«Traumtänzerin»
Bild/Illu/Video: Annette Sutter

«Traumtänzerin»

Traumtänzerin, hast du gesagt. Und gelacht.

Da ist es zerbrochen. Das Herz.

So was hört man nicht. So was fühlt man nur. Ich stand da. Stumm.

Glotz nicht wie eine blöde Kuh, hast du gesagt. Und dann geschnaubt. Dieses Wie-kann-man-nur-so-naiv-sein-Schnauben.

Ich blutete. Innen.

So was sieht man nicht. Aber man fühlt es. Ich ging. Mit wundem Herzen und auf wackligen Beinen.

Lern endlich zu leben, hast du gerufen. Und mich nicht aufgehalten. Wahrscheinlich weil du sicher warst, dass ich schon wieder zurückkommen werde. Wie immer. Weil du weisst, wie das Leben geht.

Und ich nicht.


Ich tauchte in die Nacht. Die Dunkelheit umarmte mich wie eine Freundin. Über mir funkelten Sterne. Vor mir huschte ein Fuchs über die Strasse.

Er sah mich und blieb stehen.

Du blutest, sagte er.

Weil dein Herz gebrochen ist, flüsterte das Einhorn. Ganz sanft.

Es war aus dem Nichts gekommen und löste sich im Nichts auf. Nur seine Worte schimmerten noch eine Weile unter den Sternen.

Es gibt keine Einhörner, hörte ich deine Stimme, obwohl du gar nicht da warst.

Warum, fragte ich. Weil du weisst, wie das Leben geht?

Ja.

Und was, wenn das Leben auch anders geht?

Es geht nicht anders.

Warum?

Weil es nicht geht.


Ich weiss nicht viel. Vielleicht, weil man mit fünfzehn noch gar nicht wissen kann, wie das Leben geht. Vielleicht, weil man mit fünfzehnzehn auch noch nicht wissen muss, wie das Leben geht. Vielleicht muss man das gar nie wissen, auch mit neunzig nicht, weil es für das Leben keine Gebrauchsanweisung gibt. Deine Antwort klang wie eine Antwort, aber sie war keine. Sie war die eiserne Kette, die Träume am Boden gefangen hält.


In jenem Augenblick, in dem mir das klar wurde, hörte mein Herz auf zu bluten. Und ich wusste, dass es heilen würde.


Der Wagen deines Vaters stand immer noch dort, wo du ihn geparkt hattest. Der Schlüssel steckte. Es gibt Dinge, die ich weiss. Auch wenn ich erst fünfzehn bin. Ich weiss zum Beispiel, wie man einen Wagen fährt.


Ich stieg ein, startete den Motor und fuhr los. Ohne dich. Und ohne einen einzigen Gedanken an dich.

Die Scheinwerfer leuchteten in die Dunkelheit. Am Rückspiegel baumelte das billige Herz, das du an der Kirmis für mich geschossen hattest.


Viel Glück, raunte der Fuchs.

Vergiss das Träumen nicht, sagte das Einhorn.

Ich fuhr vorsichtig. Weil in dieser Nacht nicht die Zeit zum Sterben war. Es war die Nacht, in der ich meine Flügel ausbreitete und das Fliegen lernte.


Zur Entstehung der Geschichte:

Für einmal war am Anfang die Illustration. Ich habe mich davon inspirieren lassen und die Geschichte der Traumtänzerin geschrieben. Dabei habe ich auf ganz viele Details aus Annette Sutters Illustration zurückgreifen können. Das war für mich eine neue Erfahrung: keine Geschichte erfinden, sondern mich leiten lassen vom Bild auf dem Papier und den Bildern, die daraus in meinem Kopf gewachsen sind. Ich habe das sehr genossen.

























Mehr zur Autorin:

Alice Gabathuler schreibt Geschichten für Kinder und Jugendliche. Meistens werden daraus Bücher, manchmal auch Hörgeschichten fürs Radio. Ab und zu gewinnt sie dafür einen Preis, zum Beispiel für #no_way_out den Hansjörg-Martin-Preis für den besten deutschsprachigen Jugendkrimi 2014. Seit ein paar Jahren ist sie zudem Mitverlegerin im kleinen, aber sehr feinen da bux Verlag.

Weitere Informationen findet ihr auf ihrer Webseite.

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