit eine umgekehrte pflanze. im gedicht »Nur ein Zigeunerlied« wissen die kornblumen vom tod und von der liebe.
24. tag des haselstrauchmonats 2022. auf der suche nach der landschaft hinterm wind.