Grüsse vom Archipel der Phantasie
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Grüsse vom Archipel der Phantasie

Denn ich mag auch Shakespeare (Hamlet und Romeo und Julia gehören zu meinen Lieblingsdramen), Ezra Pound und T.S. Eliot (The Lovesong of J. Alfred Prufrock ist mein absolutes Lieblingsgedicht) und gleich daneben dann die Geschichte von den zwei Dieben Hadrian und Royce und ihren Mitstreitern durch viele und zum Teil skurrile Abenteuer hindurch? In einem Land mit Rittern, Königinnen, Drachen, mit Magie und Leidenschaft, cleveren Winkelzügen und blutigen Gemetzeln?


Es war eine Lektüre der permanenten Hinter- oder besser: Untergedanken, die mich auf jeder Seite immer wieder fragten: solltest Du nicht besser etwas lesen, was Dich weiterbringt, was Dich etwas über das Leben, die Welt, die Wahrheit lernen lässt? Also eher «erkenntnisorientierter» Literatur frönen und nicht diesem reinen Eskapismus? Wo bleiben denn der Intellekt und seine Bedürfnisse? Jedoch, ist dies nicht ein wenig wie im Turing-Test, in dem überprüft werden soll, ob eine Maschine «intelligent» ist oder sein kann? Würden denn Menschen immer diese Kriterien erfüllen? Verhalten sich Menschen immer «intelligent»? Also, mit anderen Worten, ist «hohe» Literatur nicht auch eskapistisch, fliehen wir nicht auch aus dem Leben, wenn wir Goethe, Lessing, Schiller oder Max Frisch lesen?


Wenn wir ins Theater gehen und uns ein Stück ansehen, meinetwegen Shakespeares «Macbeth», fühlen wir dann unseren Intellekt unterfordert, wenn wir einen Zweig sehen, der den Wald von Arden darstellen soll? Oder praktizieren wir was Samuel Coleridge «the willing suspension of disbelief» nannte, die Bereitschaft der Leser-/Zuschauer-/Zuhörer­*innen, dem Autor ein Stück weit auf seinem Weg in die Fantasie zu folgen und nicht permanent zu denken: «Das ist ja alles gar nicht wahr», - denn «wahr» mag es sehr wohl sein, aber vielleicht nicht «real».


Was Sullivan in seinen zuerst als ebooks in Eigenregie und, nach dem grossen Erfolg in digitaler Form auch analog von Orbit herausgegeben, neu mischt, hat ja schon eine lange Tradition, die wesentlichen Ingredienzen seines Werkes wurden importiert aus einem Teil der Welt, der in seiner Palmen-Exotik kaum zu überbieten ist. An ihrem Herkunftsort, einem Archipel der Phantasie, gibt es viele Inseln, die ihre eigenen Mikroklimate besitzen und eine jeweils eigene Fauna und Flora, die sie – manchmal nur wenig, aber trotzdem entscheidend – von anderen unterscheidet.


Die grösste Insel unter ihnen ist «Mittelerde» unter der Regierung von J. R. Tolkien, ein Musterbeispiel des heute so beliebten Begriffs «Diversity», auf der Hobbits, Trolle, Elfen und andere begeistert ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Austragen von bewaffneten Konflikten, nachgehen. Tolkiens Thema ist ebenso didaktisch wie unterhaltsam, der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen paradiesisch-englischer Bauerngesellschaft und den Auswirkungen der Industrialisierung, die über die friedliche Landbevölkerung hereinbricht. Ursprünglich als kleines Atoll entstanden, als Geschichte für Tolkiens Kinder vor dem Schlafengehen, hat es sich wie durch Vulkanaktivität aus dem Meer der Kreativität erhoben und von dort hat man einen wunderbaren Rundblick über den Archipel.


