«Auf in die Strbakakken!»
Bild/Illu/Video: zVg.

«Auf in die Strbakakken!»

Martha kam gerade aus dem Bad, als es an der Tür klingelte. Wer mochte das nur sein? Um diese Uhrzeit? Am Ostersonntag?

Den ausgeblichenen Bademantel an der Brust zusammen ziehend, öffnete Martha die Tür. Ihr verschlafener Blick wanderte ins Leere. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nichts rührte sich.

Mürrisch wollte Martha sich bereits abwenden, um noch ein paar Minuten unter die warme Bettdecke zu kriechen, da fiel ihr vor der gegenüber liegenden Tür ein Osternest auf. Darin lag ein ziemlich grosses Ei, leuchtend bunt bemalt.


In der Dämmrigkeit des Treppenhauses pulsierten die Farben des Eies in schnellem Rhythmus. Als ob sie lebten.

Interessant!

Martha wurde sogleich ein bisschen munterer. Das musste sie sich näher betrachten!

Fast hätte Martha das Osternest zertreten, das vor ihrer eigenen Tür lag. Ihr Fuss verharrte direkt darüber und Martha blickte erstaunt nach unten. Ein freudiges Lächeln nahm auf ihrem Gesicht Platz.

«Na schau mal einer an.», murmelte sie. Vergessen war das fremde Ei.

Das vor Marthas Tür war noch ein wenig grösser und seine Farben waren lebendig und in schönen geometrischen Mustern angeordnet. Am besten gefiel Martha der vielfarbige Ring aus Dreiecken und Zacken, der sich um die Mitte des Eies zog.


Vorsichtig blickte Martha noch einmal ins Treppenhaus. Vor den Türen aller Nachbarn lagen ähnliche Osternester. Vielleicht hatte der Vermieter ihnen eine Freude machen wollen. Auch wenn es nicht so war, egal. Martha würde ihr Ei nicht wieder hergeben. Schließlich hatte es vor ihrer Wohnungstür gelegen.

Hastig schloss sie die Tür und zerquetschte dabei das unscheinbare, nun leere Osternest. Das Ei hielt sie vorsichtig in der Hand und hob es immer wieder vor die Augen. So schöne Farben! So schöne Muster!


Natürlich bekam das Ei auf dem Ostertisch einen besonderen Platz.

Als Richard, Marthas Ehemann, später aufstand, schüttelte er nur den Kopf. Martha sass wie eine Statue da und sah gebannt auf ein Ei. Naja, es war wohl grösser als gewöhnliche Eier, aber ansonsten ziemlich kitschig bemalt. Was Martha nur zu gucken hatte?

Eine halbe Stunde später stand das Frühstück immer noch nicht auf dem Tisch und Richard musste Martha regelrecht wachrütteln, ehe sie sich endlich daran machte, den Tisch zu decken und den Kaffee anzusetzen.


Der restliche Ostersonntag verlief ereignislos, wenn man mal davon absah, dass Martha das Ei kaum aus den Augen liess.

Martha und Richard hatten keine Kinder und erwarteten demnach keinen Besuch. Das graue Wetter draussen lockte auch nicht zum Spaziergang, so dass Richard sich schon am frühen Nachmittag vor den Fernseher verzog und die Gesellschaft seiner Frau nicht weiter vermisste.


Martha aber sass seit Stunden vor dem Ei. Gelegentlich streichelte sie es und bemerkte nicht einmal, dass Richard mit dem Finger auf seine Stirn deutete und murmelte: «Du hast sie doch nicht mehr alle.»

Das Ei war warm, wie Martha bemerkte. Es fühlte sich so gut an.

Nach dem Abendessen, das Martha eher widerwillig serviert hatte, trank Richard drei Flaschen Bier. Osterbock.

Martha hörte sein lautes Schnarchen kaum, welches misstönend aus dem Wohnzimmer herüber klang. Sie achtete nur auf das Ei, das sie vorsichtig auf dem Nachttisch abgelegt hatte. Damit es nicht herunter rollen konnte, legte Martha ihre Armbanduhr darum. So erschien es ihr richtig.


Das Ei sah nun aus, als ob es auf einem silbernen Thron sitzen würde.

