«Usam Herz tüf ussa»
Ich freue mich auf diesen Abend. Ich freue mich auf Walter Lietha. Die Werkstatt in Chur ist ausverkauft. Im Schnitt sind wir alle etwas älter, etliche von uns sind schon grau, ein paar wenige sogar weiss. Aber ich entdecke auch einige junge Leute. Ich bin erstaunt darüber, frage sie aber nicht, weshalb sie hier sind. Ich gehe davon aus, sie sind es aus demselben Grund wie ich: Sie kennen Walter Lietha und mögen seine Lieder. Es wird getrunken und geredet, aber es ist nicht laut, nicht hektisch, die Stimmung ist nicht überdreht wie so häufig bei solchen Anlässen. Man wartet geduldig auf den Auftritt jenes Sängers, der wie kein anderer Graubünden eine Stimme gegeben hat. Auf der kleinen Bühne stehen drei akustische Gitarren, ein Stuhl und ein paar Mikrofone. Das wird intim, denke ich. Das wird schön.
Der Mann, dessentwegen wir alle hier sind, sitzt in der vordersten Reihe, bereit für seinen Auftritt. Er lässt uns nicht lange warten. Pünktlich erhebt er sich von seinem Stuhl und betritt die Bühne. Ein älterer Herr, so schlank, dass man fürchtet, er könnte zerbrechen, leicht gebeugt, als bedrücke ihn etwas, in Hemd und Jeans, das lange graue Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Genau so habe ich ihn in Erinnerung, Walter Lietha. Bloss jünger. Ich sehe ihn und denke an einen weisen Indianer. An Winnetou, das erste Idol meiner Kindheit.
Walter Lietha setzt sich auf den Stuhl auf der Bühne und nimmt eine der drei Gitarren. Das seien seine Freundinnen, sagt er später. Freundinnen, mit denen ihm nie langweilig sei. Aus ihm spricht der Musiker, der Sänger, der nicht anders kann, der singen muss. Angesichts der Zeiten, in denen wir leben, mehr denn je.
«Drum sing i grad drum» heisst denn auch eines der Lieder, die er im Verlauf des Abends spielen wird. Eigentlich sei er krank, meint er, und entschuldigt sich für den Zustand seiner Stimme. Aber er habe einfach kommen müssen. Er schätzt sein Publikum, würde es nie im Stich lassen. So wie sein Publikum ihn schätzt und ihn nie im Stich lassen würde. Da herrscht eine tiefe Verbundenheit, die das ganze Konzert über spürbar ist. Da sitzt nicht einer auf der Bühne, der für andere spielt und singt. Vielmehr ist es ein Miteinander aus Spielen und Singen und Zuhören. Ja, genau das tun die Leute: Sie hören zu. Still und aufmerksam. Beinahe andächtig.
Walter Liethas Gitarrenspiel ist schön, zart, filigran. Aus sanften Tönen webt er die Tücher, in die er seine Texte hüllt. Er spiele nicht, meint er, er klimpere. Da ist sie, diese Bescheidenheit, die im Verlauf des Abends immer wieder durchschimmert. Dieses Sich-Zurücknehmen zugunsten des grossen Ganzen. Des Konzerts. Der Lieder. Als wollte er sagen: Nur weil ich singe, bin ich nicht wichtiger als ihr. Denn ohne euch macht mein Singen keinen Sinn. Deshalb bin ich euch genau so dankbar für euer Kommen, wie ihr mir dankbar seid für mein Singen. Später meint er, er an unserer Stelle wäre schon längst gegangen. Humor. Auch das hat Walter Lietha. Obwohl seine Lieder mehr zum Denken anregen, als dass sie zum Lachen verleiten.
Es ist ein Querschnitt durch sein gesamtes Schaffen, den Walter Lietha an diesem Abend präsentiert. Viele Lieder erkenne ich sofort wieder.
«Maya», «Zyt isch do», «Alpabfahrt». Beim «Franz» liege ich lange falsch. Das ärgert mich. Manche höre ich zum ersten Mal. «Im Süda vo minara Seel», «Läbenslied», «Blues vom alta Püntner», «Kapitän - ahoi, ahoi, aho». Sie sind schön. Wunderschön sogar. «Si ziehn verbi mit em Wind» ist musikalisch ein Traum und textlich eine Perle. «Im Wald vo minera Jugend» ist reine Poesie. Einzelne Lieder könnte ich mitsingen, derart tief haben sich die Texte durch das viele Hören in mein Gedächtnis (oder ist es mein Herz, meine Seele?) eingebrannt. Alle diese Lieder, die bekannten und die unbekannten, bestätigen den Eindruck, den ich von Walter Lietha habe: Er ist einer, der über das singt, was ihn bewegt, was uns alle bewegt. Auf eine Art, die berührt, dort, wo bei ihm ein Feuer brennt, das Wärme zu den Menschen tragen kann, wenn es gut brennt: tief im Herzen. Er singt über die Menschen und die Natur. Über die Heimat und die Freiheit. Und über die Liebe.