Der nächste Nachbar ist neueren Datums und eher eruptiv entstanden, George R. R. Martins Song of Ice and Fire aus dem Jahre 1996, eine flachere, aber dafür nicht viel kleinere Insel, von ihren Bewohnern auch «Westeros» genannt, mit ursprünglich 5 Teilen, die durch intensives Marketing von Netflix allerdings einen weiteren Zuwachs bekommen hat und im Moment scheinbar auf 7 Bezirke anwächst. Sie ähnelt in vielem der Mittelerde, ist aber insgesamt düsterer und vermittelt ein eher pessimistisches Bild menschlicher Machenschaften.


Weiter im Süden liegt Phillip Pullmans Insel «Dust», eine gar nicht trockene Insel mit einem hohen Lebensstandard trotz der grossen Unterschiede im gesellschaftlichen System genau wie in den geografischen und klimatischen Gegebenheiten. Die Themen von Pullman sind eher philosophisch-politischer Natur, das Verständnis von «Dust» reicht von einer Art Lebensenergie bis hin zur Verkörperung der Sünde, die von der herrschenden Staats-Kirche natürlich auf Heftigste verfolgt und auszumerzen versucht wird.


C.S. Lewis’ Narnia, sicherlich die kleinste der Inseln im Archipel und von den Bewohnern der anderen Inseln auch eher skeptisch betrachtet als gehöre sie nicht wirklich dazu, ist so schwierig zu erreichen als müsste man durch einen Schrank gehen, und erscheint allgemein als ein recht märchenhaftes Kinderland, die Bewohner leben denn auch in enger Gemeinschaft mit Feen, königlichen Löwen, und anderen, niedlichen Bewohnern des Waldes.


Sullivan hatte also eine reiche Auswahl an Zutaten, aus denen er sein Epos zusammenstellen konnte. Und seine Leistung in den drei Büchern ist vielfältig. Er bedient sich nicht (nur), mischt neu und lässt es dann so stehen, sondern die Entwicklung seiner Heldinnen und Helden hat immer etwas Eigenes, etwas Überraschendes, gleichzeitig erscheinen sie psychologisch glaubhaft und verlässlich. Die Imagination der Leser*innen wird gefordert und gedehnt, aber der Seidenfaden reisst nie: immer ein gutes Rezept für Spannung. Die Handlung entwickelt sich manchmal überraschend, aber immer logisch nachvollziehbar. Standardcharaktere wie die Magd, die zur Adligen erhoben wird, arrogante Prinzen und Prinzessinnen, die für ihre Überheblichkeit natürlich bestraft werden, mysteriöse Reiter in Nacht und Nebel sowie politisch ambitionierte Mönche und Äbte bieten ein wohlbekanntes, aber frisch arrangiertes Gesamtensemble, das durch die kluge Erzählstruktur mit häufigem Schauplatz- und Perspektivenwechsel zu einem dynamischen Gesamterlebnis kombiniert wird.


Was ist also jetzt die Leistung des Romans, die mir mein schlechtes Gewissen an der Lektüre eine Phantasieepos’ etwas mildern kann? Gibt es eine Erkenntnis, die mir nach der letzten Seite des dritten Buches geblieben ist? In der Tat, sogar zwei. Die erste ist die Lust am zeitweiligen Loslassen: den Anspruch an mich selbst abzulegen, dass ich ein intellektueller Mensch bin, der immer nur Kluges lesen muss, die Lust an der Regression, die Lust am märchenhaft Fabulierten oder, um Coleridge nochmals zu bemühen: «the willing suspension of a purely intellectual satisfaction».


Und dann: Im traditionellen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts sind Handlung und Geschehen logisch und machen Sinn, es gibt einen Erzähler, der von einer erhabenen Position aus die Welt überblicken kann, alles von Anfang bis Ende kennt und dann stringent erzählt: am Anfang war das Wort, und das Wort hatte einen Sinn. Das ist im Leben nicht so.


Und gerade jetzt, gerade heute, ist es wie eine erfrischende, belebende Dusche, einen, wenn auch nur literarischen, Sinn zu sehen. Und auch wenn er nicht anhält, ist er doch gut erzählt.


Michael J. Sullivan, Riyria, (3 Bände), Stuttgart: Klett-Cotta, 2018

Übersetzung: Cornelia Holfelder-von der Tann

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