Martha verabschiedete sich mit einem letzten sehnsuchtsvollen Blick von ihm, bevor sie die Augen schloss. Morgen, ja morgen würden sie wieder so einen wunderschönen Tag verbringen. Das Ei, oder Monchipat, wie sie es inzwischen nannte, und sie, Martha.

Die Lichter der Stadt zeichneten wandernde Schatten in Marthas Schlafzimmer.


Eine Weile hatte das Ei, Monchipat, ruhig auf seinem Thron gelegen. Erst nachdem sich Marthas Schniefen zu Richards Schnarchen gesellte, begann es ganz leicht zu rotieren, als müsste es die richtige Lage auf seinem Thron finden. Die farbigen Dreiecke und Zacken, in die Martha sich auf den ersten Blick verliebt hatte, fingen an zu leuchten. Nur ein bisschen zwar, aber eindeutig. Sie leuchteten.

Und dann begannen die Zacken auseinander zu klaffen. Zunächst war nur ein schmaler Streifen sichtbar, aus dem Licht quoll. Nicht viel, aber in der Dunkelheit der nächtlichen Schatten, immer deutlicher sichtbar.


Es war nun weit nach Mitternacht und die Stadt schlief. Oder besser: sollte schlafen.

Nicht nur in Marthas Schlafzimmer begann das Ei sich zu etwas zu entwickeln, das keines Menschen Auge je vorher gesehen hatte. Ausnahmslos alle Bewohner der Stadt hatten ein Osternest vor ihrer Tür gefunden und je nachdem, wer sich zuerst in das Ei verliebt hatte, konnte und wollte es nicht mehr aus der Hand geben.

Tausende von Eiern, deren Muster leuchtende Strahlen in die Nacht sandten, lagen in den Schlafzimmern, ganz in der Nähe ihrer Besitzer. Genau dort, wo sie sein wollten.

Aber bleiben wir bei Martha.


Monchipat hatte sich geöffnet und die Zacken, unter denen das Licht hervorquoll, sahen wie Zähne aus, als wolle Monchipat zuschnappen. Vielleicht lachte Monchipat aber auch nur. Wer sollte das schon wissen?


Martha hatte sich in den letzten Stunden nicht einen Millimeter bewegt. Würde sie jetzt die Augen aufschlagen, könnte sie Monchipat sofort wieder ansehen.

Martha schlief jedoch den Schlaf der Gerechten und bemerkte daher auch nicht, dass vier winzig kleine Gestalten Monchipats Schlund verlassen hatten und nahezu militärische Haltung nahmen. Eine weitere kleine Gestalt gesellte sich hinzu und blieb vor seinen Gefährten stehen.


Die Männchen waren jeweils nicht grösser als der Nagel von Marthas kleinem Finger und schillerten in metallischen Farben. Arme oder Beine waren nicht zu sehen, wohl aber etwas, was ein Kopf sein konnte. Es ragte aus der Brust der Winzlinge und wenn man genau hinsah, öffnete sich dort so etwas wie ein Mund.


Was sie sich zu sagen hatten, war für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar. Mit entsprechender Technik hätte man vielleicht ein Wispern oder Zwitschern aufzeichnen können, aber so etwas stand in Marthas Schlafzimmer natürlich nicht zur Verfügung. Es hätte ihr wohl auch wenig genutzt, denn Martha schlief weiter tief und fest.

Das einzeln stehende Männchen setzte sich in Bewegung und wie ein Feldwebel marschierte es vor seiner Truppe hin und her.

Seine Sprache war nicht nur für das menschliche Ohr unhörbar, sondern auch unverständlich. Sie klang ungefähr so: «Zrrwitschquiztirrtschtschrrbrfrfr…»


Was der Feldwebel seinen Leuten sagte, war, was Feldwebel in allen Ländern ihren Truppen zu sagen pflegen. Vorausgesetzt, sie waren mit der Leistung der Leute zufrieden.

«Jungs! Ich bin stolz auf euch.

Unsere Mission ist bis hierher glücklich verlaufen. Der General wird uns sehr loben. Wirklich gut gemacht!»

Die Männchen nickten sichtbar mit den Köpfen und öffneten ihrerseits kleine Münder, aus denen so etwas wie Jubel erklang.

