«Intermezzo nocturno»
Bild/Illu/Video: Sandra Peters

«Intermezzo nocturno»

Er ist allein, natürlich ist er allein. Vom Kirchturm schlägt es drei, das Echo hallt über den Friedhof. Gion schwankt durch die Reihen, hin zu den frischen Gräbern. Die Friedhofslaternen sind längst ausgeschaltet, aber der Mond leuchtet vanillegelb. Es riecht nach Blumen, nach modriger Erde, nach Verrottung, Tod und Ende. Da. Das muss es sein. Das hinterste Grab.


Ein Holzkreuz. Weisse, schnörkellose Buchstaben: Cristina Camichel. Hier liegst du also. Er schluckt. Tschuldigung, ich konnte nicht früher kommen. Schon gar nicht an die Beerdigung. I hans versiechet. Z’bsoffa gsy. Tschuldigung.


Er greift in sein Jacket, zieht den kleinen Flachmann mit dem Quittenschnaps heraus. Nur a kliises Schlüggli, belügt er sich selber und trinkt hastig fünf Züge. Der Selbstgebrannte der Nana betäubt augenblicklich seine Nerven. Do liggsch du also, murmelt er wieder und wieder. Und was soll dieses lächerliche Kreuz? Das wird hoffentlich ersetzt. Durch ein Cello aus Arvenholz oder Marmor. Niemand spielte Cello so wie du, flüstert er, niemand. Du hast es gestreichelt wie einen Geliebten.


Er setzt den Flachmann ein weiteres Mal an. Cristina, warum nur, warum du? Mit jedem Schluck sieht er sie deutlicher vor sich. Ihren entrückten Blick, wenn sie über die Saiten strich oder über seine Brust. Er erinnert sich an ihre beschwingte Stimme, als sie ihm am Telefon ihre Idee erzählte: Ein Cellokonzert auf dem Silsersee, auf dem Holzboot ihres Bruders, nur für sie allein. Nachts! Ein Intermezzo nocturno! Er hört sein eigenes Lachen wieder, seine Worte von damals: Cristina, auf solche Ideen kommst nur du.


Sie ging mit ihrem Cello aufs Boot, lange nach dem Einnachten. Sie war keine, die ihre Ideen nur im Kopf wachsen liess, sie pflanzte sie mitten ins Leben. Wer hätte es ahnen können? Dieses Gewitter mit dieser Wucht? Niemand hat es vorausgesagt, keine einzige Wetter-App. Oh Cristina, hätte ich dich nur abgehalten. Dann wäre dein Boot nicht gekippt, du wärst nicht ertrunken. Weshalb kam das huara Rettungsboot so spät? Seine letzten Worte klingen heiser und rotzig. Egal, hier hört ihn niemand.


Oder doch? Direkt hinter ihm raschelt es. Gion lauscht. Schimpft halblaut mit sich selber: Dieser Quittenschnaps macht dich komplett närrisch! Jetzt hörst du schon Gespenster! Huara Siach! Da raschelt es wieder. Lauter, näher. Jemand schnauft, schnaubt, schluckt. Gion fährt herum – und schaut direkt in zwei aufgerissene braune Augen. Erleichtert lacht er auf.


Das Schaf mustert ihn und frisst dann weiter; Nelken vom hinteren Grab. Es kaut vernehmlich. Ein Mutterschaf vom Clalüna vermutlich, denkt Gion durch den Quittenschnapsschleier in seinem Hirn. Als Bub hat er öfter Clalünas Schafe gehütet, sich ein Sackgeld damit verdient.


Kumm, s’isch Zyt zum Schloofa. Das Mutterschaf hält beim Kauen inne, legt den Kopf leicht schräg, blinzelt zweimal und scheint grundsätzlich einverstanden zu sein. Gion fasst es sanft am Halsband, das weiche Leder schmiegt sich in seine Handinnenfläche, er führt das Tier zwischen den Grabreihen zum Ausgang, das Glöckchen bimmelt leise. Auf dem Weg bleibt ein halber Blütenkopf liegen, eine weisse Nelke.


Diese Kurzgeschichte ist im Schreibseminar «Strategien der Aufmerksamkeit» mit Angelika Overath und Manfred Koch im Engadin entstanden. Aufgabe: Folgende fünf Wörter in einen Text zu integrieren:

Cello

Rettungsboot

Friedhof

Mutterschaf

Quittenschnaps





















Mehr zur Autorin:  

Franziska Hidber ist in Sargans aufgewachsen und lebt heute mit ihrer Familie auf der «falschen Seite der Churfirsten». Seit einem Vierteljahrhundert schreibt und textet sie sich beruflich durch fast alle Disziplinen, im Herbst 2019 hat sie zusammen mit Christian Ruch ihren ersten Roman veröffentlicht: «VENNER», ein Krimi zwischen Nordkap und Sarganserland.

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