Zeitenwechsel - Erinnerungen
Diesmal sollte es mit dem Flieger von Zürich nach Dresden gehen und von dort mit dem Mietwagen ins ungefähr eine Stunde entfernte Chemnitz. Eigentlich wollte ich meine Mutter überraschen mit meinem Besuch, da sie am nächsten Tag ihrem Geburtstag feierte.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, entsinne ich mich lediglich einiger Flyer und Broschüren am Flughafen, welche von einem besonderen Virus aus China sprachen. Es waren bereits die Flugverbindungen dorthin eingestellt worden und man munkelte, dass Italien auch schon kurz vor der Schliessung stand.
Alles war wie immer: Touristen und Geschäftsleute aus aller Welt, nichts unterschied sich von dem üblichen Betrieb am Flughafen.
So verbrachte ich ein paar schöne erholsame Tage in meiner alten Heimat. Gegen Ende meiner Ferien traf ich mich dann noch mit einem alten Bekannten aus der Schweiz, dem ich einige der schönsten Sehenswürdigkeiten von Dresden zeigte. Wir besuchten das weltbekannte «Elbflorenz» mit seinem Zwinger, dem grünen Gewölbe, der Semperoper und waren zu Gast bei Aschenbrödel auf Schloss Moritzburg. Den Abschluss bildete ein feines Essen im berühmten Kastenmeier's Restaurant in Dresden.
Dies sollte für lange das letzte Mal sein, das man auf so unkomplizierte Art das Leben geniessen konnte.
Zurück in der Schweiz begann der Alltag schnell wieder. Ich arbeitete damals am Ägerisee in einem Hotel mit eigener Berufsfischerei und wir waren voller Vorfreude auf einen schönen Frühling. Die warme Jahreszeit ist dort immer die Hauptsaison und das bedeutete, dass man sich langsam auf steigende Gästezahlen, lange Arbeitstage und schöne Abende am See einstellte.
Zu dem Zeitpunkt tauchte dieses neuartige Virus immer häufiger in den Schlagzeilen auf und man spürte, dass etwas anders war als sonst. Es wurden immer mehr Fälle bekannt, inzwischen gab es schon die ersten Erkrankungen in der Schweiz Und so nahm das Unheil in diesen Wochen langsam seinen Lauf...
Eines Tages bediente ich im Restaurant eine Dame, die des öfteren am frühen Nachmittag eine Kleinigkeit bei uns ass und dabei nebenbei oft telefonierte.
Als sie bezahlen wollte, kamen wir kurz ins Plaudern. Ob wir denn schon wüssten, dass wir morgen unser Restaurant schliessen müssten, fragte sie mich. Ich war wie vor den Kopf geschlagen! Man spekulierte zwar, was passieren könnte, wenn die Infektionszahlen steigen würden. Aber so genau hatte das noch niemand zur Sprache gebracht, mit dieser Sicherheit. Auf meine Nachfrage, woher sie denn das so genau wissen würde antwortete sie mir, dass sie vom Kanton sei.
Als die Dame gegangen war teilte ich diese Neuigkeit sofort meinem Chef mit, noch bevor die offizielle Verlautbarung in den Medien kam.
Zurück im Restaurant bemerkte ich plötzlich draussen auf der unmittelbar vor dem Haus gelegenen Hauptstrasse Lärm und Geschrei. Ich eilte nach draussen, wo sich bereits ein Auflauf von Menschen gebildet hatte. Ein paar unserer Terrassengäste waren aufgesprungen und an den Strassenrand gelaufen. Dort sah man nur ein paar Autos stehen und dann erspähte ich zwei Velofahrer, die am Boden lagen. Zwei unserer Angestellten hatten bereits die Situation richtig eingeschätzt und leisteten erste Hilfe. Die Polizei und Rettung wurden benachrichtigt, unser Berufsfischer leitete den Verkehr weiträumig an der Unfallstelle vorbei und wir versuchten die Situation zu entschärfen.
Dann sah ich die Dame, die bei uns gegessen hatte, vollkommen schockiert neben der Strasse stehen. Sie war anscheinend in den Unfall verwickelt gewesen, bei dem zwei Velofahrer von einem Auto angefahren worden waren. Die Verletzungen der beiden stellten sich letztendlich als weniger schlimm heraus als zunächst befürchtet. Trotzdem wurden sie vorsorglich mit dem Rettungswagen ins Spital abtransportiert.
