Saraswati nervt ...
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Saraswati nervt ...

Aber wer ist schon der/die, die man zu sein gedenkt, wer ist sich seiner/ihrer denn wirklich sicher? Wirklich sicher im Sinne einer statischen Gewissheit: «Ich bin der/die, die wir sind und ich bin der/die, die wir auch noch in ein paar Jahren sein werden.» - «Und ich bin weiss/braun/beige/kokosnuss/blau/grün.» Und damit sind wir beim Thema.


Saraswati ist die Protagonistin, wenn auch vielleicht nicht die Hauptfigur, in Mithu Sanyals erstem Roman Identitti, gerade erschienen im Carl Hanser Verlag. Abgesehen von dem recht albernen Titel ist dies ein erschütterndes Buch, oder eher: ein überfliessendes, verstörendes und auch störrisches Buch, in dem ich immer, wenn ich denke: «Jetzt habe ich es verstanden!» merke, dass ich wieder einer neuen Schimäre aufgesessen bin.


Mit Saraswati sind wir also beim Thema. Saraswati ist eine ursprünglich hinduistische Flussgöttin, wörtlich übersetzt «die Überfliessende», und ist im Hindu-Pantheon die Göttin der Bildung und des Wissens sowie die Schöpferin des Sanskrit. Passenderweise ist Saraswati im Roman eine gefeierte und medienpräsente Professorin für Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie an der Uni in Düsseldorf. Treu der Idee, dass nur, wer aus einem postkolonialen Umfeld kommt, postkoloniale Theorie unterrichten kann, ist der ethnische Hintergrund Saraswatis einer mit einem braunen Hautton, so etwa aus der Richtung indischer Subkontinent. Und der Skandal am Anfang des Romans und Auslöser des ganzen Geschehens ist die Entblössung Saraswatis als weisse Frau, als Sarah Vera, der Tochter der deutschen Josefa und urdeutschen Konstantins, durch geleakte Fotos von ihr in jungen, weissen Jahren durch ihren (indischen, adoptierten) Halbbruder. Und die Medienwelt und alle Followers allüberall rufen «Verrat! Sie hat uns betrogen!»


Die Erzählerin Nivedita Anand, für mich eher die Hauptfigur des Romans, neben der Göttin Kali, natürlich, die besonders am Ende des Textes immer häufiger live vorkommt, trifft treffenderweise Saraswati zum ersten Mal in ihrem Seminar «Kali Studies. Nicht das chemische Element, sondern die Göttin» und schon die ersten Sätze der Professorin sind für sie eine Offenbarung. Nivedita ist in ihrem innersten Selbst getroffen und sieht ihre eigenen Fragen nach Identität und Zugehörigkeit aufgenommen und auf verblüffendste Weise dekonstruiert. Nivedita hat Eltern gemischter Herkunft, sie ist, wie man heute wohl politisch korrekt sagt, eine PoC, eine «Person of Colour» mit polnischer Mutter Birgit und indischem Vater. Und gerade, als Nivedita sich langsam mit ihrem dualen, ethnischen Hintergrund einzurichten scheint und ihre persönliche Identität am Horizont auftauchen sieht, lehrt Saraswati und zeigt es gleich selbst, dass Identitäten fliessend und künstliche Konstrukte sind, die immer etwas mit – ungleichen – Machtverhältnissen zu tun haben und diese aufrechterhalten, denn «Identität bestimmt nicht die Dinge, die wir tun, wohl aber die Dinge, die andere Menschen uns antun.»


Identitäten, zusammen mit dem zweifelhaften Begriff «Rasse», der im aktuellen Diskurs seltener gebraucht wird als das amerikanische Wort «race», von dem «Rasse» nur eine unzureichende Übersetzung zu sein scheint, als fliessend und künstlich und machtverfestigend anzusehen, scheint zuviel auf einmal. Dass sexuelle Orientierungen und Genderzugehörigkeiten fliessend sein können, hat heute wohl auch den letzten medienfernen Pensionär erreicht. Dass die Verbindung von Hautfarbe und Rasse auch fast 80 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges für einige noch klar und bestimmend sind, scheint – vor dem Hintergrund der Verschwörungsmythen um Covid und Impfungen – schon fast nicht mehr überraschend. Die neuesten Äusserungen von Whoopie Goldberg in der ABC Talkshow – The View «This is white people doing it to white people, so y’all gonna fight amongst yourselves» über ihre Sicht, dass die (ungeleugneten) Untaten an den Juden durch die Nazis nichts mit Rassismus zu tun haben konnten, denn dies waren ja Weisse gegen Weisse. Wären die Juden auch noch schwarz gewesen, ja dann ... – zeigt nur zu deutlich, dass auch bei intelligenten und gebildeten Personen, Rasse, Hautfarbe und ethnische Identität schwammig und unhinterfragt Positionen und gesellschaftliche Verhältnisse festigen, sogar manchmal zum Nachteil der eigenen Person. Wenn Sarawati sich als «trans Inderin» outet, entdecken sogar Feministinnen und politisch Linke ihre blinden Flecke.


