Stand des Irrtums
Bild/Illu/Video: Marcus Duff / cascadas

Stand des Irrtums

Man hat ihn schon fast vergessen: Claas Relotius, den Meisterfälscher beim «Spiegel». Die Hassfigur jedes Journalisten, weil er den ohnehin schon nicht besonders angesehenen Berufsstand noch mehr in Verruf gebracht hat. Es ist keine Diskussion: Was der preisgekrönte Relotius getan hat, geht nicht. Kurzerhand Personen und Begebenheiten erfinden, damit die Geschichte schön rund läuft: Das ist in etwa das Gegenteil von dem, was Journalismus tun muss.

Was man bei aller berechtigter Aufregung sagen muss: Unter den hunderten von aufgefundenen Lügereien von Relotius gab es zahllose, die nicht den Inhalt betrafen, sondern rein zur atmosphärischen Aufhübschung dienten. Klar, geht auch nicht, tut aber keinem richtig weh.


Und vielleicht, auch wenn das einige als Sakrileg empfinden mögen, ist der Fall Relotius sogar weniger schlimm als das, was wir in den letzten Monaten erlebten. Da wurde nicht erfunden, aber sinnfrei wiedergegeben.


Keinen Schimmer

Kein Journalist in der Schweiz hat in der Coronakrise Dinge erfunden. Niemand hat behauptet, es gebe viel mehr Tote als es wirklich gab. Niemand fabulierte von einem geheimen Impfstoff, der irgendwo gehortet wird. Die Redaktionen blieben stets bei der Wahrheit. Nix Relotius also. Aber was heisst hier eigentlich Wahrheit? Es gab nie so wenig «Wahrheit» wie im Frühjahr 2020. Das belegen auch die Medienkonferenzen des Bundesrats und der Bundesverwaltung. Meistgehörter Satz dort war: «Wir gehen davon aus, dass…» Übersetzt: «Wir haben im Grunde keinen blassen Schimmer.» Das ist auch in Ordnung: Die Situation hat uns alle überfordert. Und gesicherte Erkenntnisse waren über Monate Mangelware.


Aber wenn schon Experten keinen blassen Schimmer haben, tun das Journalisten noch viel weniger. Also sagten sie, was laut Fachleuten möglicherweise der Fall ist. Gleichzeitig sagten sie auch, was laut anderen Fachleuten ebenfalls noch möglich wäre. Dann verwiesen sie auf Option 3 aus einem weiteren Expertenkreis. Um dann abschliessend mitzuteilen, dass der Bundesrat in einer Woche mehr sagen will. Dort hiess es dann: «Wir gehen davon aus…» Und das sagten auch unsere Medien wieder.


Sprich: Journalisten gaben über Wochen hinweg Tag für Tag nur den

aktuellen Stand des Irrtums wieder. Natürlich konnten sie nicht mehr tun, weil sie es ja auch nicht besser wussten. Aber was möglich gewesen wäre: Nicht jede plötzlich auftauchende Vermutung inklusive Gegenthese in grossen Lettern publizieren. Masken, Abstand, Gruppenbildung, Jogging, Kinderansteckung: Zu allen Themen kursierten ständig neue «Wir gehen davon aus…» und fanden via Medien den Weg zum Publikum, das zunehmend verunsicherter wurde.


Sprich: Wir hatten es in der Coronakrise zumindest bei den «offiziellen» Medien nicht mit Fake News zu tun, sondern mit einer neuen Form der «Unwahrheit». Sie besteht darin, dass man auch dann etwas sagt, wenn es nichts Klares zu sagen gibt. Um am nächsten Tag das Gegenteil zu behaupten, das auch ungesichert ist. Klar machen das Zeitungen auch ausserhalb einer Pandemie. Aber nicht pausenlos. Und nicht während der grössten Krise der jüngeren Zeit. Schweigen wäre manchmal hilfreicher gewesen. Und näher an der Wahrheit.

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