Der Essenseinladungs-Kollaps
Bild/Illu/Video: Toa Heftiba

Der Essenseinladungs-Kollaps

Der Bruder meiner Freundin war bei uns zum Essen eingeladen, mit seiner Familie. Als Geschenk brachten sie eine wunderbar verzierte Torte mit. Beinahe ein Kunstwerk. Sie hätten sie extra bestellt und seien einen Umweg gefahren, um sie abzuholen. Wie es sich gehört lud dessen Frau uns zum Essen ein, als Gegeneinladung. Bevor es so weit war, stellte sich die Frage nach dem Gegengeschenk. Was wohl die Torte gekostet hatte? Wir konnten es nur erraten, das Preisschild war unfairerweise entfernt worden. Mutig nahm ich mich der Aufgabe an und erstand um die Ecke eine Flasche Wein. Als wir das Geschenk überreichten, sah mich die Frau des Bruders meiner Frau strafend an - nach einem Blick auf die Etikette. Es war wohl keine gute Wahl. Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben müssen. Für den Rest des Abends hatte ich ein schlechtes Gewissen und meine Freundin redete nicht mehr mit mir.

Mit dabei war eine Schwester des Bruders meiner Freundin. Sie revanchierte sich für die Einladung mit einer Gegeneinladung und lud die ganze Runde zum Essen ein. Uns inklusive. Doch was bringt man jemandem mit, der selber nicht Gastgeber war und den Geschenketarif nicht vorgegeben hat? Meine Freundin kümmerte sich selber darum, «du blamierst uns sonst wieder». Bevor es zum Essen kam, flatterte uns eine weitere Einladung ins Haus, von einer Arbeitskollegin meiner Freundin. Wir nahmen an. Damit war klar: 1. Wir sollten wieder eine Gegeneinladung aussprechen und 2. das Geschenk sollte gut gewählt werden. Leider mussten wir, aus terminlichen Gründen, wieder absagen. Etwa zu diesem Zeitpunkt zog ein neuer Nachbar ein. Wie es sich gehört, stellte er sich vor und lud uns – wenig überraschend – zum Essen bei sich ein.

Als ich Bilanz zog und feststellte, dass wir drei Einladungen und drei Gegeneinladungen offen hatten, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Es wurde klar, wir mussten uns besser organisieren. Wer ist zuständig für die Verwaltung von Esseneinladungen und wer übernimmt die Verantwortung für das Geschenkmanagement? Wir teilten die Aufgaben auf. Ich übernahm die Terminverwaltung, meine Freundin sollte für das richtige Präsent sorgen. Um weitere Esseneinladungen zu verhindern, entschieden wir eine Weile zu Hause zu bleiben. Da sind neue Bekanntschaften selten. Wenigstens bis der Rückstand einigermassen abgearbeitet war. Den ersten Termin brachten wir hinter uns. Noch fünf Termine. Die erste Gegeneinladung ging ebenfalls glatt über die Bühne. Noch vier Termine. Wir entwickelten Routine, wir wurden Esseneinladungs- und Geschenkprofis.

Weihnachten rückte näher. Kein Zweifel, bald würden wir nicht mehr um Einladungen und Gegeneinladungen herumkommen. Erschwerend stand eine Frage im Raum: Bringt man um Weihnachten ein besonderes Geschenk mit und muss es weihnachtlich verpackt sein? Im Internet fand ich keine passende Antwort. Das Internet weiss auch nicht alles, obwohl man das behauptet. Vielleicht sollten wir den Briefkasten einige Wochen nicht leeren, bis die Feiertage vorbei sind. Mein Vorschlag wurde von der Freundin abgelehnt. Ich solle nicht übertreiben, meinte sie.

Schnell kamen zu den vier offenen Terminen drei neue Einladungen dazu. Alle aus der Familie. Wir mussten einfach akzeptieren und natürlich die Gegeneinladung wieder aussprechen. «Ihr habt uns schon lange nicht mehr besucht.» All unsere Bemühungen waren erfolglos, wir sassen nun auf gesamt zehn Essenseinladungen. Zehn! So konnte es nicht weitergehen. Ich war am Ende mit meinen Nerven! Unhöflich wollte ich aber ebenfalls nicht sein und es war selbstverständlich, dass gesellschaftliche Spielregeln eingehalten werden. Trotz der Belastung.  


In unserer Not engagierten wir eine Teilzeit-Managerin, die für Termine und Geschenke zuständig war. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Aber trotz aller Bemühungen sank die Anzahl offener Nachtessen mit Geschenken nur langsam. Zur Sicherheit stellten wir das Telefon ab. Als endlich Land in Sicht kam und gesamt nur noch drei Einladungen offen waren, schöpfen wir Hoffnung. Bald würden wir wieder frei sein. Noch zwei Einladungen, noch eine Einladung.

Doch das Schicksal schlug zu, bevor wir unser Ziel erreichten. Ganz unverhofft. Meine Freundin machte den Fehler und ignorierte meinen Hinweis, den Briefkasten besser nicht zu leeren. «Man weiss ja nie, was drin ist.» In der Post war eine Essenseinladung! Das war zu viel für meine Nerven. Ich brach zusammen. Der Krankenwagen holte mich ab und lieferte mich in der Nervenklinik ein.

Hier sitze ich seit sechs Monaten und die Ärzte wollten mich schon lange nach Hause schicken. Ich sei längst wieder gesund. Aber ich will hier nicht weg. Nur hier bin ich sicher, nur hier werde ich nicht zum Essen eingeladen, nur hier muss ich keine gesellschaftlichen Regeln befolgen. Es ist ein Ort der Vernunft.  

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