Du sollst nicht stehlen!
Bild/Illu/Video: Lucas J. Fritz

Du sollst nicht stehlen!

Es begann auf eine unschuldige Art und Weise. Samuel hatte noch nie in seinem Leben etwas gestohlen und nie wäre ist ihm in den Sinn gekommen es zu tun, wäre da nicht sein bester Freund Severin gewesen. Als die beiden Knaben im Alter von nur dreizehn Jahren wieder einmal ihr Wochenende zusammen in der Stadt verbrachten, schlug ihm Severin vor etwas ganz Neues auszuprobieren. Samuel fragte, was es denn sei und Severin antwortete mit einer Gelassenheit die nicht zum Thema passte: im Laden zu klauen. Samuel war schockiert, doch hörte sich den Vorschlag trotzdem an. Severin erzählte ihm, wie oft er es schon getan hatte und wie leicht es wäre. Irgendwie schaffte der eine den anderen davon zu überzeugen es auch einmal zu versuchen. «Den Kick, den du dabei fühlen wirst, glaub mir Samuel, es ist etwas, dass du nie mehr vergessen wirst.»


Severin hatte es schliesslich geschafft und seinen Freund dazu überredet mit ihm gemeinsam einige Dinge im nahegelegenen Einkaufszentrum zu stehlen. Nur zum Spass, hatte er betont, nur um zu zeigen, dass es geht, es sei doch gar nichts dabei. Die Ladensicherheit würde sie nie verdächtigen, so jung und unschuldig wie sie aussahen. Nervös aber doch auf eine eigenartige Weise vorfreudig betraten die beiden den Supermarkt im Einkaufszentrum und gingen durch den Laden, so als ob sie etwas Bestimmtes suchten. Samuel folgte Severin nervös und hoffte, dass es nicht schiefgehen möge. Severin war ganz locker und tat so als suche er in der Schreibwarenabteilung nach einem bestimmten Schreibzeug.


Samuel beobachtete ihn, selbst auch damit beschäftigt sich alle möglichen Dinge ansehend, um nicht aufzufallen. Irgendwann sah Samuel zu Severin hinüber und bemerkte, wie dieser den Blick unauffällig zur Warenhausdecke richtete, so als ob er nach etwas suchte. Samuel erkannte, dass er sich nach Kameras umsah. Schlagartig wurde er nervöser. Er fühlte sich schuldig dabei, etwas ganz offensichtlich Verbotenes im Schilde zu führen.


Dann steckte Severin drei teure Kugelschreiber und einen silbernen Füllfederhalter in seine Hosentasche, während er auf Samuel zuging. «Na, schon gefunden, was du suchtest?», fragte er Samuel ohne einen Hauch von Nervosität. Dieser stotterte: «Nein, … ah doch … hier, das … das gefällt mir.» Er nahm seinen gesamten Mut zusammen, nahm wahlweise Dinge vom Regal, betrachtete sie und liess sie schliesslich zur Wand gedreht so unauffällig wie möglich ebenfalls in seiner Hosentasche verschwinden. Sein Herz pochte so laut, dass er sich selbst nicht mehr atmen hörte und seinen Freund kaum mehr verstand. Severin ging in weiter zur Bücherabteilung, besah sich einige Stücke, in der Hand noch zwei billige Bleistifte haltend, die er offensichtlich zu kaufen bezweckte. Samuel gingen Severins Worte durch den Kopf: «Ohne etwas gekauft zu haben, können wir den Laden nicht verlassen.» So nahm er das Billigste, was er fand vom Regal und schritt damit zur Kasse. Er schwitze aus allen Poren und hoffte, dass es niemandem auffiel wie nervös er war. Freundlich grüsste er so ruhig wie möglich die Frau an der Kasse, bezahlte die Ware und ging dann alleine zum Laden hinaus. Auf seinen Freund wollte er nicht warten, er war wütend sich auf dieses Spiel überhaupt eingelassen zu haben. Aber kaum war er zur Türe hinaus, fiel jedwede Nervosität von ihm ab. Es hatte wirklich geklappt! Nie hätte er erwartet soetwas jemals freiwillig zu tun und sogar Erfolg damit zu haben. Auf eine seltsame Art und Weise war er seinem besten Freund unglaublich dankbar, dass dieser ihn dazu überredet hatte.