Ich muss mich bis fast zum Ende des Konzerts gedulden, bis Walter Lietha «Bim Vreni» anstimmt. Es ist das Lied, durch das ich ihn und seine Musik als junger Disentiser Klosterschüler kennengelernt habe. Aber erst heute Abend wird mir richtig bewusst, was für ein schönes, zärtliches Liebeslied das ist. Mir ist, als lächle Walter Lietha einen kurzen Moment lang verschmitzt, während er es vorträgt, als erinnere er sich in diesem Augenblick an das «Vreni», von dem er hier singt. Es müssen schöne Erinnerungen sein. Ich gönne sie ihm von Herzen und denke an mein «Vreni». Und da ist sie wieder, diese Wehmut, die ich jedes Mal verspüre, wenn ich Walter Liethas Lieder höre. Da können die Augen schon mal feucht werden. Nicht nur beim «Vreni». Auch bei «Dia Freia», diesem Lied, das für mich als Student im fernen Basel, lange ist es her, wie kein anderes verkörpert hat, was ich bis zum heutigen Tag unter Heimat verstehe: Der Ort, an dem die Suche ein Ende hat. Der Ort, an dem das Herz zur Ruhe kommt.
Aber ein Tränlein da und dort, das macht nichts. Nicht hier. Nicht heute Abend. Zudem ist es dunkel im Saal. Ich stehe an der Bar. Den Blick immer schön nach vorn gerichtet. So kann es niemand sehen. Ausser Walter Lietha, vielleicht. Aber der sitzt weit weg. Und sollte er es doch sehen, mein Tränlein, dann spielt das keine Rolle: Er darf wissen, wie sehr seine Lieder mich berühren.
Ja, «Dia Freia». Ich singe in Gedanken mit, stelle irgendwann fest, dass ich nicht textsicher bin. Nicht weil ich den Text vergessen hätte, sondern weil Walter Lietha ihn heute Abend erweitert, aktualisiert.
Altes und Neues verschmilzt zu einer kompakten Einheit, da sind keine Brüche erkennbar. Spätestens jetzt wird mir bewusst, wie zeitlos seine Lieder sind, wie wenig sich verändert hat, seit dem Tag, an dem er sie geschrieben hat. Wie auch? Der Mensch bleibt Mensch. Im Guten wie im Schlechten. Er hat noch immer dieselben Bedürfnisse, dieselben Sorgen, leidet unter denselben Ängsten, träumt dieselben Träume, macht dieselben Fehler. Er lernt nicht, man könnte wütend werden.
Aber Walter Lietha wirkt nicht wütend. Eher traurig. Besorgt. Denn seine Liebe gehört nicht nur den Felsen und den Steinen, sie gehört auch den Menschen, vor allem den einfachen. Denen, die es nicht immer leicht haben im Leben. Denen, die anders sind und anders leben, als die Mehrheit dies tut und für richtig hält. Wie die Sinti und die Roma, dieses Volk, das wie kein anderes für Freiheit steht und dem ‘Dia Fahrenda’ gewidmet ist. Das seien die besten Musiker, meint Walter Lietha. Sie könnten nicht Noten lesen, aber sie könnten singen und spielen. Man hört, wie viel er von ihnen gelernt hat. Eine Prise Flamenco steckt in dem Lied, und für kurze Zeit wähne ich mich in einem Tablao irgendwo in Spanien und nicht in der Werkstatt in Chur.
Wenn es nach mir ginge, könnte Walter Lietha ewig weiterspielen und weitersingen – aber irgendwann ist Schluss. Nichts dauert ewig. Auch das Schöne nicht. Der abschliessende Applaus ist herzlich und verdient. Walter Lietha nimmt ihn entgegen, wie er den Applaus den ganzen Abend lang entgegengenommen hat: dankbar und bescheiden. Ich kann verstehen, dass es nicht endlos Zugaben gibt.
Obwohl es viele Lieder gäbe, die ich noch gerne hören würde. Walter Lietha soll seine Stimme schonen. Schliesslich muss er seinen Gesang weiter hinaustragen in die Welt. Denn sie hat ihn nötig, heute mehr denn je, diesen leisen Troubadour, der so viel zu sagen hat, wenn man nur bereit ist, ihm zuzuhören.
Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass es Walter Lietha gibt und er immer noch singt. Er ist mir wichtig. Ich brauche ihn. Ich schaue mich um, schaue in die Gesichter der anderen Konzertbesucher und weiss: Ich bin nicht der Einzige, der so denkt.
Danka Walti, für an bsundara Obad mit diar und dina wunderschöna Liader usam Süda vo dinara Seel.