Bild/Illu/Video: Mariann Hasler

Schwierige Frage

Eigentlich ist das Tragen der Linsen für mich problemlos. Zwischendurch passiert mal ein Malheur. Noch nicht lange her, rieb ich während der Autofahrt im rechten Auge. Leider wurde es dadurch nicht besser. Die Linse verrutschte, das Auge füllte sich mit Tränen und ich hatte keine klare Sicht mehr. Ich hielt an, streckte mich zur Sonnenblende auf der Beifahrerseite, um dort im kleinen Spiegel die Sache zu begutachten. Die Linse war nicht mehr zu retten. Sie klebte zusammen. Also zurück nach Hause und die letzte vorrätige Linse einsetzten.


Das Prozedere der Kontrolle ist mir vertraut. Vorne auf der weissen Wand erscheinen vier Reihen Buchstaben. Jede Reihe in einer anderen Grösse, nach unten werden sie kleiner.


Geht die unterste Reihe noch? Lautet die erste Frage des Optikers. Geht noch.


Nun hält er eine kleine Scheibe, die aussieht wie ein flacher Zuckerstängel, vor mein Auge. Besser so? Oder (er dreht die Scheibe schnell um) so? Ich bin unsicher was ich antworten soll. Er dreht das Glas nochmals. So? Oder so? Ich muss mich entscheiden.


Jetzt nimmt er mir die Linsen aus den Augen. Jedes Mal denke ich, wie wird das geübt? Das Augenlid anheben und «zäg» die Linse ist draussen. Tröpfchen in die Augen und das nächste Gerät kommt zum Einsatz. Kinn und Stirn sind abgestützt beziehungsweise angelehnt. Ich schaue in etwas hinein und sehe ein grünes und ein rotes Kreuz. Der Optiker schaut auf der anderen Seite in das Gerät und gibt mir Anweisungen. Blinzeln, nach oben schauen, nach unten schauen, geradeaus, blinzeln - bei beiden Augen. Die Daten werden erfasst.

Nun öffnet er die grosse Schublade. Sie ist gefüllt mit ganz vielen Gläser und einer Superbrille. Mit dieser Brille sieht wahrscheinlich jeder aus wie ein Clown oder ein ausserirdisches Wesen.


Glücklicherweise ist kein Spiegel weit und breit und ausser dem Optiker, sieht einem niemand.


Er setzt mir die Brille auf und steckt zwei oder drei verschiedene Gläserblättchen ins Gestell. Vorne erscheinen wieder die Buchstabenreihen. Ich sehe sie gut. Aber wir sind noch nicht fertig. Jetzt geht es erst richtig los. Ich muss auf zwei Doppelkreise schauen. Ist der linke Kreis gleich wie der rechte? Er hält wieder «den Zuckerstängel» vor die Brille. Oder wird er nur schwärzer? Oder runder? So? Oder so?


Irgendwann in all den Jahren ist mir klar geworden (oder hat mich mein Optiker darauf hingewiesen), dass es ok ist, wenn ich keinen Unterschied feststellen kann. Früher haben mich diese Fragen verunsichert. Es hat lange gedauert bis ich mich getraut habe zu sagen: Schwierige Frage.

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