Achtsamkeit 1 : 0 Moral
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Achtsamkeit 1 : 0 Moral

Karsten Dusses erster Band «Achtsam morden» weitet sich langsam zu einer veritablen Reihe aus, denn sein dritter Band «Achtsam morden am Rande der Welt» wird voraussichtlich im April erscheinen, und er hat, wie die Kritiken wiedergeben, einen Nerv der Zeit getroffen. Elizabeth Gilberts «Eat, Pray, Love» von 2006 mit dem lustigen Begleittext von orell-füssli «Eine Frau auf der Suche nach allem» hat dies allerdings vorher schon probiert und die «Instant-Erleuchtung durch McMeditation» finanziell sehr erfolgreich propagiert, wobei der zweite Band der kurzen Reihe «Committed: A Love Story» von 2010 mit seiner abgrundtiefen Langeweile bestimmt genauso viele Menschen von der Ehe abgehalten, wie sein Vorgänger sie zu Meditations- und Yoga-Kursen getrieben hat.


Weitaus ansprechender, intelligenter und tiefer dagegen ist Edward Canfor-Dumas’ Roman und Lehrbuch von 2005 mit dem Titel «The Buddha, Geoff and Me: A Modern Story», der eine Einführung in den gelebten Buddhismus gibt, die ebenso lehrreich und amüsant wie menschlich und berührend ist.


Wie schon oft in der Literaturgeschichte gibt es eine Veröffentlichung, bei der man sich dann umsieht und denkt «Oh, das ist ja eine eigene Gattung, da gibt es ja noch mehr davon ...». «Achtsam morden» könnte man als diesen Fokuspunkt ansehen.


Auch wenn das Buch mich persönlich nicht durchgehend überzeugt, bietet es doch soviel Frisches, Überaschendes und Lehrreiches aus dem Themenbereich der heute so verbreiteten MBSR-Welt. MBSR heisst soviel wie «Stressreduktion durch Achtsamkeit» und ist eine nützliche Weise, der Welt, die man sich erzeugt, neu, mit weniger Stress und offener zu begegnen.


Vor allem, wenn man Björn Diemel heisst, gestresster Anwalt ist, und von der eigenen Ehefrau gezwungen wird, ein solches Achtsamkeits-Seminar zu besuchen. Da es ja in der Welt (und schon gar nicht im Roman) keine Zufälle gibt, helfen der Therapeut und sein Handbuch Björn dabei, achtsam und mit reduziertem Stress seinen «Bäh»-Mandanten mittels eines Häckslers (siehe «Fargo») zu Fischfutter zu verarbeiten und danach das gesamte Mafia-Imperium ex officio zu leiten. Ob auch in diesem Falle die Regel des Achtsamkeits-Trainers Joschka Breitners «Kein Vorfall ist für sich gut oder schlecht» gelten kann, oder anders gesagt: «Wenn ich vor einer Tür stehe, stehe ich vor einer Tür. Wenn ich Dragans kleinen Finger zerhäcksle, zerhäcksle ich Dragans kleinen Finger ...» - ist für mich persönlich fraglich, aber in seiner Absurdität schon wieder betörend.


Wie immer im Geschäftsleben schafft das Zuschütten kleiner Löcher grössere Löcher: oder hier führt es zu immer grösseren Problem-Klippen, die auf achtsame Weise mit Atem-Übungen und dem Springen von Zeitinsel zu Zeitinsel umsteuert werden. So werden den Gesellschaftern des Kindergartens «Wie ein Fisch im Wasser» auf sehr achtsame Weise die Nasen gebrochen, die sie zu sehr herausgestreckt hatten, als sie Björns Tochter Emily den ihr zustehenden Platz im Kindergarten verweigert hatten. Was ihnen danach Björn, ebenfalls dem Handbuch folgend, achtsam verzeihen konnte.


Am Ende atme ich achtsam vor mich hin, mein inneres Kind winkt Emily auf dem Spielplatz zu und ich versuche, im Sinne der Achtsamkeits-Lehre nicht zu werten. Ich habe Wort für Wort und Seite für Seite gelesen, geatmet, habe beobachtet, ohne zu werten, wie Menschen die Nasen gebrochen, Männer «untertauchen, nicht als Ganzes, sondern in kleinen Teilen» und andere in Flammen stehend mit einer Eisenstange geprügelt werden, habe Kindergartenmuttis, Müttern und Tagesmüttern zugesehen, mit «albanischen Vollassis» und anderen Egomanen Kaffee aus ihrer 5000€-Espressomaschine getrunken und schliesse nun das Buch, auch ohne zu werten.


Ich habe tatsächlich selbst einen Achtsamkeits-Kurs belegt und besucht: sehr hilfreich und lebensverändernd, ganz im Ernst. Was mir bisher allerdings unbekannt war, ist diese Seite der Praxis. Vielleicht zum Glück für meinen Lieblingsnachbarn, ausserdem habe ich keinen Holzhäcksler. Obwohl, man könnte so einen kaufen (wir haben einen kleinen Garten) und dann an Bedürftige und andere Absolventen der Achtsamkeits-Kurse vermieten: eine Marktnische?


Karsten Dusse, «Achtsam Morden», München: Heyne Verlag, 2019

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