Pathologie als Unterhaltung
Die Rahmengeschichte ist ja eigentlich nicht neu: Sechs Erwachsene und diverser Nachwuchs verbringen eine Woche in einem Landhaus in Frankreich, noch nahe der Schweizer Grenze bei Basel, und freuen sich über die Einladung der Gastgeber Jean und Jacqueline zu einer Zeit des süssen Nichtstuns, abgesehen von gutem Essen und Trinken und einiger, aber homöopathisch dosierter, leichter Bewegung zur Anregung des Appetits. Natürlich haben die Gastgeber ein eigenes Curriculum, sie wollen Anteile des Anwesens, das zu gross, zu teuer, zu unwirtschaftlich ist, an die Gäste verhökern. Und wie geht so etwas besser als nach einem erlesenen Essen, voll des guten Weines und einer Runde Boccia für die Männer, bzw. Pétanque, wie die Franzosen komischerweise dazu sagen. Beide sind nicht umsonst Inhaber einer – wenn auch altmodischen – Marketingfirma.
Ich kann aus Sympathie zu Max Küng (noch unbekannterweise) nur hoffen, dass er diese Leute, die die paar Tage zusammen verbringen, nicht selbst persönlich kennt, denn was sich im Zusammenleben der Paare so entwickelt, ist für sie selbst in ihren Interaktionen noch gerade erträglich, aber was der Erzähler uns Leser:innen aus der Innenschau in die Psychen, Gedanken und Vergangenheiten von Jean und Jacqueline, Filipp und Salome, Bernhard und Veronika darbietet, bringt uns zum Pathologen zurück: wie durch die Lupe erscheinen Situationen, Gedanken, Erinnerungen, Zusammenhänge übergross und in ihrer klaren Sichtbarkeit kaum erträglich. Monty Python, für diejenigen unter Ihnen, die sie noch kennen, waren für mich immer an der Grenze des englischen Humors zum schlechten Geschmack, - und zwei Zentimeter drüber, Louis de Fùnes genauso in seinem Klamauk umwerfend komisch, aber manchmal einfach too much.
Und so ähnlich lassen einige Szenen in Küngs Roman mich wünschen, ich hätte sie nicht gelesen: das Bild Filipps, wie er nach der Velotour seinen Allerwertesten mit dem IPhone aufnimmt, tief in der Hocke und weit gespreizt über dem Smartphone, ist ein visuelles Trauma, das mich über Tage nicht verlassen wollte. Bettwanzen, die ganz natürlich ihrem Leben nachgehen, indem sie nachts eben Bettbewohner heimsuchen und ansaugen, Eheprobleme zum Beispiel bei Veronika und Bernhard, die sich nicht in der Paartherapie, sondern in der Paarabwicklung befinden, Filipps Affären, zum Beispiel mit Gwen, und seine Idee des Furzes (genussvollst zelebriert) als immaterielles Kulturerbe der Franzosen, lassen mich in meinem Lesesessel leicht angewidert erschauern, angewidert, aber voll der Hochachtung für die Fähigkeit, mich so zu erreichen.
Was fehlt mir in dem Text? Zu einem die diversen Kinder. Sie scheinen kaum existent, bringen minimale Probleme, sind fast nur am Gamen und dadurch weitgehend reibungslos. Meine Erfahrung mit Jugendlichen in den Ferien ist eine andere. Aber schreib-ökonomisch lenken sie daher auch nicht von den zentralen Themen, dem Innen und Aussen der Erwachsenen, ab. Und vielleicht sind Jugendliche heute überwiegend ja so, wer weiss. Und dann, das Ende. Es passieren mysteriöse Dinge in dem Haus, wobei eine nicht-gespülte Toilette mit Inhalt noch das am wenigsten Merkwürdige sein könnte, wobei die fehlende Weinkiste natürlich viel tragischer ist. Dies löst sich jedoch schlussendlich als Ausfluss eines PTSD-Syndroms auf, für mich persönlich etwas unter dem potenziell Machbaren.
Sicher ein Buch für die Ferien, allerdings nur, wenn man sie nicht mit Freunden verbringt. Aber auch sicher kein Buch über die Ferien, eher über Menschen als soziale Konstrukte: das was wir zu sein scheinen und das was in uns eventuell ganz anders ist. Auch damit also, an und für sich, nichts Neues. Aber wie dies geschildert wird, wie sich die Innereien der Akteure hieromantisch vor unseren Augen ausbreiten, ist meisterhaft akribisch, hoch-pathologisch. Mich lies es fremdschämend weiter in meinen Sessel verschwinden und ich weiss jetzt auch, welche Leute ich a, Wochenende nicht zum Abendessen einladen werde.
Max Küng, «Fremde Freunde», Zürich: Kein & Aber, 2021