«Zwanzig Häuser»
Bild/Illu/Video: Christian Imhof

«Zwanzig Häuser»

Wie hoch war ein Haus? Ein normales Haus mit Erdgeschoss, Obergeschoss und einem Dachspeicher. Sieben Meter? Acht? Peter wusste es nicht genau, aber der Blick die Klippen hinunter beunruhigte ihn. Vom Grund der Schlucht bis hoch zu diesem ungesicherten Pfad liessen sich wohl zwanzig Häuser übereinanderstapeln. Wenn er ausrutschte, würde er lange darüber nachdenken können, warum er unbedingt auf diesem vermaledeiten Pfad herumturnen musste.


Peter presste sich an die Felswand. Schwer schluckend wartete er. Wind und Regen zerrten an seiner Jacke. Er hatte keine echte Höhenangst, aber dieser Weg war eindeutig gefährlich. Es war Vorsicht, keine Furcht, wenn er sich jetzt an der Wand festklammerte. Peter fand es eher mutig, sich auf diesen Weg zu wagen. Es war kein Schwindelanfall oder eine Angstlähmung nötig, eine starke Böe würde reichen, um ihn in den Abgrund zu schicken.


Aber dies hier war der einzige Weg, ihnen zu entkommen. Peter schauderte kurz, als ein leichter Windstoss ihn seinen Schweiss noch deutlicher fühlen ließ. Lieber das hier als ihnen in die Hände zu fallen.

Jetzt wurde der Wind schwächer. Vorsichtig tastete er sich mit dem Fuss weiter. Ein Ausrutscher auf den nassen Steinen wäre fatal.


Gegen Feuchteglätte war jede noch so gute Schuhsohle machtlos.

Nach zwei Schritten wurde der Weg etwas breiter. Peter schnaufte tief durch, als er den rechten Fuss auf die breite Felsplatte setzte. Er drängte sich dicht an die Wand. Warum gab es hier keine Geländer? Zuhause in Deutschland wäre so ein Weg verboten. Das hier war ein wahres Paradies für Selbstmörder.


Trotzdem wurden seine Schritte etwas forscher. Bis er auf eine lockere Platte trat. Mehr vor Überraschung fuhr Peter beide Arme aus und ruderte wild, um die Balance zu halten. Trotz des kalten Windes wurde der Schweissfilm auf seiner Stirn dicker und vermischte sich mit dem Regen. Peter bekam wieder sicheren Stand und blies die Backen auf. Vorsichtig lugte er über den Abgrund. Zwanzig Häuser Tiefe. Die Verlagerung seines Gewichts brachte die Platte sanft ins Rutschen - Richtung Abgrund.


Peter schreckte zurück und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Felswand.


Verdammter Pfad. Er versteifte sich und hielt die Luft an. Ein paar Brocken Fels und Erde rieselten in die Schlucht. Langsam sickerte der Schmerz in sein Bewusstsein. Das würde eine ganz schöne Beule geben. Behutsam suchte er mit beiden Händen Halt an der Wand. Zwei Knubbel konnte er mit den Fingern umgreifen. Peter wusste nicht, was zuerst kam. Das leicht benommene Gefühl oder der bleierne Klumpen im Magen, der unvermittelt etwas Magensäure nach oben drückte. Er atmete mehrmals tief ein und aus. Dann schluckte er die Säure hinunter und zwang sich zur Ruhe.

Das mulmige Gefühl blieb. Er schaute zurück. Umkehren war keine Option. Dort würde er ihnen in die Hände laufen.


Es half nichts. Er konnte hier nicht stehenbleiben. Er musste weiter. Kritisch musterte er den vor ihm liegenden Weg. Fünf Meter noch, dann wand er sich nach links um eine Felsnase herum. Peter konnte den weiteren Verlauf nicht einsehen. Schliesslich liess er die Knubbel los, setzte behutsam einen Fuss vor und zog den anderen langsam nach. Mit der linken Hand hielt er Kontakt zur Felswand und vermied es geflissentlich, hinunter in die Tiefe zu schauen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte er den Felsvorsprung. Peter wand sich um die Ecke und erstarrte.


Der Weg war noch schmaler geworden. Und das Schlimmste war, er hing über. Da war nur noch Abgrund. Zwanzig Häuser tief. Nichts mehr, an dem das Auge sich festhalten konnte. Peter versuchte, einen Anflug von Panik zu unterdrücken.


War es das wert? Hätte er nicht doch mit ihnen reden können? Er schüttelte innerlich den Kopf. Äusserlich scheute er sich, die kleinste Bewegung zu viel zu machen. Er presste sich mit dem Rücken an die Felswand und schob sich seitwärts weiter.


Über ihm ertönte ein Schrei. Peter schrak zusammen, verlor aber nicht den Kontakt zur Wand. Ein zweiter Schrei folgte. Peter schaute hoch. Eine Klammer umfasste mit eisernem Griff sein Herz. Ein riesiger Greifvogel flog auf ihn zu. Ein Adler oder ein Geier, jedenfalls ein riesiger Vogel. Panik brach bei Peter durch und lähmte ihn. Mit weitaufgerissenen Augen registrierte er, wie der Vogel sich näherte. Mit einem weiteren Schrei griff der Raubvogel an. Die Krallen zielten auf Peters Schulter und der Schnabel auf sein Ohr. Peter konnte nicht mehr klar denken. Unwillkürlich löste er die Arme von der Wand und versuchte, den Vogel abzuwehren.

Dabei rutschte er aus.


Peter schlitterte über die Felskante. Er fiel. Zwanzig Häuser tief. Über ihm schwebte der Raubvogel und schrie triumphierend. Der Schrei begleitete ihn drei Häuser weit. Leicht verwundert registrierte Peter danach, wie er ruhiger wurde. Nach acht Häusern wusste er, dass sie ihn nun nie mehr erwischen würden. Weder lebendig noch tot. Hier würden sie ihn nie finden. Irgendwie beruhigte ihn das. Elf Häuser später schloss er die Augen. Dann schlug er auf.


Mehr zum Autor:
Tankred Kiesmann, 1969 am Teutoburger Wald geboren, ist promovierter Chemiker und hat über 20 Jahre in der Elektronik-Industrie als Projekt- und Abteilungsleiter gearbeitet. Schwerpunkt war die Entwicklung opto-elektronischer Bauteile für die Automobilindustrie. 2020 hat er beschlossen, sich auf die Liebe zur Schreiberei zu konzentrieren. Seitdem arbeitet er als freiberuflicher Coach, Ghostwriter und Schriftsteller. Inhaltlicher Schwerpunkt ist Fantasy. Er lebt mit Ehefrau und Katze im Bayerischen Wald.


Bisherige Veröffentlichungen

«Das steinerne Gewissen», deadsoft-verlag (2000)

«Die Wildschwein-Verschwörung», in Christoph-Maria Liegener (Hrsg.): 6. Bubenreuther Literaturwettbewerb, Tredition (2020)

«Das steinerne Gewissen im Zeitenwandel», Angelnova-Verlag (to be published, 2021) Diverse Kurzgeschichten, hier verfügbar.

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