Noch gar nicht «ausgelutscht»
Bild/Illu/Video: Marcus Duff

Noch gar nicht «ausgelutscht»

Geschichten in, um und um den 2. Weltkrieg und die Nazis herum scheinen in der Tat eine Hausse zu erfahren, und dann noch eine? Und auch noch eine, die im Prinzip von Elfriede Jelineks Theaterstück «Rechnitz» schon vorweggenommen wurde? Doch, genau so eine war nötig, denn in Eva Menasses Roman geht es nicht darum, was Menschen dazu veranlassen konnte, zu Nazis oder deren Sympathisanten zu werden, sondern darum, was Menschen überhaupt veranlasst, irgend etwas zu werden – oder eben auch nicht zu werden, zum Beispiel frei von Schuld. Was Menschen dazu bringt, nicht hinzuschauen, zu vergessen, zu verdrängen, und das sind ja meistens keine Ereignisse und/oder Taten, auf die wir stolz sein könnten.


Aber der Reihe nach.

Dunkelblum, ein gar nicht so fiktiver Landstrich im österreichischen Burgenland, der im Norden an die Slowakei, im Osten an Ungarn und im Süden an Slowenien grenzt, taumelt allein schon im Verlaufe des 20. Jahrhunderts in den Wellen der politischen Geschichte umher wie eine Muschel am Strand, die mal von deutsch/österreichischen, mal von ungarischen, mal von russischen Wassern umhergeworfen wird. Welches natürlich bei den Menschen der Region eine ganz eigentümliche Überlebensstrategie erzeugt: einerseits mit den Wellen zu rollen in einem fast tai chi-artigen Umleiten der Bedrohung und, andererseits, in einem sehr persönlichen und selektiven Erinnerungsspeicher, der auch viele Jahrzehnte nach einem Ereignis noch aktiv ist und ausblendet, was nicht sein darf.


In Dunkelblum kommen allerdings Ereignisse ins Rollen, die diese Tunnelperspektive auf die eigene Vergangenheit erschüttern. Verschiedene Personen erscheinen unabhängig voneinander im Ort und beginnen, in der Vergangenheit zu graben, zum Teil figurativ durch Fragen, zum Teil tatsächlich auf dem jüdischen Friedhof, und zum Teil auf der Rotsteinwiese oberhalb des Ortes, was zu einem Leichenfund und viel Aufregung bei den Bewohnern führt: aber eigentlich doch nicht so viel, wie ich als Leser erwarten würde.


Und dies liegt daran, dass noch soviel anderes passiert, dass soviel anderes von der sehr versatilen Erzählfigur berichtet wird, die fast wie ein eigener Akteur im Geschehen erscheint. Mal ist sie allwissend, mal spielt sie Unwissenheit vor, mal wird aus der Perspektive der einzelnen Figuren erzählt, mal relativ neutral, mal sehr ironisch, alles aber mit einer, zwischen den Zeilen und Perspektiven klar erkennbaren, Zuneigung zu den Menschen mit all ihren Schwächen. Und derer sind Legion. Und es sind nicht nur Schwächen, sondern auch Verbrechen, die von den forschenden Neuankömmlingen und Rückkehrern in Dunkelblum aufgedeckt zu werden drohen.


Verbrechen, die in der Zeit der sich permanent verändernden Machtverhältnisse in der Region zugetragen hatten: Morde an Zwangsarbeitern (in Rechnitz erinnert heute eine Mahntafel an die Morde an 200 Zwangsarbeitern am 24. März 1945), Morde an Juden und anderen unliebsamen Vertretern ethnischer Minderheiten, Erpressungen, Vergewaltigungen, Ausgrenzungen. Alles Untaten, deren sich der ganze Ort mehr oder weniger bewusst war oder von denen er zumindest Kenntnis hatte und aus persönlichen Vorteilsgründen, aus Angst, aus klamm­heimlicher Zustimmung oder aus lähmender Lethargie heraus entschied zu ignorieren und mental auszuklammern.


Das ganze Szenario in Dunkelblum hat alles, was eine Netflix-Erfolgsserie braucht: eine grössere, aber begrenzte Zahl von mit einem oder mehreren dunklen Geheimnissen verbundenen Akteuren, eine historische Epoche, die allein schon genug Dynamik innehat, um Spannung zu erzeugen und, last not least, einen Bezug zu – zumindest in Europa – irgendwo noch betroffenen Zuschauern. Aber vielleicht liegt gerade im letzten Punkt der Grund, warum solch eine Serie scheitern würde: wir haben alle solche immateriellen oder tatsächlichen Leichen im Keller. Und möchten nicht hinschauen, und damit wohnen wir alle in Dunkelblum.


Den Leser:innen den Spiegel vorzuhalten und in alten Zeiten zu bohren, scheint auf den ersten Blick kein Rezept für einen erfolgreichen Roman zu sein, und doch gelingt dies Eva Menasse grandios. Wie die Photorezeptoren auf der Netzhaut am Rande des Auges lichtempfindlicher zu sein scheinen (man kann das ja mal mit einem Blick in den Sternenhimmel ausprobieren), richtet Menasse ihren Blick nie direkt auf die Taten und Versäumnisse der Menschen in Dunkelblum, sondern lässt die Informationen verspätet oder zwischen den Zeilen mit oft ironischer Gebrochenheit durchschimmern, wie z. B. «Mit einem Kredit und seinen letzten Ersparnissen erwarb der alte Malnitz für den jüngeren Sohn die Tankstelle, und da rochen sie in Zwick nach Erdöl statt nach Traubensaft und hassten leicht entflammbar herüber.» (S. 50) Und wenn es denn mal nicht anders geht als etwas direkt anzusprechen, wird auch diesem die Schwere genommen durch einen fast Heinz-Erhard-würdigen Dreh: «Im Haus roch es nach Angst und Marmelade.» (S.299).


Die Ingredienzien des Romans (historischer Zeitpunkt, Schuld ohne Sühne) hätten leicht zu einem ungeniessbaren Mahl führen können oder zumindest schwer im Magen liegen. Man mag sich an Thornton Wilders «Our  Town» (deutsch: Unsere kleine Stadt) erinnern oder sogar Arthur Millers «The Crucible» (deutsch: Die Hexenjagd) über die Hexenprozesse im amerikanischen Salem. Aber Menasse gelingt es, trotz der 512 Seiten mich als Leser zu berühren, im Leseprozess zu behalten und nie zu verschrecken. Dazu hat sicher auch das in der 6. Ausgabe vorhandene Personenverzeichnis beigetragen, das in der zweiten Ausgabe noch nicht vorhanden war.


Das Ende des Romans hebt das Geschehen nochmals auf eine andere Ebene, eine vielleicht sogar leicht esoterische, und die kleinen Teufelchen verkünden die erschreckende Wahrheit: dass mit Dunkelblums erzwungener Geschichtsbewältigung vielleicht ein Meilenstein erreicht, die Geschichte an sich aber noch lange nicht zu Ende ist. Dafür haben wir alle noch viel zu viel in unseren Kellern.


Eva Menasse, «Dunkelblum», Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021

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