Denke ich an diesen Tag zurück, verbinde ich damit ein ganz surreales Gefühl.
Dieser Unfall und der Lockdown mit der Schliessung des Restaurants und der Ungewissheit der weiteren Zukunft in den nächsten Monaten hatten für mich etwas Unwirkliches und Beunruhigendes. Auch wenn eins mit dem anderen nichts zu tun hatte, so hing es an diesem Tag wie etwas Bedrohliches über uns.
Am nächsten Tag versammelten sich alle Mitarbeiter zu einer Lagebesprechung, um die neue Situation zu analysieren und planen. Zum ersten Mal sah ich meine Chefs mit Tränen in den Augen vor uns sitzen, weil das Schlimmste eingetroffen war, das man sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte.Was würde das bedeuten für uns?
Eigentlich hätte es die beste Saison seit Jahren werden sollen, die Zahlen sprachen für sich.
Das Restaurant war jetzt geschlossen, das konnten wir nicht ändern. Wir konnten frischen Fisch verkaufen und Take-Away anbieten, um wenigstens ein wenig Umsatz zu generieren. Und so lange es ging, sollten wir erst mal beschäftigt werden im Hotel. Es gab zu putzen, sortieren, beschriften - Arbeiten, die sonst immer wieder verschoben wurden, weil keine Zeit dafür war. Damit begannen wir und es wurde uns freigestellt, ob wir das Arbeitsangebot annahmen oder sofort in Kurzarbeit gingen.
Wer unsicher war und auf Grund der Umstände lieber daheim bleiben wollte, bekam Kurzarbeitergeld gezahlt. Und wer doch lieber etwas tun wollte, weil ihm vielleicht daheim die Decke auf den Kopf fiel, dem zahlte der Chef den vollen Lohn bei weniger Arbeitszeit. Die Entscheidung fiel den meisten leicht, denn keiner wusste, wie lange wir überhaupt würden arbeiten dürfen. Schliesslich konnte sich schnell die Lage ändern und dann musste man vielleicht ganz daheim sitzen.
Die folgenden Wochen waren für mich die wohl ungewöhnlichsten, die man sich in der Gastronomie vorstellen kann. Die anfangs geplanten kleineren Arbeiten mit Putzen, Inventur und kleinen Reparaturen waren nach etwa 14 Tagen abgeschlossen. Da sich die Lage bis dahin nicht verändert hatte, beschlossen wir, mit der Renovierung des Hotels zu beginnen. Und weil inzwischen der Frühling Einzug gehalten hatte, war es auch Zeit für die Aussenanlagen. Bäume und Büsche mussten beschnitten, Unkraut und Laub entfernt und Pflanzen gesetzt werden.
Im Rückblick war diese Zeit- abgesehen von den schwierigen Umständen und der Ungewissheit – durchaus mit sehr schönen Erinnerungen verbunden. Jedes Wochenende frei, geregelte Arbeitszeiten, eine unglaubliche Ruhe auf den Strassen und sehr abwechslungsreiche Tätigkeiten, die noch ein paar Talente zum Vorschein brachten.
Was mir allerdings am meisten in Erinnerung geblieben ist, war etwas Anderes: unser Team aus Mitarbeitern wuchs in dieser Zeit zusammen wie es in all den Jahren nicht hätte besser funktionieren können. Wir wurden zu einer richtig grossen Familie und lernten einander auf eine ganz neue Art und Weise kennen, wie wir es vielleicht im «normalen» Betrieb niemals geschafft hätten.
Auch wenn es schwerfällt, dieser verrückten Zeit etwas Gutes abzugewinnen, sehe ich doch diesen Ausbruch aus dem «Hamsterrad» für mich als Impuls für Neues, die Möglichkeit, die eigene Kreativität zu entdecken und den Horizont zu erweitern.
Vielleicht auch als Anstoss, dass jede negative Situation auch etwas Positives beinhaltet. Man muss nur die eingefahrenen Wege des Denkens verlassen.
«Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann.» Francis Picabia