«Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge» - Protokoll einer Bildbetrachtung
Was für ein Bild! Das junge Mädchen mit den runden Wangen ist völlig losgelöst von jedem Kontext, schwebt vor einem fast schwarzen Hintergrund, der doch unendlich viele Farben enthält (anfangs sogar wohl einmal grün war), ihr Gesicht, ihr blauer Turban, ihre braun-beige Jacke beleuchtet von einer diffusen Lichtquelle auf der linken Seite, die es gerade noch schafft, die silbern-schimmernde Kugel unterhalb ihres linken Ohres zum reflektierenden Leuchten zu verlocken.
Dass dies wohl keine Perle sein kann, eine Perle dieser Grösse wäre für den notorisch verschuldeten Vermeer mit seinen elf Kindern unerschwinglich, spielt für die Wirkung des Bildes keine Rolle. Die Kugel nimmt wunderbar die Reflexionen der Augen und der offensichtlich feuchten Lippen auf und bildet ein Dreigestirn, das bezaubert. Es scheint eine Magie zu besitzen, die im Turban und dem bunten, in den Nacken hängenden Tuch durch den orientalisch-exotischen Stil sogar noch verstärkt wird.
Das Bild befindet sich in einem Moment des Verharrens, es geschieht nichts, es gibt nur den Blick aus dem Bild heraus und meinen Blick in das Bild hinein und dann das Warten auf den nächsten Moment: bedeuten die geöffneten Lippen Überraschung, Erregung oder eine kommende Ansprache an mich? Alles ist offen, geöffnet, sichtbar, es gibt nichts Verstecktes, keinen verschleierten Blick, alles bietet sich dar. Und doch versteckt das scheinbar Offensichtliche so viel, ist doch so viel mehr zu sehen: das Blau des Turbans ist auch weiss und grau und schwarz, das Gelb des Tuches ist auch schwarz und grau und rot und beige, die Jacke braun, beige und überraschend auch ultramarin. Die Kugel an ihrem Ohr ist schwarz und weiss und grau, und eigentlich gar nicht existent, ist nur Schein, denn sie besteht nur aus Lichttupfen.
Aber der Blick auf das Bild verschwimmt, er ist gefiltert, vorgeprägt, eingestimmt: natürlich ist da auch noch Gabriel Metsus «Woman in a Red Dress» aus der gleichen Zeit um die Mitte des 17. Jahrhunderts oder sogar früher Mantegnas «Judith und Holofernes», die das, was «Griet», was vielleicht alle Frauen, die sich abwenden, verbergen könnten, dem Betrachter darbietet, nämlich den triefenden Kopf des Enthaupteten.
Aber es geht noch weiter. Wie es mir fast unmöglich ist, Dürrenmatts «Das Versprechen» heute nochmals zu lesen, ohne dass mir permanent Heinz Rühmann oder sogar Jack Nickolson vor Augen kommen, überlagert Scarlett Johansson immer wieder die Wahrnehmung: Intersextualität ad absurdum. Das Original befruchtet die künstlerische Adaptation (hier im Film mit Colin Fyrth als Vermeer) und diese wiederum verändert die Wahrnehmung des Originals, lässt es auf Distanz gehen, schrumpfen, bis es manchmal im Rezeptionsnebel verschwindet oder, völlig digitalisiert, als NFT-Artefakt in den cloudbasierten Orkus eingeht. Der Frauen-Kopf mag also losgelöst sein aus jeglichem Kontext, das Bild ist es schon lange nicht mehr.
Wenn mich Scarlett Johansson als Griet so anschauen würde, das wäre auch ok, - für eine Weile. Aber Vermeers Pinselstriche überdauern Äonen.
«Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge», Jan Vermeer, ca. 1665, Öl auf Leinwand, 45 × 40 cm, Mauritshuis