Die Medien explodieren nach der Enthüllung Saraswartis, ebenso wie die Kommentare auf Niveditas Blog «Identitti» (die ersten 35 Seiten des Buches sind voll mit Reflexionen über Niveditas und Kalis Brüste) und, anders als viele ihrer Kommiliton:innen, versucht Nivedita herauszufinden, was tatsächlich hinter der Enthüllung steckt und wer Saraswati denn nun wirklich ist und was sie antreibt.


Der Rest des Romans zeigt, wie Saraswati und Nivedita, der Saraswati am Ende ein Buch widmet mit dem Text «Für Nivedita Anand, meine Studentin und Lehrerin,» die eigenen und gesellschaftlichen Konnotationen von Identität und Selbst, als Inder:innen, Frauen und Männer, als Weisse und PoC’s ausleuchten und versuchen, in ihrer persönlichen und interkulturellen Kompetenz einen Sprung zu machen, denn «Dekolonisation bedeutet, dass wir nicht nur die Wissenschaft und die Politik, nicht nur die Theorie und die Praxis, sondern auch unsere Seelen dekolonisieren müssen. ... Wir können nur wertschätzend mit Menschen of Colour umgehen, wenn wir lernen, uns selbst wertzuschätzen. Bevor wir unsere Feinde lieben, sollten wir erst einmal besser mit unseren Freunden umgehen.»


Identitti ist vielleicht ein Roman 3.0. Er verbindet fiktive Geschehnisse mit realen Kommentaren und Blogeinträgen von Menschen aus Mithu Sanyals Bekanntenkreis, mit Protokollen von TV- und Radio-Interviews, mit Blogeinträgen von Nivedita als Identitti und abgewandelten Zitaten von Koryphäen auf dem Feld der Kulturtheorien. Das Nachwort der Autorin evoziert einen intensive Beziehung zum Lesenden («I love you all so much»), wogegen die Literaturliste am Ende wieder eher an eine Seminararbeit erinnert. Alles fliesst, auch literarische Kategorien.


Der Stil fliesst entsprechend, von lyrisch angehauchten Passagen («Die Luft schmeckte scharf nach Sehnsucht und Minze») über seminarähnliche Passagen wissenschaftlichen Diskurses bis zu Höhepunkten des Fremdschämens, zum Beispiel wenn Yannick beim Sex in Nivedita eindringt und sagt: «Jetzt bist Du Schokolade am Stil.» Worauf Nivedita sofort ihren Höhepunkt erreicht. Das ganze wird aber so leicht serviert, ist eine Fusion Cuisine, die den Gaumen reizt und manchmal auf der Zunge brennt, die man dann wie Kali, der gar nicht grauen Eminenz im Hintergrund, weit herausstrecken muss. Eine Geste, die im Westen fast immer missverstanden wird.


Also, genau, Saraswati nervt. Aber alles, das nervt, also den Nerv getroffen hat, ist dort, wo die Arbeit zu beginnen hat. Und wer wie ich seit mehr als 20 Jahren im kulturellen und interkulturellen Umfeld zu unterrichten versucht, weiss, dass nichts so schwer zu verändern ist wie die eigene Haltung und die Idee der eigenen Identität. Identitti sollte als Lehrbuch für Hochschulseminare zur Interkulturellen Kompetenz zur Pflichtlektüre gemacht werden. Wo anders, ausser vielleicht bei Carl Sagan und Sir David Attenborough, könnten Lernen, Selbst-Erkenntnis und Spass solch einen berauschenden Cocktail ergeben?


Mithu Sanyal, Identitti, München: Carl Hanser Verlag, 2021

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