«Jungs!», liess sich der Feldwebel wieder vernehmen. «Ihr wisst, was von euch erwartet wird. Also, strengt euch an und seid vorsichtig, damit uns kein Fehler passiert und wir schnell wieder von diesem stinkenden Planeten verschwinden können.»

Die Männchen nickten erneut eifrig mit den Köpfen und klappten winzige Flügel aus, je drei an jeder Seite sowie zwei grössere an der Stelle, an der bei den Menschen der Kopf sitzt.

Martha schlief noch immer ohne mit der Wimper zu zucken, während die Männchen, zu denen auch der Feldwebel gehörte, über ihr schwebten und mit fast unsichtbaren Geräten weiss Gott für Maße nahmen.


Nach einer Weile schien der Feldwebel zufrieden. «Jungs», liess er sich wieder vernehmen, «es ist zwar ein älteres Weibchen und nicht ganz in tadellosem Zustand, aber das kriegen wir schon wieder hin. Habt ihr sein herrliches silbernes Fell gesehen? Und so lang!»

Die Jungs jubelten und der Feldwebel klatschte mit den oberen Flügeln.

«Das gibt eine Menge HuiHuis, Jungs! Der General wird seeeehr zufrieden sein. Was bin ich froh, dass das Weibchen sich so schnell in uns verliebt hat. Es wird später keine Schwierigkeiten machen und seinen Dienst in den Strbakakken freiwillig versehen. Also auf, lasst uns unsere Arbeit verrichten!»


An einem seiner kleineren Flügel fuhr der Feldwebel eine Art Antenne aus, welche auf Martha ausgerichtet wurde. Seine Truppe zeigte ebenfalls Antenne und postierte sich jeweils im Norden, Süden, Osten und Westen um Martha herum. Der Feldwebel schwebte inzwischen direkt über Marthas Mitte, von wo aus er den weiteren Verlauf der Operation beobachten würde.


Ein leises Summen ertönte und dann wurde zunächst Marthas Bettdecke unsichtbar. Kurz darauf verschwanden Marthas Füsse. Der Feldwebel rasselte ärgerlich mit den Flügeln, während das im Süden schwebende Männchen vorübergehend rot wurde und die Füsse wieder auftauchen liess. Mit einem etwas lauteren, aber durchaus misstönenden Summen, verschwand Martha vollständig. Nur der Abdruck in der Matratze zeigte, dass dort zuvor jemand gelegen hatte.


Ohne Verzug kehrten alle Männchen in das Ei zurück. Monchipat schloss das Maul und sah so harmlos aus, wie je zuvor.

Wenig später erhob sich Monchipat mit einem kleinen Ruckeln, schwebte bis zur Fensterbank und liess sich dort nieder, der kommenden Dinge harrend.

Am Morgen wankte ein mürrischer Richard durch die Tür. Er hatte die letzte Nacht in höchst unbequemer Stellung auf der Couch verbracht und war nun auf Suche nach Martha, damit sie das Frühstück machte.

«Wo steckt dieses Weibsbild denn nun schon wieder? Bald neun und kein Tisch gedeckt! Streichelt wohl immer noch dieses blöde Ei!»

Richards Blick fiel auf die Fensterbank, wo Monchipat seelenruhig lag. «Da ist es ja! Hat dieses verrückte Weib doch tatsächlich das Ei mit ins Schlafzimmer geschleppt…»


Kopfschüttelnd öffnete Richard das Fenster, warf Monchipat hinaus, schloss das Fenster und machte eine zufriedene Miene.

«Na jetzt wird es wohl Frühstück geben!»

Doch Martha machte niemals mehr Frühstück für Richard.

Weitere 4955 Menschen aus Rehfeldt verschwanden in der Nacht zum Ostermontag des Jahres 2021, wie die Zeitungen und auch das Fernsehen berichteten. Das Militär schaltete sich ein, aber es konnte den Fall eben so wenig aufklären.


Für einen verspäteten Aprilscherz hielten manche die Information, dass das Verschwinden dieser Leute in engem Zusammenhang mit Ostereiern stehen solle.


Keines der besagten Eier tauchte je wieder auf.




























Mehr zur Autorin:

Susanne Rackwitz ist 57 Jahre alt, lebt in Deutschland und schreibt Kurzgeschichten in verschiedenen Genres. Diese Kurzgeschichte hier ist ihr Debüt.


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