Seine Stimmungsschankung hätte nicht grösser sein können. Als Severin etwas später zur Türe hinausschritt, konnte Samuel sich nicht mehr halten und umarmte ihn lachend. Severin war die Situation sichtlich unangenehm, denn so viel Herzlichkeit war er sich nicht gewohnt. Samuel sagte ihm wie toll das doch eben war und dass er nicht erwartet hätte damit durchzukommen. «Hast du genug davon oder wollen wir noch in einen anderen Laden gehen? Vielleicht wollen wir noch teurere Dinge mit nach Hause bringen?», fragte er Samuel. Dieser wurde sich seiner zunehmenden Gier plötzlich bewusst und stimmte zu. Wenn, dann richtig, dachte er sich insgeheim.


In den folgenden Monaten waren die beiden Freunde jedes Wochenende in der Stadt, manchmal in zehn verschiedenen Läden an einem einzigen Tag. Die Dinge, die sie stahlen verwendeten sie nur für sich selbst. Es fiel ihnen nicht ein Dinge zu stehlen um sie zu verkaufen. Mit der Zeit wurden sie immer gieriger, stahlen plötzlich Uhren und Elektronik im Wert von mehreren Hundert Franken an einem Tag, nur um diese Dinge mit nach Hause zu bringen und unbenutzt in einer Schublade verschwinden zu lassen. Kaum etwas, das sie entwendeten, benutzten sie auch wirklich. Sie hätten die Dinge getrost wegwerfen können nach dem Diebstahl. Sie hätten die Dinge auch gleich zurückgeben können. Es ging nie um die Dinge, sondern nur um den Kick, den der Diebstahl ihnen bescherte. Je teuerer die Ware und je schwierieger der Diebstahl, umso grösser war die kurzfristige Befriedigung der Tat. In der Schule hielten sie es still sitzend kaum mehr aus, sie waren ständig nervös und auf der Suche nach dem Kick. Ihre Schulnoten wurden zunehmend schlechter und die Eltern fingen sich an Sorgen zu machen. Warum, weshalb und wieso? Jeden Abend, nach einer miesen Prüfungsnote kamen gleichen Fragen seitens der Eltern. Ihnen wurde verboten am Wochenende in die Stadt zu fahren, das Taschengeld wurde gestrichen, die Mobiltelefone eingezogen. Doch dies hielt die beiden Freunde nicht davon ab heimlich in die Stadt zu fahren und sich den Adrenalinkick zu besorgen. Und es kam wie es kommen musste. Sie wurden schliesslich erwischt.


Sie waren sich nicht bewusst, dass die Ladensicherheit mehrer Einkaufshäuser sie auf dem Schirm hatte und jeden ihrer Schritte verfolgte. Schon seit Wochen hatten die Ladendetektive sie im Verdacht, doch nie wurden sie auf frischer Tat ertappt. Bis sie eines Samstagmorgens einen Fehler begingen. In der Annahme niemand würde sie verdächtigen, gingen sie an jenem Tag ungewöhnlich sorglos vor. So sorglos, dass es ihnen schliesslich Kopf und Kragen kostete. Als sie gerade dabei waren das Einkaufszentrum zu verlassen, standen plötzlich mehrere grosse Männer der Ladensicherheit vor und hinter ihnen. Severin wich den Muskelprotzen aus und verliess den Laden fluchtartig. Samuel hatten sie ohne Weiteres geschnappt. Er hatte sich kampflos ergeben, weil er ohne es bewusst zu wissen, insgeheim geahnt hatte, dass es irgendwann einfach schiefgehen musste.


Was folgte, war ein Musterbeispiel von Schuld- und Schamgefühlen junger auf frischer Tat ertappter Kleinkrimineller. Im Büro der Ladensicherheit fingen die beiden an sich gegenseitig zu beschuldigen und machten sich damit nicht nur zum Gespött vor der Ladensicherheit, sondern zerstörten ihre Freundschaft auf einen Schlag. Danach war nichts mehr wie zuvor. Es folgten hohe Geldbussen, wochenlange Strafarbeit in der Küche des Kantonspitals während ihrer Schulferien und mehrere Besuche der Polizei bei ihnen zuhause. Wie sich die Eltern der Jungen für deren Taten schämten, braucht nicht erwähnt zu werden. Wie schuldig sich die Jungs fühlten und wie sie ihr Leben am Ende meinten, ebenfalls nicht. Nach diesem Samstagmorgen als Severin und Samuel beim Ladendiebstahl erwischt wurden, waren sie nicht mehr Freunde. Beide hatten ihren jeweils besten Freund an einem einzigen Tag verloren. Beide schämten sich in Grund und Boden. Und beide waren nicht mehr diesselben Menschen wie noch am Tag zuvor.


Es kam, wie es kommen musste und das war richtig so.

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